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Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes

Erster Theil

AutorMoses Mendelssohn
VerlagHenricus - Edition Deutsche Klassik
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl172 Seiten
ISBN9783847813385
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,49 EUR
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. In Gemeinschaft mit F. Bamberger, H. Borodianski, S. Rawidowicz, B. Strauss, L. Strauss herausgegeben von I. Elbogen, J. Guttmann, E. Mittwoch. Fortgesetzt von Alexander Altmann, Berlin: Akademie-Verlag, 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart - Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog)]. Erstdruck: Berlin (Christian Friedrich Voß) 1785. Der geplante zweite Teil der »Vorlesungen« kam nicht mehr zustande.

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Leseprobe

Vorerkenntniß von Wahrheit,


Schein und Irrthum

I.

Was ist Wahrheit?

Indem wir ausgehen, um Wahrheit zu suchen, meine Lieben! so nehmen wir an, daß Wahrheit zu finden sey, und daß es sichere Merkmale gebe, sie von Unwahrheit zu unterscheiden. Wir haben uns also vorläufig die Fragen zu beantworten: 1) Was ist Wahrheit? 2) An welchen Merkmalen wollen wir sie erkennen und von Schein und Irrthum unterscheiden?

Wer nicht anders spricht, als er denkt, der redet die Wahrheit. Wahrheit im Reden ist also Uebereinstimmung zwischen Worten und Gedanken, zwischen Zeichen und bezeichneter Sache. Da sich unsre Gedanken zu ihren Gegenständen gewissermaaßen eben so verhalten, wie Zeichen zum Bezeichneten; so haben einige diese Erklärung allgemein machen, und das Wesen der Wahrheit in die Uebereinstimmung zwischen Worten, Begriff und Sachen setzen wollen. Alle mögliche und würkliche Dinge, haben sie gesagt, sind gleichsam die Urbilder; unsre Begriffe und Gedanken die Abbildungen derselben; und die Worte wie die Schattenrisse der Gedanken. Wenn die Abbildung nichts mehr und nichts weniger enthält, als dem Vorbilde zukömmt, und der Schattenriß richtig andeutet, was in der Abbildung enthalten ist, so ist zwischen allen dreyen die vollständigste Uebereinstimmung, und diese nennen wir Wahrheit.

Ist schon diese Erklärung nicht unrichtig, so scheint sie doch nicht fruchtbar zu seyn. Wenn Wahrheit Uebereinstimmung ist; so ist Unwahrheit, Mißstimmung. Also ist Unwahrheit in Gedanken, Mißhelligkeit der Gedanken unter sich, oder mit ihren Urbildern, mit den Gegenständen, denen sie zukommen. Nun giebt es kein Mittel, die Gedanken mit ihren Gegenständen, d.i. die Nachbilder mit ihren Urbildern zu vergleichen. Wir haben blos die Nachbilder vor uns, und können einzig und allein vermittelst derselben von den Urbildern urtheilen. Wer sagt uns, ob diese Nachbilder treu sind, ob sie nicht mehr oder weniger enthalten, als ihren Urbildern in der That zukömmt, ob es überall Urbilder giebt, denen sie gleichen? Man sieht also, daß uns von dieser Seite wenigstens keine Merkmale angegeben werden, die Wahrheit zu erkennen und von Unwahrheit zu unterscheiden: lasset uns einen andren Weg versuchen.

