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E-Book

Zwischen mir und der Welt

AutorTa-Nehisi Coates
VerlagHanser Berlin
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783446251953
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wenn in den USA schwarze Teenager von Polizisten ermordet werden, ist das nur ein Problem von individueller Verfehlung? Nein, denn rassistische Gewalt ist fest eingewebt in die amerikanische Identität - sie ist das, worauf das Land gebaut ist. Afroamerikaner besorgten als Sklaven seinen Reichtum und sterben als freie Bürger auf seinen Straßen. In seinem schmerzhaften, leidenschaftlichen Manifest verdichtet Ta-Nehisi Coates amerikanische und persönliche Geschichte zu einem Appell an sein Land, sich endlich seiner Vergangenheit zu stellen. Sein Buch wurde in den USA zum Nr.-1-Bestseller und ist schon jetzt ein Klassiker, auf den sich zukünftig alle Debatten um Rassismus beziehen werden.

Ta-Nehisi Coates ist einer der angesehensten Intellektuellen der USA. Mit seinem Essay 'Plädoyer für Reparationen' stieß er eine landesweite Diskussion zur Aufarbeitung der Sklaverei an. 'Zwischen mir und der Welt', für das er 2015 den National Book Award erhielt, ist in den USA eines der meistverkauften Bücher der vergangenen Jahre. Coates lebt mit seiner Familie in New York.

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Leseprobe

I


Sprich nicht zu mir von Märtyrertum,

von Männern, die sterben, um gefeiert zu werden

an irgendeinem Gedenktag.

Ich glaube nicht ans Sterben

und doch, auch ich bin sterblich.

Und Veilchen wie Kastagnetten

werden mein Echo sein.

SONIA SANCHEZ

Mein Sohn,

letzten Sonntag fragte mich die Moderatorin einer beliebten Nachrichtensendung, was es bedeute, seinen Körper zu verlieren. Die Moderatorin saß in Washington, D.C., und ich in einer New Yorker Dependance an der Westside von Manhattan. Ein Satellit überbrückte die Meilen zwischen uns, doch keine Technik konnte die Lücke zwischen ihrer Welt und jener schließen, für die zu sprechen man mich hergebeten hatte. Als die Moderatorin mich zu meinem Körper befragte, wurde ihr Gesicht ausgeblendet und über den Bildschirm liefen Worte, die ich in derselben Woche geschrieben hatte.

Die Moderatorin las den Zuschauern diese Worte vor, und dann kam sie auf meinen Körper zu sprechen, wenn auch nicht direkt. Aber inzwischen bin ich daran gewöhnt, dass sich intelligente Menschen, ohne sich dessen bewusst zu sein, nach dem Zustand meines Körpers erkundigen. Diese Moderatorin wollte konkret wissen, weshalb der Fortschritt des weißen Amerika beziehungsweise der Fortschritt jener Amerikaner, die glauben, sie seien weiß, meiner Meinung nach auf Plünderung und Gewalt beruhe. Als ich das hörte, stieg in mir eine alte, unbestimmte Traurigkeit auf. Die Antwort auf diese Frage liegt in der historischen Bilanz dieser Gläubigen. Die Antwort ist die amerikanische Geschichte.

Nichts an dieser Aussage ist überspitzt. Amerikaner vergöttlichen die Demokratie auf eine Weise, die sie übersehen lässt, dass sie ihrem Gott hin und wieder trotzen. Doch die Demokratie ist ein nachgiebiger Gott, und Amerikas Ketzereien – Folter, Diebstahl, Versklavung – sind unter den Menschen und Nationen so weit verbreitet, dass keiner für sich Immunität beanspruchen kann. Streng genommen haben Amerikaner ihren Gott auch niemals hintergangen. Als Abraham Lincoln 1863 verkündete, durch die Schlacht von Gettysburg müsse sichergestellt sein, »dass die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk nicht von der Erde weiche«, war das nicht nur Ausdruck eines politischen Bestrebens; zu Beginn des Bürgerkriegs hatten die Vereinigten Staaten von Amerika eine der weltweit höchsten Wahlrechtsquoten. Die Frage ist nicht, ob Lincoln tatsächlich eine »Regierung des Volkes« im Sinn hatte, sondern was mit dem politischen Begriff »Volk« in unserem Land – quer durch seine Geschichte – eigentlich gemeint war. 1863 waren damit deine Mutter und deine Großmutter nicht gemeint und auch nicht du und ich. Amerikas Problem ist also nicht der Verrat an der »Regierung des Volkes«, sondern die Art und Weise, wie »das Volk« zu seinem Namen kam.

