VORWORT
Nicht nur die schlimmste Zeit des Jahres, sondern dazu noch eines der schlimmsten Jahre überhaupt: Unter der Unbarmherzigkeit dieses Winters ächzten alle. Seit Wochen fiel Schnee, und in den Alpen lag er besonders hoch. Es war also kein Wunder, dass die kleine Gruppe von ungefähr fünfzig Reisenden, die sich die steilen Hänge des Mont Cenis hinaufquälten, von den Bewohnern der Dörfer, durch die sie kam, gewarnt wurde: Sie sollten doch umkehren, ihre Mission verschieben, den Frühling abwarten. »Denn die vor ihnen liegenden Hänge waren so voller Eis und Schnee«, lautete die Warnung, »dass kein Fuß und kein Huf hier Halt finden konnten.«1
Selbst die Führer – lauter Männer, die durch ihr Leben in den Alpen einiges gewöhnt waren – zeigten sich alarmiert von den unbarmherzigen Umständen. Der Aufstieg, so munkelten sie untereinander, mochte ja gefährlich sein – viel schlimmer aber würde der Abstieg werden. Und sie hatten natürlich recht. Schneestürme und Tiefsttemperaturen hatten die Straße, die nach Italien hinunterführte, in eine tödliche, eisbedeckte Klamm verwandelt. Die Frauen der Reisegruppe setzten sich vorsichtig in ausgebreitete Rinderfelle, die zu Schlitten umfunktioniert waren; die Männer aber mussten zu Fuß weiterschliddern und -stolpern, hilflos klammerten sie sich an der Schulter ihrer Führer fest, ja teilweise krochen sie auf allen vieren. So zu reisen war unglaublich erniedrigend – ganz besonders für einen König und sein Gefolge.
Eintausendsechsundsiebzig Jahre waren seit der Geburt Christi vergangen. Viel hatte sich in dieser Zeit verändert: Fremdartige Völker hatten sich zu Ruhm und Ansehen erhoben, berühmte Reiche waren zerfallen, und Rom selbst, die herrlichste aller Städte, die einstige Herrin der Welt, hatte sich in eine Wildnis aus in sich zusammengestürzten Prachtbauten und Unkraut verwandelt. Vergessen wurde sie nie. Obwohl die Herrschaft der alten Caesaren längst verschwunden war, strahlte der Glanz ihres Ruhms noch immer in der Vorstellung ihrer Erben. Selbst für Völker, die nie zum Römischen Reich gehört hatten, und für Länder, die jenseits der Reichweite der römischen Legionen lagen, war die Person des Imperators, sein mit Sonnen und Sternen geschmückter Mantel die furchteinflößende, doch natürliche Entsprechung des einen himmlischen Imperators, der im Himmel herrschte. Daher hatte ein christlicher Caesar im Unterschied zu seinen heidnischen Vorläufern keine Steuern und Bürokraten und stehenden Heere nötig, um das Geheimnis seiner Macht aufrechtzuerhalten. Er brauchte auch keine Hauptstadt – und musste nicht einmal Römer sein. Seine eigentliche Autorität leitete sich aus einer höheren Quelle ab. »Nach Christus ist er es, der die Welt beherrscht.«2
Was um alles in der Welt hatte also ausgerechnet im tiefsten, kältesten Winter der Stellvertreter Gottes hier in den unwirtlichen Alpen, wo er sich stolpernd eine Schramme nach der anderen holte, zu suchen? Ein fürstlicher Herr wie er gehörte an Weihnachten auf seinen Thron in einer von Feuer erleuchteten Festhalle, sein Platz war am Kopf einer üppig bestückten Tafel, mit Bischöfen und Herzögen zu seiner Rechten und Linken. Heinrich, der vierte König, der diesen Namen als Herrscher des deutschen Volkes trug, war Herr über das größte aller christlichen Reiche. Vor ihm waren sowohl sein Vater als auch sein Großvater zu Kaisern gekrönt worden. Für Heinrich war es eine Selbstverständlichkeit, dass ihm dieser Herrschertitel – obwohl er ihm formal noch nicht verliehen worden war – rechtmäßig zustand.
In jüngster Zeit war diese Vermutung allerdings durch einige empfindliche Querschläge erschüttert worden. Schon seit Jahren arbeiteten Heinrichs Feinde unter den deutschen Fürsten an der Demontage seiner Person. Das war nichts Besonderes: Es war im Großen und Ganzen praktisch die zweite Natur deutscher Fürsten, gegen ihren König zu intrigieren. Höchst außergewöhnlich war jedoch das plötzliche Erscheinen eines Gegners, der nicht über zahlreiche Burgen verfügte, keine Heerscharen von Kriegern unter sich hatte, der nicht einmal ein Schwert trug – ein Gegner, dem es dennoch innerhalb nur weniger Monate zusammen mit den deutschen Fürsten gelungen war, den mächtigsten König der Christenheit in die Knie zu zwingen.
Dieser furchterregende Gegner nannte sich Gregor: ein Name, der zu einem Kriegsherrn nicht passte, wohl aber zum Hüter einer grex, einer Schafherde. Die Bischöfe folgten dem Beispiel ihres Heilands und nahmen oft und gern die Rolle eines Hirten an, und Gregor war durch sein Amt im Besitz des hervorragendsten aller Hirtenstäbe. Als Bischof von Rom war er noch sehr viel mehr: Denn genauso wie Heinrich sich als Erben der Caesaren darzustellen pflegte, so beanspruchte Gregor von seinem Thron in der Hauptstadt der Christenheit aus, der ›Vater‹, der ›Papst‹ der katholischen, also allgemeinen Kirche zu sein. Ein todsicheres Konflikt-Rezept? Nicht unbedingt. Schon seit Jahrhunderten kam jetzt eine lange Reihe von Kaisern und Päpsten recht gut miteinander aus – sie sahen sich nicht als Konkurrenten, sondern als Partner. »Es gibt zwei Prinzipien, die vor allen anderen die Ordnung der Welt aufrechterhalten: die geheiligte Autorität der Päpste und die Macht der Könige.« So hatte es Papst Gelasius im Jahr 494 formuliert.
