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E-Book

Mörder

Fälle aus der Praxis eines Strafverteidigers

AutorVeikko Bartel
VerlagMosaik bei Goldmann
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641225629
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Wer in gut 40 Tötungsfällen vor Gericht verteidigt hat, weiß, was Männer dazu bringt, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. In seinem zweiten Buch »Mörder« zeigt Strafverteidiger Veikko Bartel die männliche Seite des Tötens und schildert die sechs spektakulärsten Fälle. Er erzählt mitreißend von den Hintergründen, den seelischen Untiefen und den biographischen Tragödien, die sich hinter den Taten verbergen. Einmal mehr stellt der Autor die Frage nach Gerechtigkeit und beweist mit jeder Geschichte: Kein Krimi ist so spannend wie die Realität.

Veikko Bartel, geboren 1966 in Karl-Marx-Stadt (DDR), studierte nach der Wiedervereinigung Jura und arbeitete von 1996 bis 2011 als Rechtsanwalt in Potsdam, ab 1998 als Strafverteidiger. Heute ist er Dozent für Steuerrecht. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.

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Leseprobe

Pirche ist mit seinen knapp fünfzig Lebensjahren ein gebrochener Mann. Teilnahmslos hat er die zehn Verhandlungstage im Gericht gesessen, kaum wahrgenommen, was da um ihn herum geschah. Nur einmal blickte er auf, als seine jüngere Tochter als Zeugin vernommen wurde, als er das Wort »Papa« in ihrer unverwechselbar weichen Stimme hörte. Niemals, absolut niemals wird er begreifen können, was er an diesem sonnigen Dienstag getan hatte.

Heute, an diesem letzten Verhandlungstag, soll das Urteil gesprochen werden. Ob Gefängnis oder nicht, ob zehn Jahre, fünfzehn Jahre oder gar lebenslänglich, das macht für ihn nicht den geringsten Unterschied. Sein Leben ist ohnehin vorbei. Wenn er doch wenigstens den Mut finden könnte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber den hat er nicht. Er fürchtet sich vor den Schmerzen, er fürchtet sich vor diesen letzten Minuten, diesem endgültigen Moment der Einsamkeit, in dem das Leben den Körper verlässt, er fürchtet sich vor der Stille des Todes. Aber am meisten fürchtet er sich vor dem Danach, vor Gott zu stehen und sich rechtfertigen zu müssen. Für das, was er getan hat.

Das Gericht betritt den Saal. Er quält sich aus dem Stuhl. Die Anspannung aller anderen in diesem Gerichtssaal bemerkt Pirche nicht. Er schaut nur geradeaus, ins Nirgendwo. Wie jeden Tag seit besagtem Dienstag vor nunmehr fast acht Monaten. Auch jetzt, in diesem ganz besonderen Augenblick, an dem der Vorsitzende Richter mit den Worten »Im Namen des Volkes verkünde ich folgendes Urteil …« zu sprechen beginnt, hat er die Bilder vor Augen. Nie einen vollständigen Film. Nur Fragmente, Bewegungen in Zeitlupe. Aber vor allem hat er immer und immer wieder den Geruch von frischem, warmem, pulsierendem Blut in der Nase. So als säße er noch immer in seinem Wohnzimmer, seine tote Frau im Arm haltend. Die letzten Worte seiner Frau, von denen er niemals gedacht hätte, sie sei in der Lage, solche auszusprechen, sind permanent präsent. Ohne Pause hämmern sie durch seine Gedanken. Er ist derart in der Welt jenes Dienstags verhaftet, dass er das ihn freisprechende Urteil, die anschließenden Tumulte im Verhandlungssaal, das entsetzte, wütende Aufschreien seiner ältesten Tochter, den Freudenschrei seiner jüngsten nicht mitbekommt. Er registriert nicht, dass der Vorsitzende Richter von einem ganz besonderen, ja vielleicht einmaligen Fall spricht; davon, dass das Gericht sehr lange und kontrovers darüber beraten habe, welchem forensisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten es folgt, und schlussendlich dem von der Verteidigung eingebrachten den Vorzug gab; und man auf Grundlage dieses Gutachtens nicht ausschließen könne, dass Pirche zum Zeitpunkt der Begehung dieses Doppelmordes schuldunfähig war und deshalb nicht bestraft werden könne.