In Absicht auf die Wahrheit im Sprechen, können wir es bei der vorigen Erklärung bewenden lassen. Wir haben es in unsrer Gewalt, die Worte mit den Ge danken zu vergleichen und zu sehen, in wie weit sie übereinstimmen. Die Gedanken selbst können von zwey verschiedenen Seiten betrachtet werden. Sie gehen entweder das Denkbare und nicht Denkbare, oder das Würkliche und nicht Würkliche an. Zuerst also von den Gedanken, in so weit sie denkbar oder nicht denkbar sind. Diese zerfallen abermals in 1) Begriffe, 2) Urtheile, 3) Schlüsse. Die Begriffe sind wahr, wenn sie Merkmale enthalten, die sich einander nicht aufheben, die also zugleich denkbar sind. Der Begriff eines Zirkels ist wahr; denn die Merkmale, die davon angegeben werden sind einander nicht widersprechend. So ist der Begriff des Zweifels z.B. ein wahrer Begriff, in so weit einem eingeschränkten Wesen die Wahrheitsgründe fehlen können, einen Satz mehr zu bejahen als zu verneinen. Der Begriff von der Gerechtigkeit, ja von der allervollkommensten Gerechtigkeit, ist ein wahrer Begriff; in so weit alle Merkmale, die in demselben zusammengenommen werden, sich einander nicht aufheben und also zugleich denkbar sind. Die allergrößeste Geschwindigkeit aber ist ein falscher Begriff; denn der allergrößeste Raum und die allerkleinste Zeit, die hier zusammengenommen werden, lassen weder einzeln, noch in der Verbindung, sich denken. Eben also sind die Begriffe von der allerhöchsten Ungerechtigkeit, von einer absoluten Tiefe oder Höhe, von einer Begierde nach dem Bösen als Bösem u. dgl. m. falsche Begriffe; indem wir einsehn können, daß in den Worten Merkmale zusammengenommen werden, die sich in den Begriffen widersprechen, und also zusammen nicht denkbar sind.

In den Urtheilen werden blos von dem Subjecte die Merkmale einzeln ausgesagt, die in dem Totalbegriff desselben enthalten sind. Urtheile also sind wahr, wenn sie von den Begriffen der Subjecte keine andre Merkmale aussagen, als die in denselben statt finden. Wahrheit in Urtheilen sowohl als in Begriffen kann also abermals in die Uebereinstimmung der Merkmale gesetzt werden, die in einem Begriff zusammengedacht und einzeln von ihm ausgesagt werden.

Alle Vernunftschlüsse gründen sich auf eine richtige Zergliederung der Begriffe. Man kann sich den gesammten Innbegriff der menschlichen Erkenntniß unter dem Bilde eines Baumes vorstellen. Die äussern Spitzen desselben kommen in Sprößlingen zusammen, diese vereinigen sich in Zweigen, die Zweige in Aesten, und die Aeste treffen endlich in einen Stamm zusammen. Man setze, daß die Fasern des Stammes durch alle Aeste, Zweige und Sprößlinge, so wie die Fasern der Aeste und Zweige durch alle Unterabtheilungen durchlaufen; daß sie aber bey jeder niedern Abtheilung solche Fasern aufnehmen, die sie in ihrer Abstammung nicht gehabt; so hat man ein sehr treffendes Bild von der Verwandschaft unsrer Begriffe. Alle einzelne Dinge kommen in verschiedene Arten, die Arten in Geschlechter, die Geschlechter in Classen zusammen, und die Classen vereinigen sich zuletzt in einem einzigen Stammbegriff, dessen Merkmale sie alle durchlaufen. Was von einem höhern Begriffe ausgesagt wird, muß auch allen niedrigem Begriffen zukommen; was aber von niedrigem Begriffen, als ihnen eigenthümlich, behauptet wird, kann nur einer Abtheilung des höhern Begriffs, nicht allen, mit gleichem Rechte zugeschrieben werden. Hierauf beruhet alle Bündigkeit unsrer Vernunftschlüße. Die Merkmale des Stammes kommen auch allen Aesten, die Merkmale der Aeste allen Zweigen zu, die aus ihnen entspringen: und so fort bis auf die äußersten Spitzen oder die einzelnen Dinge. Rückwärts hingegen können die eigenthümlichen Merkmale der Zweige nur einer Abtheilung des Astes; so wie die eigenthümlichen Merkmale des Astes nur einem Theile des allgemeinen Stammes zugeschrieben werden.

