Innovationen, so ist oft zu hören, sind die Voraussetzung für langfristigen Erfolg und wirtschaftliches Wachstum. Zudem verlange der Markt in immer kürzeren Abständen nach neuen Produkten, die den wachsenden und ständig wechselnden Kundenbedürfnissen Rechnung tragen. Bei dieser Argumentation wird häufig übersehen, dass rund 80 Prozent der Bevölkerung Veränderungen eher skeptisch gegenüber steht [Sim99, S. 7]. Etwas Neues, das Gewohntes zu ersetzen versucht, wird in der Regel abgelehnt. Dies gilt auch für neue Produkte[1].
Unterstützt wird diese Sichtweise durch drei Beobachtungen. Zum einen kann sich die Verkürzung der Produktentwicklungszeit nachteilig auf die Produktqualität auswirken. Spektakuläre Meldungen der jüngeren Vergangenheit wie der nicht bestandene „Elchtest" der A-Klasse von Mercedes Benz [Kno97] und die Rückrufaktionen namhafter Hersteller [WDR04; COM05; Nür05] zeugen davon, dass unausgereifte Produkte auf den Markt gebracht wurden. In vielen dieser Fälle wurde zugunsten einer schnellen Marktpräsenz auf ausführliche Produkttests verzichtet. Der Leidtragende ist in der Regel der Kunde.
Zum anderen ist festzustellen, dass die meisten Märkte einen Sättigungsgrad erreicht haben, der ein weiteres Wachstum behindert[2]. Kurze Innovationszyklen in diesen Bereichen führen nicht zwingend zu mehr Wachstum. Viele Kunden sehen nicht die Notwendigkeit, in immer kürzeren Zeitabständen in neue Produkte zu investieren. Von Braun fragt zu Recht nach dem Nutzen von Produkten, die „schon wieder veraltet sind, bevor der Kunde gelernt hat, sie richtig zu beherrschen oder sie auch nur abschreiben konnte" [Bra97, S. 310].
Zum dritten sei darauf verwiesen, dass die Entwicklungsgeschichte der Menschheit durch lange Zeiträume gekennzeichnet ist, in denen keine erkennbaren Fortschritte und Innovationen stattfanden. Noch heute gibt es Naturvölker, deren Lebensstil über tausende Jahre nahezu unverändert blieb. Es darf daher bezweifelt werden, dass die kontinuierlich betriebene Beschleunigung des technischen Fortschritts zwingend notwendig für das menschliche Überleben ist.
Die oben aufgeführten Argumente lassen den Schluss zu, dass der „laute Ruf nach Innovationen" nicht von den Kunden ausgeht. Vielmehr scheinen die Firmen selbst ein existentielles Interesse an neuen Produkten und deren schnellen Markteinführung zu haben. „Innovation ist für Unternehmen, was Sauerstoff für den Menschen ist" [Tr097, S. 247]. Innovationen versprechen Wachstum. Wachstum wiederum benötigen Unternehmen, um Gewinne erwirtschaften zu können [Bun88]. Doch gesättigte Märkte behindern ein weiteres Wachsen. Gewinne lassen sich hier nur dann erzielen, wenn Umsätze früher realisiert werden. Die Unternehmen versuchen dies z. B. durch eine frühere Marktpräsenz und schnellere Produktwechsel zu erreichen[3]. Hierzu genügt es nicht, Produktinnovation zu betreiben; auch die Strukturen und Abläufe eines Unternehmens müssen kontinuierlich verbessert und den veränderten Bedingungen angepasst werden. Dieser Aspekt der Innovation wird in der öffentlichen Diskussion nur unzureichend berücksichtigt.
Frühere Marktpräsenz und schnellere Produktwechsel wirken sich unmittelbar auf die Lebensdauer der Produkte aus. Vereinfacht lässt sich feststellen, dass sich die Lebensdauer eines Produktes aus der Addition der Längen seiner Lebensphasen ergibt. Die in Bild 1.1 genannten Phasen sind produktunabhängig, d. h. sie können bei allen Produkten identifiziert werden. Dauer und Ausprägung der einzelnen Phasen unterscheiden sich jedoch in Abhängigkeit vom betrachteten Produkt.
Soll ein Produkt früher auf den Markt gebracht werden und dort ein bereits existierendes ablösen, so wirkt sich dies auf die Lebensphasen beider Produkte aus. Die kürzer werdenden Produktwechselzeiten zwingen zunehmend dazu, das alte Produkt zu einem Zeitpunkt auszutauschen, der vor dem Ende seiner funktionellen Lebensdauer liegt; d. h. seine Nutzungsphase wird verkürzt. Da dies jedoch im Widerspruch zum Kundeninteresse steht, wenden die Unternehmen enorme Anstrengungen auf, um ihre Kunden dennoch zum Erwerb neuer Produkte zu animieren.
Um eine frühere Marktpräsenz zu erreichen, müssen die Phasen, in denen das neue Produkt erstellt wird (Planung, Entwicklung, Fertigung und Vertrieb), „schneller als sonst" durchschritten werden.
