Sie sind hier
E-Book

Mörderinnen

Fälle aus der Praxis eines Strafverteidigers

AutorVeikko Bartel
VerlagMosaik bei Goldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641235055
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Warum töten Menschen? Was lässt sie diese letzte Grenze überschreiten? In über 30 Tötungsdelikten hat Veikko Bartel schon vor Gericht verteidigt, in »Mörderinnen« erzählt er die vier spektakulärsten, anrührendsten, grausamsten Fälle: die Kindsmörderin, die Sadistin, die Gattenmörderin, die Giftmörderin. Eindrücklich schildert er die Hintergründe, die hasserfüllten Reaktionen der Öffentlichkeit und die biographischen Tragödien, die sich hinter den Taten verbergen. Seine Erzählungen stellen die Frage nach Gerechtigkeit und zeigen mit jedem Fall: Die Realität ist spannender als jeder Krimi.

Veikko Bartel, geboren 1966 in Karl-Marx-Stadt (DDR), studierte nach der Wiedervereinigung Jura und arbeitete von 1996 bis 2011 als Rechtsanwalt in Potsdam, ab 1998 als Strafverteidiger. Heute ist er Dozent für Steuerrecht. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

»Holla, die Waldfee! Die komplette Mannschaft! Ist das der Beginn einer Meuterei?«

Ich schaue von meinem Schreibtisch auf und sehe mich mit allen »meinen Mädels« konfrontiert. In der Mitte meine Büroleiterin, eine sowohl an Körperhöhe als auch an Intellekt, Charme, Weiblichkeit und Durchsetzungskraft große Blondine. Ihre Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, was sie doch glatt um zehn Jahre jünger macht, kaum von den Auszubildenden mit Anfang zwanzig zu unterscheiden. Jetzt steht die ganze achtköpfige Mannschaft wie bei einem Appell nebeneinander und kerzengerade in meinem Arbeitszimmer. Nur die kleine, etwas fülligere Azubine versteckt sich hinter meiner Büroleiterin, die ich übrigens – stets mit einem gehörig Maß Respekt – Katerchen nenne.

»Chef, wir wollen etwas loswerden. Es geht um das hier«, sagt sie und hält ein auf rotem Papier gedrucktes Schriftstück in meine Richtung. Diese Farbe wird in der Justiz ausschließlich für Haftbefehle verwendet.

»Kam heute mit der Post. Sie sollen die Verteidigung übernehmen«, fährt sie fort.

»Und?«, frage ich ungläubig. Jede Woche kamen solche roten Zettel in die Kanzlei geflattert.

Katerchen holt tief Luft. »Wir haben bis jetzt immer alles mitgemacht. Der Tote mit dem Kuhfuß im Po, dann diese Frau, die ihrer Freundin Löcher, Sie wissen schon wo, reingestanzt hat, zerschossene Gliedmaßen, eingeschlagene Schädel, zermatschte Gehirne, der Typ, der seinen Schuldner mit einem Tacker auf den Küchentisch genagelt hat und verdursten ließ. Dann noch das Gehirn auf dem Edelstahltisch, durchbohrt von blauen und roten Stricknadeln, um die Schusskanäle sichtbar zu machen. Aber das«, sie wedelt mit den roten Blättern, »das hier, das geht zu weit. Mit der wollen wir nichts zu tun haben. So eine können und dürfen selbst Sie nicht verteidigen.«

Katerchens Stimme ist voller Entrüstung, voller Fassungslosigkeit, voller Zorn.

»Die hat ihr Baby gekocht!«

Noch bevor ich irgendeine Bemerkung machen kann, schleudert sie mir den Satz entgegen: »Das ist keine Metapher!«

Das Ding in ihrem Bauch

Sie wird wach. Das Ziehen in ihrem Bauch ist unerträglich. Es hatte schon abends auf dem Sofa vor dem Fernseher angefangen. Dennoch war sie, wie jeden Abend, zusammen mit ihrem Mann ins Bett gegangen, hatte gedacht, eher erhofft, dass das schon vorübergehen wird. Der neuerliche Schmerz zwingt sie, ihren Kopf in das Kissen zu drücken. Das Kissen dämpft ihr Stöhnen. Auf keinen Fall darf ihr Mann wach werden. Während der Schmerz langsam nachlässt, denkt sie an ihre Versuche, das Ding in ihrem Bauch wegzumachen. In der Badewanne steckte sie sich lange Stricknadeln in ihre Scheide, versuchte so, durch den Muttermund zu kommen, um damit eine Fehlgeburt auszulösen. Sie hat die Bilder vor Augen, wie sie den Duschkopf abschraubte, sich den Schlauch einführte und das heiße Wasser aufdrehte, weil die Hitze das Ding in ihr angeblich tötet. Hatte sie mal irgendwo gelesen. Aber auch das half nichts. Es blieb in ihr drin, und es lebte.

