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Mörderische Heimat

Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran

AutorJoachim Innerhofer, Sabine Mayr
VerlagEdition Raetia
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl472 Seiten
ISBN9788872835265
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Südtirols Opfer der Schoah wurden von Faschisten observiert und ausgewiesen, großteils von einheimischen Nationalsozialisten verfolgt und deportiert. Nach 1945 weigerte man sich, Überlebende für ihre materiellen Verluste zu entschädigen. Die Erinnerung an die Opfer wurde verdrängt. 'Mörderische Heimat' dokumentiert die vielseitigen Äußerungsformen des in Südtirol tief verwurzelten Antisemitismus. Südtirols NS-Opfer hatten ihre Heimat geliebt und wichtige Beiträge in der Medizin, Wirtschaft und im Tourismus geleistet. Das Aufzeigen der Spuren jüdischen Lebens in der Geschichte Südtirols lässt ihnen eine späte Anerkennung zuteilwerden. Nach akribischen Recherchen in Südtiroler, italienischen und internationalen Archiven werden Lebens- und Leidenswege, Besitz- und Wohnverhältnisse einer Vielzahl der ehemaligen jüdischen Einwohner Südtirols dokumentiert, die in der Schoah ermordet wurden. Dank der Mitarbeit von Überlebenden und Familienangehörigen von NS-Opfern in Italien, Israel, Großbritannien und den USA wird erstmals das Ausmaß des erlittenen Leides ausführlich dargestellt.

Joachim Innerhofer studierte an der Universität Innsbruck, war viele Jahre lang Journalist für die 'Neue Südtiroler Tageszeitung' und leitet das Jüdische Museum in Meran. Er ist Mitglied der jüdischen Gemeinde in Meran. Sabine Mayr studierte an der Universität Wien, arbeitete unter anderem an der OSZE und am Institut für Höhere Studien in Wien. In Zusammenarbeit mit Albert Sternfeld veröffentlichte sie 'Die Sternfelds. Biographie einer Familie' (2005), mit Evelyn Adunka und Dieter Hecht 'Brücken, Beziehungen, Blockaden. Initiativen und Organisationen in Österreich und Israel seit 1945' (2007).

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Leseprobe

Vorwort von Peter Turrini


Ich nehme das Wort „Heimat“ ungern in den Mund, und wenn es dort einmal landet, dann spucke ich es schnell wieder aus. Für mich ist entscheidend, wo sich ein Mensch zu Hause fühlt. Für einen Moment, für eine Weile, für längere Zeit. Dieses Gefühl kann man bei einem anderen Menschen empfinden, für eine Gegend, es kann sich auf eine Situation beziehen oder auf Laute. Der Begriff „Heimat“ wurde nicht nur in der Nazizeit missbraucht, sondern wird es heute genauso. Auf der einen Seite sprießen Heimat- und Brauchtumsveranstaltungen nur so aus dem Boden, aber andererseits ist dieser Boden ausgelaugt oder von Schnellstraßen zerschnitten. Unser industriell produziertes Essen ist voll mit Gift, aber in der Lebensmittelwerbung werden ländliche Idyllen gezeigt, die an die faschistische Ästhetik erinnern. Alles, was man umgebracht hat, feiert als Ideologie, als Kitsch seine Auferstehung.