Das führt uns zu einem ebenso wichtigen Ideal, das Amerikaner implizit akzeptieren, ohne es bewusst für sich zu beanspruchen. Amerikaner glauben an »Rasse« als fest umrissenes, naturgegebenes Merkmal unserer Welt. Rassismus – das Bedürfnis, Menschen bis ins Mark zu kategorisieren und darauf‌hin zu demütigen, zu reduzieren und zu vernichten – wäre demnach eine unvermeidliche Folge dieser unabänderlichen Gegebenheit. So wird Rassismus zur unschuldigen Tochter von Mutter Natur, und uns bleibt nur, die transatlantische Menschenfracht der Middle Passage oder die Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner auf dem Trail of Tears zu beklagen wie ein Erdbeben, einen Tornado oder jedes andere Phänomen, das des Menschen Werk übersteigt.

Doch Rasse ist das Kind des Rassismus, nicht seine Mutter. Und die Definition eines »Volkes« hatte nie etwas mit Abstammung und Physiognomie zu tun, sondern immer mit Hierarchie. Unterschiede von Haut und Haar sind alt. Der Glaube an die Überlegenheit von Haut und Haar, der Gedanke, diese Faktoren könnten eine Gesellschaft angemessen strukturieren und würden auf tiefere, unauslöschliche Eigenschaften hinweisen – das ist der neue Gedanke im Herzen dieser neuen Menschen, die rettungslos in dem tragischen Irrglauben genährt wurden, weiß zu sein.

Diese neuen Menschen sind wie wir eine moderne Erfindung. Doch im Gegensatz zu uns hat ihr neuer Name keine Bedeutung unabhängig vom Räderwerk krimineller Macht. Die neuen Menschen waren etwas anderes, bevor sie weiß wurden – Katholiken, Korsen, Waliser, Mennoniten, Juden –, und wenn sich unsere nationalen Hoffnungen erfüllen sollen, müssen sie auch wieder etwas anderes sein. Vielleicht werden sie dann wirklich Amerikaner und schaffen ein nobleres Fundament für ihre Mythen. Das liegt nicht in meiner Hand. Einstweilen sei gesagt, dass das Weißwaschen versprengter Stämme – die Überhöhung des Glaubens an das eigene Weißsein – nicht durch Weinproben und Gartenpartys erreicht wurde, sondern durch die Plünderung von Leben, Freiheit, Arbeitskraft und Land; durch das Auspeitschen von Rücken, das Anketten von Gliedmaßen, das Erdrosseln von Andersdenkenden, die Zerstörung von Familien, die Vergewaltigung von Müttern, den Verkauf von Kindern und diverse andere Maßnahmen, die in erster Linie dir und mir das Recht absprechen sollten, in Sicherheit über unseren eigenen Körper zu bestimmen.

Die neuen Menschen waren wahrlich nicht die Ersten, die so etwas taten. Vielleicht hat es im Lauf der Geschichte irgendwann mal eine Großmacht gegeben, die nicht aus der gewaltsamen Ausbeutung fremder Körper erwachsen ist – in dem Fall steht mir noch eine Entdeckung bevor. Doch die Banalität der Gewalt kann Amerika nicht entschuldigen, denn Amerika will mit dem Banalen nichts zu schaffen haben. Amerika hält sich für außergewöhnlich, die größte und edelste Nation, die es je gab, ein einsamer Kämpfer vor den Toren der weißen Stadt der Demokratie, den Terroristen, Despoten, Barbaren und anderen Feinden der Zivilisation trotzend. Man kann sich nicht für übermenschlich erklären und dann sagen, Irren sei nun mal menschlich. Ich plädiere dafür, den Anspruch unserer Mitbürger auf Amerikas Exzeptionalismus ernst zu nehmen, das heißt, ich plädiere dafür, unser Land auch exzeptionellen moralischen Maßstäben zu unterwerfen. Das fällt schwer, denn wir sind von einem System umgeben, das uns drängt, die amerikanische Unschuld für bare Münze zu nehmen und nicht zu sehr nachzufragen. Und es ist so leicht, wegzuschauen, mit den Früchten unserer Geschichte zu leben und das große Unrecht zu ignorieren, das in unser aller Namen begangen wurde. Doch du und ich, wir konnten uns diesen Luxus eigentlich nie erlauben. Ich glaube, das weißt du.

