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Moderne Wahlen

Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert

AutorHedwig Richter
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl657 Seiten
ISBN9783868549225
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Freie Wahlen sind ein essenzielles Element jeder Demokratie. Doch wie ein Blick auf die Geschichte der Wahlen zeigt, ist das Verhältnis beider zueinander - und zum Volk als Hauptakteur - überaus zwiespältig und keineswegs selbstverständlich. Warum wählen wir? Warum haben sich politische Wahlen als das große Legitimationsmittel für Herrschaft durchgesetzt? Die Antwort scheint schnell gegeben: Wahlen ermöglichen den Menschen Freiheit und Gleichheit, und gegen alle Widrigkeiten haben Frauen und Männer sich immer wieder dieses Recht erkämpft und Demokratien errichtet. Hedwig Richters umfassend angelegte Historiografie des Wahlrechts und der Wahlpraxis rekonstruiert über den Vergleich von Preußen und den USA im 19. Jahrhundert die Geschichte der Demokratie anhand der Wahlen. Mit ihrem innovativen Ansatz, der nicht nur auf Ideen und Gesetzestexte schaut, sondern auch die Wahlpraxis in den Blick nimmt, hinterfragt sie die Erzählung vom großen Freiheitskampf des Volkes um die Einfürung allgemeiner Wahlen. Die Autorin widerlegt die These vom anthropologischen Bedüfnis des Menschen nach Partizipation und politischer Verantwortung. Stattdessen verweist sie darauf, dass das Wahlrecht häufig von oben eingefürt und als Disziplinierungsinstrument der Herrschenden genutzt wurde. Der Fokus auf den konkreten Akt des Wählens erlaubt zudem einen neuen Blick auf die alte Frage, warum im Laufe des 19. Jahrhunderts zwar immer mehr Männer als 'gleich' anerkannt wurden und sukzessive das Wahlrecht erhielten, die Gleichheit der Frau jedoch erst Jahrzehnte später gedacht werden konnte. Denn der Einsatz des Körpers und Vorstellungen vom (männlichen) Körper gestalteten wesentlich die Stimmabgabe mit. Was bedeuten diese Erkenntnisse für unsere Zeit? Demokratie ist kompliziert und alles andere als selbstverständlich. Wie historische und aktuelle Beispiele zeigen - so gegenwärtig im Irak und in Afghanistan - lässt sie sich nicht einfach modellhaft von außen installieren.

Hedwig Richter, PD Dr. phil., Historikerin. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe 'Demokratie und Staatlichkeit' am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zuvor war sie u.a. an der Universität Greifswald, am Deutschen Historischen Institut in Washington und an der Universität Bielefeld tätig. Sie schreibt für die Süddeutsche Zeitung und für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

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Leseprobe

Bürgerliche Lauheit und die preußische Städteordnung


»Trostlose Lauheit« herrschte in den Häusern Berlins, wenn für die Männer die Wahlen anstanden, und jede Abstimmung über die Stadtverordneten offenbarte aufs Neue die Gleichgültigkeit der Bürger.1 Weder die gesetzlich fixierte Wahlpflicht in der 1808 installierten Städteordnung noch das weit gefasste Wahlrecht vermochte die Wähler zu motivieren. Von den 146000 Berlinerinnen und Berlineurn durften immerhin 9200 Männer ihr Votum abgeben, was 7 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung entsprach. Wie in der ersten Jahrhunderthälfte üblich durften nur Männer mit einem gewissen Eigentum wählen. In der Städteordnung waren das die Bürger, also Einwohner, die sich das Bürgerrecht erkauft hatten. Zusätzliche Anforderungen bestanden nicht, sodass der Besitzzensus für die damalige Zeit recht niedrig lag. In ganz Preußen besaßen damit rund 10 Prozent der Stadtbevölkerung das Wahlrecht, was 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach.2 Doch selbst die weitreichenden Kompetenzen, die den Gewählten übertragen wurden, motivierten die Bürger nicht. Die Regulierungen sahen vor, dass die Stadtverordnetenversammlung »unbeschränkte Vollmacht in allen Angelegenheiten des Gemeinwesens« erhielt (StO § 108) und dass die Bürger sowohl den Magistrat als ausführendes Organ als auch den Bürgermeister wählen konnten.3