Die Wahrheit der Vernunftschlüsse bestehet also nicht weniger in der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, gewisse Begriffe und Merkmale in Gedanken zu vereinigen. In so weit also unsre Gedanken als denkbar oder nicht denkbar betrachtet werden, bestehet ihre Wahrheit in der Uebereinstimmung der Merkmale unter sich und mit den Folgen, die daraus gezogen werden. Alle menschliche Erkenntnisse, die, so wie die Mathematik und Logik, blos das Denkbare und nicht Denkbare angehen, erhalten also ihre Gewißheit durch den Satz des Widerspruches, der den höchsten Grad der Evidenz mit sich führet. In den strengen Beweisarten zergliedern wir blos die Begriffe, verfolgen die Merkmale des Stammes, durch alle Aeste und Zweige, vergleichen die gemeinschaftlichen mit den eigenthümlichen Merkmalen, und überzeugen uns dadurch von ihrer Denkbarkeit oder Nicht Denkbarkeit.

Alle Erkenntniß dieser Art, in so weit sie das Denkbare und Nicht Denkbare angehet, ist eine Folge von dem richtigen Gebrauch der Vernunft. Nur Mangel der Vernunft oder unrichtiger Gebrauch derselben kann uns auf Unwahrheit verleiten und das Denkbare mit dem Undenkbaren verwechseln lassen. Ferner haben die Wahrheiten, die zu dieser Gattung gehören, das gemeinschaftliche Kennzeichen, daß sie nothwendig und unveränderlich sind, und also von keiner Zeit abhängen. Bey ihnen läßt sich weder ein war, noch ein wird seyn anbringen. Alles ist, oder ist nicht. Begriffe, die sich mit einander vertragen, hören es nie auf zu thun; und die sich einander fliehen, sind nimmermehr in Verbindung zu bringen.

So nothwendig und unveränderlich aber diese Wahrheiten auch an und für sich selbst sind; so werden wir doch gewahr, daß sie uns nicht immer mit gleicher Lebhaftigkeit beywohnen. Ihre Anwesenheit in uns ist an die Zeit gebunden, ist der Veränderung unterworfen. Wir hatten die Begriffe nicht, sie entstunden, und es kömmt eine Zeit, in welcher sie vielleicht wieder verschwinden können. Sie sind Abänderungen unsers denkenden Wesens, denen als solche eine ideale Würklichkeit zugeschrieben werden kann. Sie sind aber, so wie wir selbst, das Subject dieser Abänderung, nicht nothwendige, sondern zufällige und veränderliche Wesen; sie sind nothwendig denkbar, werden aber nicht von uns nothwendig gedacht; so wie wir selbst unveränderlich denkbare, aber nicht unveränderliche würkliche Wesen sind. Die Sphäre des Würklichen ist also enger eingeschränkt als die Sphäre des Denkbaren; alles Würkliche muß denkbar seyn, aber sehr vieles wird gedacht werden können, dem nie eine Würklichkeit zukommen wird. Die Quelle des Würklichen ist also nicht der Satz des Widerspruches; nicht alles, was sich nicht widerspricht und also denkbar ist, hat deswegen gegründeten Anspruch auf die Würklichkeit; und wir haben einen andern Grundsatz aufzusuchen, der die Gränzlinie des Würklichen und nicht Würklichen mit eben der Bestimmtheit angebe, mit welcher der Satz des Widerspruches das Denkbare vom Nicht Denkbaren unterscheidet.

Lasset uns sehen, wie wir zur Idee des Würklichen gelangen, und mit welchem Grunde wir von manchen Dingen überführt sind oder überführt zu seyn glauben, daß sie Würklichkeit haben. Der Mensch ist sich selbst die erste Quelle seines Wissens; er muß also von sich selbst ausgehen, wenn er sich von dem, was er weiß, und was er nicht weiß, Rechenschaft geben will.

Das erste, von dessen Würklichkeit ich überführt bin, sind meine Gedanken und Vorstellungen. Ich schreibe ihnen eine ideale Würklichkeit zu, in so weit sie meinem Innern beywohnen, und als Abänderungen meines Denkvermögens von mir wahrgenommen werden. Jede...

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