Ich schreibe dir in deinem fünfzehnten Lebensjahr. Ich schreibe dir jetzt, denn dies ist das Jahr, in dem du gesehen hast, wie Eric Garner erwürgt wurde, weil er Zigaretten verkaufte, in dem du erlebt hast, dass Renisha McBride erschossen wurde, weil sie Hilfe holen wollte, und dass John Crawford erschossen wurde, weil er durch ein Kauf‌haus schlenderte. Du hast gesehen, wie Männer in Uniform im Vorbeifahren Tamir Rice ermordeten, einen zwölf‌jährigen Jungen, den sie ihrem Eid gemäß hätten beschützen sollen. Und du hast Männer in ebensolchen Uniformen gesehen, wie sie am Straßenrand auf Marlene Pinnock einprügelten, eine Großmutter. Und spätestens jetzt weißt du, dass die Polizeireviere deines Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören. Es spielt keine Rolle, ob die Zerstörung die Folge einer bedauerlichen Überreaktion ist. Es spielt keine Rolle, ob sie einem Missverständnis entsprungen ist. Es spielt keine Rolle, ob die Zerstörung von einer albernen Vorschrift herrührt. Wenn du ohne Genehmigung Zigaretten verkaufst, kann dein Körper zerstört werden. Wenn du dich gegen die Menschen auf‌lehnst, die deinen Körper einfangen wollen, kann er zerstört werden. Wenn du ein dunkles Treppenhaus betrittst, kann dein Körper zerstört werden. Die Zerstörer werden selten zur Rechenschaft gezogen. Meist erhalten sie eine Rente. Und Zerstörung ist auch nur die Steigerung einer Herrschaft, die Filzen, Festnehmen, Schlagen und Demütigen vorsieht. All das ist normal für Schwarze. Ein alter Hut. Verantwortlich gemacht wird dafür niemand.

Die Zerstörer sind nicht beispiellos böse, sondern schlicht Menschen, die die Launen unseres Landes umsetzen, die sein Erbe und sein Vermächtnis richtig deuten, bis heute. Das mag man nicht unbedingt wahrhaben. Doch unsere ganze Begriff‌lichkeit – race relations, racial chasm, racial justice, racial profiling, white privilege, sogar white supremacy – dient nur dazu, zu verschleiern, dass Rassismus eine zutiefst körperliche Erfahrung ist, dass er das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreißt, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt. Davor darfst du nie die Augen verschließen. Du musst dir immer bewusstmachen, dass die Soziologie, die Geschichte, die Wirtschaft, die Tabellen und Statistiken, die Regressionen allesamt mit Wucht auf deinem Körper landen.

Das war es, was ich der Moderatorin jener Nachrichtensendung am vergangenen Sonntag zu erklären versuchte, so gut es in der vorgegebenen Zeit eben ging. Doch am Ende zauberte die Moderatorin ein populäres Foto von einem elf‌jährigen schwarzen Jungen auf den Schirm, der tränenreich einen weißen Polizisten umarmt. Dann fragte sie mich, wie es denn mit der »Hoffnung« stehe. Und da wusste ich, dass ich versagt hatte. Und erinnerte mich daran, dass ich nichts anderes erwartet hatte. Und wunderte mich erneut über diese unbestimmte Traurigkeit, die in mir aufstieg. Warum genau war ich...

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