Heimat „Österreich“, was ist das überhaupt? Ein politisches Gebilde, das in hundert Jahren fünf Mal seine Gestalt gewechselt hat. Von der Monarchie zur Ersten Republik, von dort zum Ständestaat und dann ab ins Dritte Reich. Dann geht’s wieder los mit der Zweiten Republik. Ich bin zur Österreichliebe schon deshalb unfähig, weil mir das Objekt der Zuwendung zu instabil ist. Und was ist schon das Einheimische, was das Fremde? Nehmen wir Maria Saal, das Zollfeld, von wo ich herkomme. Da vermischte sich das Keltische mit dem Römischen, das Deutsche mit dem Slawischen. Wie in jedem Grenzland sind wir vermischte Wesen, es gibt keine echten Kärntner und das ist grundsätzlich eine Freude. In keinem anderen Land ist der Fremdenhass so idiotisch wie in Österreich, denn was man hierzulande dem Fremden unterstellt, was man an ihm ablehnt, wessen man ihn verdächtigt, das ist immer ein Teil von einem selbst. Ein Österreicher, der einen Tschechen, einen Kroaten oder einen Slowenen beschimpft, beschimpft sich selbst. Der ethnisch reine Österreicher ist eine Erfindung, es gibt ihn nicht. Es gibt keinen österreichischen Bundespräsidenten, es gibt keinen österreichischen Bundeskanzler. Es gibt und gab jüdische und kroatische und tschechische Einwanderer und deren Nachkommen in besagten Positionen. Was man Österreicher nennt, ist ein europäisches Gemisch gleichen Namens. Eine Promenadenmischung, die den Glücksfall ihrer Mischung nicht wahrhaben will und sich immer wieder als deutscher Schäferhund ausgibt. Man stelle sich das einmal bildlich vor, eine Promenadenmischung setzt sich die Ohren eines Schäferhundes auf und bellt großdeutsch. Das macht die österreichischen Fremdenhasser so lächerlich und unberechenbar. Wenn ich also gegen jemanden eine Phobie entwickle, dann hat das nicht mit seiner Mischkulanz, sondern mit seinem Charakter zu tun. Deppen gibt es überall.

Mein Vater war ein italienischer Kunsttischler, den es in den 1930er-Jahren nach Kärnten verschlagen hatte. Seine Sprache, dieses Gemisch von Kärntnerisch und Italienisch, seine ganze Art, passte nicht in die bäuerliche Umgebung. Man akzeptierte ihn, weil er das Fremde an sich, das „Katzelmacherhafte“, durch eifriges Nachahmen der ortsüblichen Tugenden, Schuften und Häuselbauen, zu verwischen trachtete. Er galt als fleißiger Italiener, eine Ausnahme, die man sich gefallen ließ. Bis an den Stammtisch der eingesessenen Bauern im Gasthaus schaffte er es allerdings nie. Ich habe mich in unserem Dorf nie heimisch, nie geborgen gefühlt. In der Schule wurde mir Heimat als Heimatkunde vermittelt, das Dorf als ein Ort der Harmonie, in dem Probleme nur durch das Auftauchen eines schlechten Charakters entstanden, den die Gemeinschaft loswerden musste. Heimat ist, so schilderte es der Volksschullehrer, der Ort des Brauchtums, der Gebete, der Bewahrung. Die Heimat, die mich in meiner Kindheit umgab, war aber so ganz anders als die Heimat in meinem Lesebuch, einer bearbeiteten Ausgabe eines Schulbuchs aus der Nazizeit.

Die Wirren der Nachkriegszeit hatten langsam aufgehört; die Verhältnisse begannen sich auf kapitalistische Weise zu normalisieren. Die Mechanisierung der Landwirtschaft machte Knechte und Mägde überflüssig, sie gingen als Hilfsarbeiter in die Stadt. Die Kleinbauern, deren Höfe unrentabel wurden, folgten ihnen. Unser Nachbar erschoss sich mit einem Schlachtschussapparat. Der reale Verlust der Heimat führte zur Ideologie von Heimat. Es geschah, was heute noch immer, schon wieder, im größeren Rahmen geschieht. Am Sonntag stehen die Blas- und Trachtenkapellen auf der Wiese neben dem überfüllten Parkplatz und beschwören singend und blasend eine Heimat, die es gar nicht mehr gibt. Ein anachronistisches Bild voller Brauchtum und Trachten, eine große Lüge. Der Nationalsozialismus trieb diese Methode auf die Spitze: mit seinem großdeutsch uniformierten Brimborium missbrauchte er die Reste gewachsener, lokaler Ausdrucksformen, zerstörte durch die Umstellung auf Kriegswirtschaft die letzte Unabhängigkeit der Bauern und mystifizierte gleichzeitig den Bauernstand, erhob ihn zum völkischen Vorbild.