Besonderes Potential, das time-to-market signifikant zu verkürzen, bietet die Phase „Entwicklung und Konstruktion". Sie lässt sich - verglichen mit den anderen - relativ schnell verändern und ist zudem mit verhältnismäßig geringen Investitionskosten verbunden. Ein Zeitvorteil lässt sich zum einen durch eine Verkürzung der Teilprozesse der Produktentwicklung, zum anderen durch einen höheren Grad an Parallelisierung erreichen. Im Schrifttum werden beide Ansätze intensiv diskutiert.
Bild 1.1: Lebensphasen eines Produktes nach Ehrlenspiel [Ehr03, S. 43]
Die obengenannten Bestrebungen zielen in erster Linie darauf ab, die Produktentwicklung effizienter zu gestalten, d. h. Produkte schneller und besser zu entwickeln. Sie führen nicht zwingend zu „besseren" Produkten. „Gut Ding will Weile haben", weiß der Volksmund zu berichten. Überträgt man dies auf die Produktentwicklung, so verwundert es nicht, dass die als Innovationen gepriesenen Produkte, aus der Nähe betrachtet, oft nichts weiter sind als „Anpassungserneuerungen" und „ Weiterentwicklungen"'. Beide Arten der Neuerung sind zweifelsfrei notwendig, doch stellen sie keine „Innovation im engeren Sinne" dar [Sim99, S. 7]. Technischer Fortschritt ist in der Regel nur von „Durchbruchsinnovationen" zu warten. Es scheint, dass diese Art von Innovation den Kunden am ehesten zu verkaufen ist. So führt Berth an, dass die durchschnittliche Rendite von Durchbruchsinnovationen bei etwa 15 Prozent liegt. Mit kleinen Anpassungen hingegen verdient ein Unternehmen fast nichts [Sim99, S. 8].
Doch wie kommt man zu „wahren" Innovationen? Wie lassen sich neue Ideen generieren und schnell in marktfähige Produkte überführen? Die Antworten auf diese Fragen sind vielschichtig. Schlagworte wie „Kreativitätstechniken" und „Innovationsmanagement" sind dabei genauso Bestandteil der Antwort, wie die Schaffung eines kreativitätsfördernden Umfeldes durch geeignete Organisationsstrukturen und gestaltete Arbeitsplätze.
Ein weiterer Teil der Antwort lässt sich vermutlich durch die Analyse von Produkten finden, die im allgemeinen zu den Durchbruchsinnovationen gezählt werden. Diese Produkte enthalten oft Elemente, die einzeln zwar bereits bekannt waren, aber noch niemals zuvor in dieser Art und Weise kombiniert wurden. So wurde z. B. im Explosionsmotor von Huygens, einem Vorgänger moderner Verbrennungsmotoren aus dem Jahr 1674, in einem Zylinder Schießpulver gezündet. Durch die Detonation wurde ein Kolben bewegt und Arbeit verrichtet [WIK06a; WIK06b][4] Die wesentlichen Elemente der Maschine waren keineswegs neu; Zylinder und Kolben wurden bereits in der griechischen Antike verwendet und Schießpulver ist seit Mittelalter in Europa bekannt. Eine Kombination in dieser Form jedoch war bis dahin unbekannt. Ähnliches gilt für andere Innovationen. Offensichtlich basiert die „Neuigkeit eines technischen Systems (...) nicht auf der Neuigkeit seiner Objekte, sondern auf deren Relationen" [Gra04, S. 9]. Porter argumentiert in ähnlicher Weise, wenn er schreibt: „Innovation bedeutet (...) die generelle Ermittlung neuer Kombinationsmöglichkeiten" [Por97, S. 94].
Nach Simon kommt es zu „spektakulären Innovationen", „wenn eine Idee, die in einem Fachgebiet funktioniert, auf ein anderes übertragen wird" [Sim99, S. 102]. Eine Innovation ist umso spektakulärer, je weiter die kombinierten Objekte thematisch auseinander liegen[5]. So hat die Integration eines MP3-Players in ein Mobiltelefon zwar einen gewissen Neuheitswert, aber sie scheint verglichen mit der Entwicklung schmutzabweisender Textilien [SMS+04] durch die Nutzung einer mikrostrukturierten Oberfläche nach dem Vorbild der Lotus-Blume weniger innovativ.
Im obengenannten Beispiel der schmutzabweisenden Textilien wurde bekanntes Wissen der Biologie in einen neuen Kontext gestellt und aus technischer Sicht interpretiert. Damit wurden zwei Wissensgebiete miteinander verknüpft, zwischen denen keine nennenswerten Querverbindungen bestehen. Es handelt sich um ein Beispiel aus der Bionik, einer transdisziplinär angelegten Wissenschaftsdisziplin, die vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) wie folgt definiert wurde:
„Bionik als Wissenschaftsdisziplin befaßt sich systematisch mit der technischen Umsetzung und Anwendung von Konstruktion, Verfahren und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme" [Neu93].
Die Bionik hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen „Paradebeispiele", wie die selbstreinigenden Oberflächen nach dem Vorbild der Lotus-Pflanze [BNC04], Schwimmanzüge, die die Struktur der Haifischhaut nachbilden [Jün03], oder die selbstschärfenden Schneidwerkzeuge, die Nagetierzähnen nachempfunden sind [Fra05], haben ein Bewusstsein für die Bionik geschaffen und die Aufmerksamkeit der Industrie erregt. Bionik gilt als Innovationsmotor...