»Herr Pirche«, der Vorsitzende Richter spricht ihn an.

Galt das jetzt ihm? Der Vorsitzende ruft den Namen noch ein zweites Mal. Erst beim vierten Versuch wird Pirche aus seiner Gedankenwelt gerissen und blickt zur Richterbank auf.

»Herr Pirche, machen Sie Ihren Frieden mit dem Geschehenen. Wenn Sie weiterleben wollen, müssen Sie Ihren Frieden damit machen und sich selbst verzeihen. Ob das überhaupt möglich sein wird? Ich weiß es nicht. Aber versuchen Sie es, Herr Pirche, versuchen Sie es. Sie können nach Hause gehen. Sie sind ein freier Mann. Der Haftbefehl ist aufgehoben. Die Sitzung ist damit geschlossen.«

Die Richter erheben sich und verlassen den Saal. Plötzlich steht die Protokollführerin vor mir und drückt mir mit den Worten »Vom Vorsitzenden« einen Zettel in die Hand. »Gehen Sie mit Ihrem Mandanten hinten raus. Die Wachtmeister wissen Bescheid«, steht da geschrieben. Gemeint ist der Ausgang, über den die Untersuchungsgefangenen ins Gericht gebracht werden. Fern ab aller Kameras und fragender Journalisten. Als ich Pirche dies mitteilen will, sehe ich, wie er noch immer auf die verwaiste Richterbank starrt. Keine Mimik, nicht die geringste Geste. Keine Freude, keine Erleichterung. Seine jüngere Tochter kommt aus dem Zuschauerraum auf ihn zugestürzt und nimmt ihn euphorisch in den Arm. Pirche erwidert die Umarmung nicht, wendet seinen Blick noch immer nicht von der Richterbank ab.

»Wir sollten gehen, Herr Pirche. Jetzt«, sage ich zu ihm.

»Wohin?« Pirches Stimme ist tonlos.

»Wohin auch immer, Herr Pirche. Nur weg von hier. Die Wachtmeister bringen uns über den Gefangeneneingang raus.« Ich höre durch die noch geschlossene Tür hinter uns, wie sich auf dem Gerichtsgang die Meute an Journalisten und Kamerateams sammelt, bereit zum Sprung, sobald sich diese Tür öffnet und Pirche auf den Gang tritt.

Erst jetzt wendet sich Pirche zu mir.

»Warum tut er mir das an? Gott ist tot, Herr Bartel. Gott ist tot.«

Pirche war das personifizierte Klischee eines deutschen Finanzbeamten. Staubtrocken, gänzlich humorlos, und was seine Kleidung anging, war ein »frisches Steingrau«, um eine Loriot’sche Wendung zu benutzen, für seinen Geschmack schon sehr nahe am Kleidungsstil einer Hippiekolonie.

Pirche war ein Mann der alten Werte, so glaubte er zumindest. Der Nordpol seiner Welt war das Finanzamt, in dem er seit fünfundzwanzig Jahren Dienst tat. Der Äquator war sein Reihenmittelhaus, welches er entgegen jede seiner Überzeugungen vor zwanzig Jahren gekauft hatte, weil seine Frau das so wollte, und das er bis zum heutigen Tag abbezahlte. Der Grund seines damaligen Widerstandes war seine Überzeugung, dass sich ein deutscher Finanzbeamter nicht verschulden dürfe. Denn dadurch entstünde die Gefahr von Erpressbarkeit und Korruption. Wenn er etwas zu sagen hätte, er verböte das für alle Beamten, stattdessen gäbe er Behördenkredite aus.

Sein Südpol war die Kirchengemeinde. Seit seiner frühesten Jugend, zutiefst geprägt durch sein schon fast klösterliches Elternhaus, war er in der Kirche aktiv. Erst Ministrant, jetzt seit vielen Jahren im Gemeindevorstand. Er wäre gern Priester geworden, aber er fühlte, nicht würdig, nicht würdig genug für dieses Amt zu sein. Die katholische Kirche war seine moralische Instanz, gegen die er keinen Widerspruch duldete, weder in Sachen des Glaubens noch institutionell. Das Wort seiner Kirche war ihm heilig. In jeder Hinsicht und mit der tiefsten Überzeugung, dass es einem guten Katholiken keinesfalls zustünde, die Worte eines Pfarrers, eines Bischofs, gar des Papstes zu hinterfragen, geschweige denn in Zweifel zu ziehen.