Zugegebenermaßen war dann Gelasius von der Versuchung zur Selbstbeweihräucherung zu der pompösen Formulierung verführt worden, dass er es sei, und nicht der Kaiser, der die größere Verantwortung zu tragen habe: »Denn es sind die Priester, die am Tag des Gerichts Rechenschaft über die Seelen der Könige ablegen müssen.«3 Aber das war ja lediglich graue Theorie. Die Praxis sah ganz anders aus. Die Welt war ein grausamer Ort voller Gewalt, und ein Papst war schnell in der Gefahr, von bedrohlichen Nachbarn in die Enge getrieben zu werden. Ein Hirtenstab, und sei er noch so eindrucksvoll, taugte wenig gegen einen gepanzerten Eindringling. Demzufolge hatte sich in den vergangenen Jahrhunderten zwar immer wieder ein Papst um Hilfe an einen Kaiser gewandt, doch das Umgekehrte war nie geschehen. Sie waren wohl Partner – aber wenn es hart auf hart kam, wurde immer wieder ganz klar, wer in dieser Partnerschaft der Junior war.
Und das wusste jeder. Ungeachtet der subtilen Argumentation eines Gelasius waren die Christen seit jeher davon ausgegangen, dass Könige – und vor allem Kaiser – eine ebenso enge Verbindung mit den himmlischen Mysterien hatten wie die Priester. Sie hatten nach Ansicht der Gläubigen nicht nur das Recht, sich in die Angelegenheiten der Kirche einzumischen, sondern geradezu die ausdrückliche Pflicht. Gelegentlich, wenn es in Zeiten einer akuten Krise nicht anders ging, konnte ein Kaiser sogar zur letzten Sanktion schreiten und die Abdankung eines unwürdigen Papstes erzwingen. Genau das war es, was Heinrich IV., der in Gregor eine akute Bedrohung der Christenheit sah, in den ersten Wochen des Jahres 1076 hatte veranlassen wollen: eine bedauerliche Notwendigkeit natürlich, aber nichts, was sein Vater vor ihm nicht auch schon erfolgreich durchgezogen hätte.
Gregor allerdings dachte gar nicht daran, dem kaiserlichen Unmut zu weichen und brav sein Amt niederzulegen, er reagierte vielmehr äußerst ergrimmt und wagte einen vollkommen unerwarteten Schritt: Der Papst verkündete, dass Heinrichs Untertanen von ihrer Treue und ihrem Gehorsam gegenüber ihrem irdischen Herrn entbunden waren, und gleichzeitig wurde Heinrich selbst, das Ebenbild Gottes auf Erden, mit dem Kirchenbann belegt4 und aus der Kirche exkommuniziert: ein Gambit, das sich nach nur wenigen Monaten geradezu als verheerend erwies. Heinrichs Feinde erhielten eine mörderische Ermutigung. Die Anzahl seiner Freunde dagegen nahm rapide ab. Ende des Jahres war sein Reich schlicht unregierbar geworden. Und so kam es, dass der mittlerweile völlig verzweifelte König sich in die Winterstürme hinauswagte, um die Alpen zu überqueren. Er wollte sich zum Papst begeben, gebührende Reue zeigen und um Vergebung bitten. Er war zwar der Caesar, aber eine Alternative hatte er nicht.
Es war ein Wettlauf mit der Zeit – der, wie Heinrich wusste, durch ein unangenehmes Detail noch dramatischer wurde. Man berichtete, dass Gregor trotz seines stattlichen Alters von 55 Jahren ebenfalls auf den winterlichen Straßen unterwegs war. Er war seinerseits zu einer Reise über die zugeschneiten Alpen aufgebrochen, um Heinrich im Februar innerhalb der deutschen Grenzen persönlich zur Rede zu stellen. Als die erschöpfte königliche Reisegruppe um die Jahreswende 1076/77 in der Lombardei ankam, wurden natürlich panische Nachforschungen nach dem Aufenthaltsort des Papstes angestellt. Heinrich hatte einen recht engen Zeitplan, doch auch der Mann, den er treffen wollte, hatte glücklicherweise zeitlich knapp kalkuliert. Gregor war zwar schon bis zu einem Punkt gelangt, von dem aus er die Alpen sehen konnte, doch sobald ihn die Nachricht vom Eintreffen des Königs erreichte, machte er auf der Stelle kehrt und zog sich in die Festung eines seiner Anhänger in der Umgebung zurück.
Heinrich schickte Schwärme von Briefen vor sich her, um den Papst seiner friedlichen Absichten zu versichern, und machte sich sofort auf den Weg. Ende Januar war er, diesmal mit nur wenigen Begleitern, wieder auf einer Gebirgsstraße unterwegs. Vor ihm, gezackt wie riesige Wellen, die in der Kälte dieses furchtbaren Winters zu Eis gefroren waren, erstreckte sich die Grenze des Apennin. Nur 10 Kilometer entfernt von der Ebene, die er hinter sich ließ, aber erst nach vielen Stunden auf gewundenen Wegen erreichte Heinrich endlich ein Tal, das aus der wilden Berglandschaft herausgemeißelt...