Als der Schmerz kaum noch spürbar ist, hebt sie leicht den Kopf und schaut langsam zur anderen Seite des Bettes. Ihr Mann schläft tief und fest. Gut. In diesem Moment kommt der Schmerz wieder. Heftiger, länger, intensiver.

»Oh mein Gott, nein, bitte, bitte mach, dass es aufhört«, stöhnt sie leise vor sich hin. Doch das tut es nicht. Seit dem letzten Ziehen in ihrem Bauch sind nicht einmal zwei Minuten vergangen. Was das bedeutet, es ist ihr bewusst. Auch wenn sie es zu verdrängen sucht. Sie drückt sich wieder das Kissen ins Gesicht, beißt zusätzlich in ihre Hand. So lange, bis es vorbei ist.

Mit verstohlenem Blick zu ihrem Mann schleicht sie aus dem Bett. Er hat nichts bemerkt. Von allem hat er nichts bemerkt. Weite Kleidung trug sie wegen ihrer etwas fülligen Figur schon immer. Und vier Monate keinen Sex? Da gab es schon viel längere Phasen in ihrer Ehe.

An der Schlafzimmertür kommt die nächste Welle. Ihre Zähne bohren sich abermals in ihre Hand, mit Macht unterdrückt sie jedes Stöhnen, jeden Laut. Die Beine sacken weg. Sie sinkt in der Zarge auf den Boden. Wieder der ängstliche Blick, ob des Schmerzes mit aufgerissenen Augen, zu ihrem Mann. Sein Atem ist ruhig, nur seine Brust hebt und senkt sich.

»Ich muss ins Badezimmer, bevor es das nächste Mal kommt«, befiehlt sie sich selbst. Sie verharrt noch einen Moment, hört in die Stille hinein, ob nicht vielleicht aus dem Kinderzimmer irgendein Geräusch zu hören ist. Die Tür zum Kinderzimmer ist genau gegenüber der Schlafzimmertür. Auch da herrscht Stille.

Sie kriecht auf allen vieren den kurzen Flur entlang. Kurz vor der Badezimmertür erwischt sie die nächste Welle. Sie spürt, das Ding in ihr will raus.

»So eine Scheiße!«, nuschelt sie kaum hörbar vor sich hin. Auf der Ablage der Garderobe liegt die Pudelmütze ihres Sohnes, die sie greift und sich in ihren Mund stopft. Dann presst sie ihren Rücken gegen die Wand, kneift mit ihren Fingern, so sehr sie kann, in ihre Ohrläppchen. Das lenkt den Schmerz tatsächlich ab.

Nicht schreien, komm, nicht schreien. Du darfst nicht schreien!

Der Schmerz ist indes so unerträglich, dass sie es doch tut, in die Mütze ihres Sohnes hinein, ein dumpfes, anhaltendes Geräusch voller Verzweiflung in der Dunkelheit des engen Flurs einer Plattenbauwohnung.

Endlich ist der Schmerz vorbei. Ihr Körper ist schweißgebadet. Sie hechelt, hat das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Mit letzter Kraft drückt sie die Badezimmertür auf, lässt sich mehr hineinrollen, als bewusst hineinzukriechen. Im Bad angekommen, hat sie keine Kraft mehr in den Armen, lässt sich fallen. Nun liegt sie ausgestreckt auf dem Fußboden des Badezimmers. Mit den Fußspitzen schließt sie die Tür. Man kann diese nur anlehnen, die Tür hat, schon seit sie dort eingezogen sind, kein Schloss und auch keine Klinke. Noch immer ist es totenstill in ihrer kleinen Wohnung. Sie kriecht wie ein Krebs rückwärts bis zur Waschmaschine am anderen Ende des Badezimmers. Die nicht einmal drei Meter durch diesen Badezimmerschlauch kommen ihr vor wie ein Marathon. Die Kraft reicht noch, um sich ein wenig hochzuziehen, dann lehnt sie an der Waschmaschine.

Die nächste Welle. Plötzlich ist es unter ihr nass. Ehe sie irgendetwas dagegen tun kann, rutscht sie auf dem hellen Linoleum in Richtung Tür. Sie weiß, das war die Fruchtblase.

Sie versucht, wieder nach oben zu kommen, zurück an die Waschmaschine. Mit Händen und Füßen stößt sie sich vom Fußboden ab, aber durch die Nässe rutscht sie ein ums andere Mal ab. Koordinieren kann sie ihre Bewegungen schon lange nicht mehr. Ihr Körper gehorcht ihr nicht. Und doch, nach einer gefühlten Ewigkeit lehnt sie wieder mit dem Rücken an der Waschmaschine. Sie schlägt die Beine übereinander, spannt die Oberschenkelmuskeln an. So sehr sie kann. Als sie in dieser Position die Kraft verlässt, greift sie zwischen die Beine und presst ihre Hände mit jeder Kraft, zu der sie noch fähig ist, gegen ihre Scheide, hält sie zu, will das, was sie da ertastet, zurück in ihren Bauch schieben.