Pirche war ein außergewöhnlich spiritueller Mensch. Mehrmals am Tag wandte er sich im Gebet an Gott. Dessen Gegenwart spürte er mit jedem Atemzug, jedem Zwinkern, in jedem Augenblick. Niemals hatte er einen sonn- oder feiertäglichen Gottesdienst verpasst. Auch im Urlaub nicht, egal wohin es die Familie auch verschlagen hatte. Noch bevor man die Hotelzimmer bezog, die Tür zur Ferienwohnung aufschloss, das Zelt aufbaute, wurde in Erfahrung gebracht, wo die nächstgelegene katholische Kirche steht und wann dort Gottesdienste gefeiert werden.

Hätte man Pirche nach dem Sinn seines Daseins befragt, er hätte ohne Zögern geantwortet, er wolle ein durch und durch gottgefälliges Leben führen. Wichtigstes Element – Pflichterfüllung, Pflichterfüllung und nochmals Pflichterfüllung! Bis in den Tod. Nichts als dem Wohle des Staates dienen, das war sein Lebensziel. Einen Satz, ja selbst einen Gedanken wie »Jetzt lass doch mal fünfe gerade sein« hasste er. Nicht mit ihm. Wehret den Anfängen! Der kleine Finger bedeutet den sicheren Weg zur Anarchie.

Wehe denen, für die er zuständig war. Da gab es kein Entrinnen. Zwei Monate Zahlungsaufschub für eine fünfköpfige Familie, die das für die Einkommenssteuer bestimmte und zurückgelegte Geld für die Kur ihres schwer an Asthma erkrankten Säuglings ausgegeben hatte? Tragisch zwar, aber für ihn nicht von Bedeutung. Das Gesetz kennt keine Ausnahmen. Wenn der Gesetzgeber gewollt hätte, dass in einem solchen Fall das Konto nicht gepfändet werden dürfte, hätte der es so ins Gesetz hineingeschrieben. Hat er aber nicht. Recht war dazu da, befolgt zu werden. Punkt. Ob diese Paragrafen gut oder schlecht waren, darüber hatte er als die Regeln ausführender Beamter nicht zu befinden. Das hätte sich Pirche niemals angemaßt.

Bemerkte er ein Fehlverhalten, einen Regelverstoß eines anderen Beamten, gleichgültig in welcher Dienststellung der sich befand, so meldete er diesen an dessen Vorgesetzten. Nein, nicht um sich einen Vorteil zu verschaffen. Ein solcher Gedanke war ihm gänzlich fremd. Er erwartete, forderte auf Dienstberatungen vehement ein, dass Regelverstöße ohne Ansehen der Person gemeldet werden müssten. Auch wenn ihm selbst ein solcher unterlaufen würde, was allerdings noch niemals vorgekommen war.

Aber Pirche hielt sich nicht für unfehlbar, ganz im Gegenteil. Rechthaberei war ihm fremd. Offenbarte sich in einem von ihm erlassenen Einkommensteuerbescheid ein Fehler, so war er ohne Zögern bereit, den Bescheid zu korrigieren. Auch ein Beamter kann sich irren. Irrt er sich, hat er den Irrtum postwendend zu korrigieren. Auch das verlangt das Gesetz.

Wenngleich viele Steuerberater die Augenbrauen hochzogen, hatten sie es mit ihm zu tun, so waren sie insgeheim doch froh, an ihn geraten zu sein. Denn Pirche war nicht beratungsresistent, er hörte sich die fachlichen Argumente der Steuerberater immer an und prüfte deren Richtigkeit. Von ihm bekam man niemals nur ein »Nein«, sondern immer ein »Nein, weil …«. Wer allerdings den Versuch wagte, ihn und damit den Staat zu bescheißen, der hatte fortan mehr als schlechte Karten. Für Pirche war ein solcher Versuch, den er im Übrigen auch unverzüglich bei der Steuerfahndung zur Anzeige brachte, unverzeihlich.

Bei Beförderungen war er stets übergangen worden. Bedauern darüber, gar Neid auf die, die statt seiner...

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