Die Bürger kannten die Wahlen vor allem aus dem kirchlichen Leben.4Auch in den kleinen, aber einflussreichen Zirkeln der Freimaurerlogen wurde gewählt.5 Kommunale Mitbestimmung war bisher jedoch einer kleinen städtischen Elite vorbehalten gewesen. Von einem politisch weitergehenden Wahlrecht hatten die Bürger bis dahin aus Frankreich und den okkupierten Gebieten gehört, wo auch Tausende deutscher Männer wählen konnten.6 In Berlin waren 1806, gleich nach der Besatzung der Stadt, auf französischen Befehl hin 2000 der wohlhabendsten Bürger zwangsverpflichtet worden, in der Petrikirche einen »großen Rat« zu wählen.7Diese offenkundige Verknüpfung der Wahlen mit der ungeliebten Besatzungsmacht und ihre unmissverständliche Disziplinierungsfunktion wird den Berlinern die Städteordnung kaum sympathischer gemacht haben, als diese kurz nach dem Abzug der französischen Truppen 1808 eingeführt wurde. In Berlin sollte nach dem Willen des Innenministeriums der reformerische Oberpräsident Johann August Sack die Stadt als Musterbeispiel für die Vorzüge der neuen Städteordnung präsentieren.8 Doch noch wenige Wochen vor den ersten Wahlen, die im April 1809 stattfinden sollten, notierte Sack, die Öffentlichkeit wolle einfach nicht glauben, dass die ungeliebte Regulierung tatsächlich kommen werde.9 Die Bürger hatten andere Sorgen: Die französischen Besatzer hatten der Stadt nach ihrem Abzug einen Schuldenberg von 4,5 Millionen Talern hinterlassen, der Handel stockte, viele Menschen fanden keine Arbeit, Not und Armut lasteten oft selbst auf den besser gestellten Beamten.10

Abwehr der nivellierenden Wahl- und Städteordnung

Nicht nur die Berliner wollten die Verordnung und das Wahlrecht nicht. Besonders heftig wehrten sich die Pommern. Die Provinz empfand die Wahlen als unnötig und scheute die Kosten, die eine Einsetzung der vorgesehenen kommunalen Beamten mit sich bringen würde. Die alten Magistratsmitglieder wollten nicht auf ihre bisherigen Privilegien verzichten, und dass die Juden gleichberechtigt mitstimmen sollten, erschien vielen Stadtbürgern als anstößig.11 Schließlich zogen in jeder zweiten pommerschen Stadt staatliche Kommissare das Wahlprozedere an sich, weil die örtlichen Amtsträger als unfähig galten und in den Augen der Obrigkeit den Geist der Städteordnung schlicht nicht verstünden. Zuweilen mussten die Wahlen wegen Unregelmäßigkeiten mehrfach wiederholt werden, sodass die pommersche Regierung erst nach mehrjähriger Verzögerung Vollzug melden konnte. Der Regierungsbezirk Stralsund mit dem erst 1815 an Preußen gefallenen Neu-Vorpommern konnte sich der Städteordnung ganz verweigern, indem er auf seine Ordnungen und Privilegien aus der Schwedenzeit hinwies.12