Die nächste Wehe kann sie nicht mehr beherrschen. Ihre Beine öffnen sich, ihre Hände suchen nach Halt, die rechte Hand greift den Rand der Badewanne, die linke stemmt sich gegen die Wand. Der Schmerz nimmt ihr die Sinne.

Eines tut sie nicht: Schreien.

Das Ding verlässt ihren Körper.

Jetzt liegt es zwischen ihren Beinen. Wegen der Dunkelheit sieht sie es nur schemenhaft. Das kurze, für den Hauch eines Moments aufkeimende Gefühl der Erleichterung, das Gefühl, es überstanden zu haben, weicht plötzlichem Erschrecken. Das Ding bewegt sich. Hat es gerade den Mund geöffnet? Bewegte sich da eine Hand, ein Fuß? Sie greift ohne Zögern nach dem Badevorleger neben sich und drückt ihn dem Ding aufs Gesicht. Fest und unbarmherzig. Es darf nicht anfangen zu schreien, sonst werden die anderen wach. Andere Gedanken gehen ihr nicht durch den Kopf. Schon gar nicht, dass sie einen gänzlich wehrlosen Menschen tötet, ein gerade begonnenes Leben auslöscht. Als das leise Strampeln des Dings aufhört, sie keine Bewegung von diesem Etwas unter dem Badevorleger mehr spürt, nimmt sie die Hand weg.

Regungslos liegt es vor ihr. Zugedeckt mit dem Badevorleger. Sie keucht.

In der Wohnung herrscht noch immer Stille. In ihrer Erschöpfung spürt sie abermals das dumpfe Gefühl der Erleichterung in sich aufsteigen. Als dieses nicht – wie vor ein paar Sekunden – wieder verfliegt, gibt ihr das Kraft.

Es ist vorbei, und niemandes Schlaf hat sie gestört.

Sie zieht an der Nabelschnur. Schon nach kurzer Zeit liegt auch die Nachgeburt zwischen ihren Beinen.

»Ich muss sauber machen«, sagt sie sich. Zwischen Geburt und diesem Satz sind keine drei Minuten vergangen.

Die ersten Versuche aufzustehen schlagen fehl. Als es ihr gelungen ist, wankt sie, sich an den Wänden des Flurs abstützend, ins Kinderzimmer und nimmt vorsichtig die Reisetasche ihres Sohnes vom Schrank. Ins Bad zurückgekehrt wickelt sie das Ding in ein Badetuch, stopft es in die Tasche und stellt sie zurück auf den Kleiderschrank im Kinderzimmer.

Immer noch ist alles still.

Behutsam schleicht sie ins Badezimmer zurück. Sie schließt leise die Tür, und erst jetzt schaltet sie das Licht an. Der Linoleumboden ist voller blutdurchtränktem Schleim. Wie auch ihr Nachthemd. Sie holt Lappen und Wischeimer aus der Küche. Macht das Bad sauber. Wäscht ihr Nachthemd aus. Wäscht sich selbst. Als sie fertig ist, legt sie sich zu ihrem Mann ins Bett.

Sie schläft sofort ein.

Der Wecker klingelt am nächsten...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

Menschen. Inklusiv leben

Menschen. Inklusiv leben

MENSCHEN. das magazin informiert über Themen, die das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft bestimmen -und dies konsequent aus Perspektive der Betroffenen. Die Menschen, um die es geht, ...

BIELEFELD GEHT AUS

BIELEFELD GEHT AUS

Freizeit- und Gastronomieführer mit umfangreichem Serviceteil, mehr als 700 Tipps und Adressen für Tag- und Nachtschwärmer Bielefeld genießen Westfälisch und weltoffen – das zeichnet nicht ...

crescendo

crescendo

Die Zeitschrift für Blas- und Spielleutemusik in NRW - Informationen aus dem Volksmusikerbund NRW - Berichte aus 23 Kreisverbänden mit über 1000 Blasorchestern, Spielmanns- und Fanfarenzügen - ...

Gastronomie Report

Gastronomie Report

News & Infos für die Gastronomie: Tipps, Trends und Ideen, Produkte aus aller Welt, Innovative Konzepte, Küchentechnik der Zukunft, Service mit Zusatznutzen und vieles mehr. Frech, offensiv, ...

dima

dima

Bau und Einsatz von Werkzeugmaschinen für spangebende und spanlose sowie abtragende und umformende Fertigungsverfahren. dima - die maschine - bietet als Fachzeitschrift die Kommunikationsplattform ...

EineWelt

EineWelt

Lebendige Reportagen, spannende Interviews, interessante Meldungen, informative Hintergrundberichte. Lesen Sie in der Zeitschrift „EineWelt“, was Menschen in Mission und Kirche bewegt Man kann ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...