In der Ersten österreichischen Republik war der Kaiser tot, blieben also Gott und Vaterland. Die Bourgeoisie der Ersten Republik schlug mit ihren blutrünstigen Heimwehren so lange auf eine immer stärker werdende Arbeiterschaft ein, bis von deren Organisationen nichts mehr übrig blieb. Dabei ging der Staat gleich mit drauf, und man gründete sich einen eigenen: im Namen Gottes und des Vaterlands, den klerikalen, vaterländischen Staat faschistischer Prägung. Der Durchschnittsösterreicher hat daraus gelernt: Wenn die Mörder auf Seiten des Staates sind, haben Gott und die Gerichte nichts gegen sie. Es war also zweckmäßig, das Abzeichen der Vaterländischen Front zu tragen, egal was man dachte oder fühlte. Zwei Gruppen waren aus dieser Vaterländischen Front ausgeschlossen: Die Roten, weil sie ja laut ihres Programms Internationalisten waren, und die Juden, weil sie ja schon seit zweitausend Jahren Internationalisten sind. Wenn trotzdem ein Jude etwas Öffentliches und Wichtiges tat, wurde er nie ohne das Attribut „jüdisch“ zitiert, was unter augenzwinkernden Österreichern schon immer geheißen hat: Der ist zwar dabei, aber er gehört nicht dazu. Als die deutsche Bourgeoisie Appetit auf die österreichischen Vorräte bekam, als der große Hai den kleinen fraß, als im Zuge des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich die Gold- und Devisenbestände der österreichischen Nationalbank ausgeräumt wurden, als IG Farben und die Berndorfer Metallfabrik von Dynamit Nobel und Krupp geschluckt wurden, ließ diese deutsche Bourgeoisie ihr niederes Treiben von einem Herrn ausführen, der einen besonders hohen Absender hatte: die Vorsehung. In diesem Namen agierte der neue Staat, und der gelernte Österreicher agierte, so schnell er konnte, mit. Für ihn bestand die Katastrophe nicht etwa darin, unter den Staatsmantel der faschistischen Barbarei gelangt zu sein, im Gegenteil, das Schlimme für ihn wäre gewesen, wenn er darunter keinen Unterschlupf gefunden hätte, wenn er seine Pflicht nicht hätte tun können. Denn der Staat, auch der verbrecherischste, veredelt jegliches Tun.

Auf der Meraner Kurpromenade um 1900

Das erste Antlitz des demokratisch gewordenen Österreich, welches ich zu sehen bekam, waren die Gesichter der Dorfhonoratioren am Stammtisch des Dorfgasthauses. Der neue demokratische Staatsmantel öffnete sich weit und verzeihend über alle Verächter der Demokratie. Die ersten Jahre der Zweiten österreichischen Republik dienten der moralischen und politischen Rettung der Nazis. Wozu trauern, wenn der neue Staat sie dringend zum Aufbau dessen brauchte, was sie soeben zerstört hatten?

1985 waren nach einer Umfrage der Zeitschrift „profil“ 39 Prozent der Österreicher, also zwei Millionen Wähler, der Meinung, der Nationalsozialismus werde übertrieben und falsch dargestellt. 25 Prozent der Befragten aus Kärnten sagten damals, dass es nicht das Schlechteste wäre, wenn wieder ein kleiner Hitler kommen würde. Hinter diesen sichtbaren Zahlen verbarg sich das Unsichtbare, das Alltägliche, der gewöhnliche Faschismus, der die österreichische Republik durchzog wie ein unsichtbarer brauner Strom. Mit den Ausnahmen von kurzen öffentlichen Ausbrüchen war die braune Gewalt privat geworden, verbreitete sich schweigend in den eigenen vier Wänden, murmelnd und glucksend und rülpsend in den Gaststuben, kalt und dekretierend in den Amtsstuben. Sie war, weil sie ständig ist, nicht mehr berichtenswert, sie ist so gewöhnlich, dass man sich schon an sie gewöhnt hat, und folglich ist sie nicht mehr beklagenswert. Wer schreibt und redet schon von einem Taxifahrer, der – selbstverständlich nur so dahin gesagt – gern ein paar Tschuschen überfahren würde, um das Fremdarbeiterproblem auf seine Weise zu lösen? Wer spricht davon, dass meinen iranischen Freunden in Wiener Gemüsegeschäften grundsätzlich verdorbene Waren angedreht werden, dass Beamte des Arbeitsamtes Gastarbeiter, die sich mit den Formularen nicht so auskennen, nicht in die Kartei aufnehmen, sondern die schlecht...

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