Die städtischen Abstimmungen zeugten auch in den folgenden Jahrzehnten von der »Gleichgültigkeit und Passivität« der Bürger.13 Heinrich Runge, ein Berliner Stadtverordneter, notierte, dass »von den stimmfähigen Bürgern des Bezirks kaum die Hälfte [erscheint] und diese kleine Zahl zeigt sich noch so erschlafft und so lässig«. Nur mit »Indifferentismus« würden die Bürger der »Trostlosigkeit des ganzen Actus« beiwohnen und abstimmen; »mit derselben, schrecklichen Ruhe geht man nach Hause, um an die ganze Geschichte nicht mehr zu denken, froh, daß sie nur alle drei Jahre wiederkehrt«.14 Jahr um Jahr begleiteten obrigkeitliche Mahnungen die Stadtwahlen: »der Magistrat darf gewiß hoffen, daß Niemand von ihnen ohne dringende Abhaltung, und ohne sich in diesem Falle bey dem Vorsteher des Bezirks schriftlich entschuldigt zu haben, sich der Beywohnung der Wahl seines Bezirks entziehen [werde]«.15 Die städtischen Akten sind voll mit Überlegungen, wie sich die Bürgerschaft besser zur Wahl bewegen ließe.16 Doch in der Regel fehlte ein Drittel bis die Hälfte der Wahlberechtigten.17 Um die Bürger von den Vorteilen der Partizipation zu überzeugen, nutzen die Reformer – eine gebildete Elite aus Adel und Bürgertum – die neuen Möglichkeiten moderner Druckerzeugnisse.18 1832 empfahl die Preußische Regierung allen Verwaltungsstellen den »Katechismus für Stadt-Verordnete der Preußischen Städte«,19 der die Bürger davor warnte, sich aus »Verdruß« von »dem Gemeinwesen überhaupt und von den Wahlen insbesondere zurückzuziehen«.20 Die liberale Vossische Zeitung mahnte, »den Geist« der Städteordnung zu würdigen, und kritisierte es, wenn »so Vielen es ein unerhörtes Opfer dünkt, im Laufe von drei Jahren für die Kommune einige Stunden ihre Bequemlichkeit zu entbehren!«.21 Der aufblühende Zeitungsmarkt, der Teil einer von Historikern als Kommunikationsrevolution bezeichneten Neuerung war, bot generell ein wichtiges Forum, um moderne Ideen zu propagieren und um die immer wichtiger werdende nationale Gemeinschaft überhaupt verwirklichen zu können.22

Die Bürger verstanden, dass es um grundsätzliche Fragen ging, um die Schaffung einer neuen Ordnung, die sie systematischer einbeziehen sollte. So riefen auch die reformerischen Homogenisierungsbestrebungen ihren Unmut hervor. Die Berliner Regierung bemühte sich um die Eindämmung der »mancherlei Auswüchse und Übelstände, die unter den gleichfalls noch herrschenden feudalen Zuständen« bestanden, wie es ein Richter in Greifswald beschrieb,23 und startete alle paar Jahre eine Initiative zur freiwilligen Einführung der Städteordnung in ganz Pommern.24 Auch in andern Teilen Preußens empfanden Bürger die zentralisierenden Bestrebungen als Gängelung und »prinzipmäßige[s] Gebahren der Büreaukratie mit ihrer Willkür, Eigenmacht, Nichtachtung der Rechte«25 und schimpften auf »den ganzen abstracten Staatsbegriff der modernen politischen Doctrin, […] mit allem was er an Centralisation, Codification, Nivellirungs- und Uniformitätssucht, an Despotismus der Gesetze und Mechanisirung der ganzen Rechtsordnung mit sich führt«.26 Der unbändige Gutsbesitzer Friedrich August Ludwig von der Marwitz bezeichnete den führenden Reformer Karl August von Hardenberg als einen »türkischen Großvezier«.27 Und der Jurist Carl Wilhelm von Lancizolle erklärte, die Magistrate der Städteordnung seien »Wahlkörper« ohne »lebendige Seele«; die »notorisch geringe Teilnahme« an den Wahlen sei nur folgerichtig.28 Er spottete über die Reformer, die sich von der Städteordnung die »Erweckung eines neuen wunderherrlichen Communallebens« erhofft hatten.29 Viele seiner Juristenkollegen amüsierten sich über die »Fluth von Rescripten, die täglich aus den Federn der jungen Räthe« im Justizministerium flossen.30 In Anspielung auf die Weltfremdheit der Städteordnung zitierten die Bürger höhnisch die Bibel: »Wer sich aber vorgenommen hat, über das Gesetz des Höchsten nachzusinnen, der muß […] den verborgenen Sinn der Gleichnisse erforschen und mit Rätselsprüchen vertraut sein«.31

Oft rebellierten Sondergruppen wie der Landadel, die Universitäten oder die hugenottische Minderheit dagegen, von der nivellierenden Städteordnung verschlungen zu werden....

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