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MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Ralph Vaughan Williams

Verlagedition text + kritik
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl218 Seiten
ISBN9783869167145
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Sicherlich, es gibt klangliche Konstanten in der Tonsprache Vaughan Williams'. Dazu zählen nicht zuletzt die 'tudor tunes', womit der Gebrauch modaler Skalen aus der Musik der englischen Renaissance, hauptsächlich der Volks- und Kirchenmusik, gemeint sein soll, oder die Verwendung einer spätromantischen Harmonik, die bewusst auf eine allgemeine Verständlichkeit von Musik abhebt, die im humanistischen Sinne Vaughan Williams' nicht im elitären Geist geschaffen sein sollte. Es wäre allerdings reichlich verfehlt, den Kompositionsstil Vaughan Williams' über einzelne Stilmerkmale identifizieren zu wollen, anstatt auf das Ganze seines musikalischen Ausdrucks zu gehen. Deshalb kommen im Sonderband nicht nur die bekannten und beliebten Sinfonien Vaughan Williams' zu Sprache, sondern darüber hinaus auch seine weitere Instrumentalmusik, Kammermusik und Lieder sowie seine Chor- und Sakralmusik, seine Opern, vor allem 'The Pilgrim's Progress', und nicht zuletzt auch seine Bühnen- und Filmmusik - also das breite Spektrum einer Musik, die es verdient, im deutschsprachigen Raum noch weiter bekannt gemacht zu werden. Der Sonderband kann damit als eine Art Handbuch dienen.

Ralph Vaughan Williams (1872-1958) hat im Laufe seines langen Lebens ein ebenso umfangreiches wie vielfältiges ?uvre geschaffen, das sich gewiss nicht auf einen einzigen 'britischen' Nenner bringen lässt.

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Leseprobe

Florian Csizmadia

Ozean, Stadt und Land


Die ersten drei Sinfonien von Vaughan Williams

Als am 12. Oktober 1910, Ralph Vaughan Williams’ 38. Geburtstag, beim Leeds Festival A Sea Symphony uraufgeführt wurde,1 war sie das bis dahin mit Abstand größte Werk eines Komponisten, der zuvor vornehmlich durch Lieder, Volksliedbearbeitungen, Kammermusik und die Herausgabe des Gesangbuchs The English Hymnal (1906) bekannt geworden war.

Es scheint, als habe sich Vaughan Williams nicht nur – ähnlich wie César Franck, Johannes Brahms oder Edward Elgar – mit der Komposition seiner ersten Sinfonie schwergetan, sondern generell mit Orchesterwerken: Der Sea Symphony gehen nicht weniger als 13 zumeist kürzere Orchesterwerke voraus,2 von denen aber nur zwei veröffentlicht wurden: In the Fen Country: Symphonic Impression (1904, UA 1909) und die Norfolk Rhapsody Nr. 1 (1906).

Mit letztgenanntem Werk ist der erste bekannte Versuch Vaughan Williams’ verbunden, eine Sinfonie vorzulegen: Einem Bericht von Edwin Evans aus dem Jahr 1920 zufolge hatte Vaughan Williams geplant, die drei separat entstandenen Norfolk Rhapsodies zu einer Art »Volkslied-Sinfonie« zusammenzustellen.3 Die erste Rhapsodie hätte dabei Einleitung und 1. Satz gebildet, die zweite (1907) sollte langsamen Satz und Scherzo kombinieren, die dritte (1907) schließlich wäre ein Geschwindmarsch als Finale gewesen.4 Vaughan Williams scheint aber früh von diesem Vorhaben abgerückt zu sein: Eine kombinierte Aufführung scheint nicht nachweisbar, und bei der Uraufführung von Nr. 2 und 3 wurde nachweislich Nr. 1 nicht gespielt.5

Dass Vaughan Williams einer der bedeutendsten europäischen Sinfoniker des 20. Jahrhunderts und mit insgesamt neun Sinfonien auch quantitativ ein wichtiger Beiträger der Gattung werden sollte, war also keineswegs vorgezeichnet, und es nimmt vielleicht nicht Wunder, dass der selbstkritische Komponist über einen Umweg zur Sinfonie fand: die Chorsinfonik.

I A Sea Symphony


Chormusik nimmt im England des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, also dem viktorianischen und edwardianischen Zeitalter, eine herausgehobene Position ein. Insbesondere die großen Chorfestivals unter anderem in Birmingham, Norwich und Leeds waren Heimstätte der Pflege chorsinfonischer Musik und gleichzeitig eine Plattform, auf der sich britische Komponisten mit Novitäten präsentieren und sich einen Namen machen konnten.6

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand im 19. Jahrhundert das geistliche Oratorium, das aber zunehmend aus der Mode kam.7 Die Tendenz ging in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts hin zu Werken, die sich inhaltlich vom traditionellen (Bibel-)Oratorium unterscheiden, dabei aber dennoch eine spirituelle Dimension haben. Im Zentrum standen nun nicht mehr Episoden aus der Bibel, sondern weltanschauliche, philosophische und heterodoxe Ideen. Aus diesem heute weitgehend vergessenen Zweig der englischen Chorsinfonik sind insbesondere die zwischen 1898 und 1908 entstandenen sieben ›ethischen‹ Werke von Hubert Parry zu erwähnen.8 In der musikalischen Gestaltung ist hier ein Hang zu sinfonischer Konzeption erkennbar, nicht nur durch eine größere Prominenz des Orchesters, sondern besonders auch durch die zyklische Organisation und die Arbeit mit sinfonisch verarbeiteten Motiven. Hieraus resultieren formal eigenwillige Werke, denen traditionelle Gattungsbezeichnungen nicht mehr gerecht werden, sodass in einigen Fällen der Versuch unternommen wurde, die sinfonische Organisation (und mit Sicherheit auch den Anspruch) mit entsprechenden Untertiteln zu betonen, so zum Beispiel Symphonic Ode,9 Sinfonia sacra,10 Sacred Symphony,11 Symphonic Poem12 oder Symphonic Cantata.13

Vaughan Williams’ A Sea Symphony ist deutlich dieser Entwicklungslinie verpflichtet: Sie ist als Vokalsinfonie für Sopran, Bariton, Chor und Orchester angelegt, deren Textgrundlage aus der Gedichtsammlung Leaves of Grass des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819–92) kompiliert ist.14 Die Verse sind dabei so ausgewählt und zusammengestellt, dass eine metaphysische, spirituelle Dimension entsteht, wobei stellenweise (insbesondere im 1. und 3. Satz) durchaus eine gewisse Ambiguität festzustellen ist: Zunächst ist das Meer ein beliebtes Thema in der Kulturgeschichte einer Seefahrernation, und ein Teil des Textes kann als Hommage an die Schönheit, aber auch Unergründlichkeit des Ozeans verstanden werden. Dann allerdings sind weite Teile des Textes metaphorisch zu verstehen: Das Meer, die Seefahrer und im 4. Satz die titelgebenden Erkunder stehen für die menschliche Seele, die Pilgerreise des Menschen auf Erden und die Suche nach einer Lösung für die Geheimnisse des Universums. Die Textgestaltung legt nahe, dass es vor allem der 4. Satz ist, der den metaphorischen Gehalt stark betont und dadurch das Gesamtwerk aus der Retrospektive deutbar macht.

Die Thematik war nicht von ungefähr gewählt, sondern stand – genau wie bei Parrys ›ethischen‹ Werken – in engem Zusammenhang mit Vaughan Williams’ eigener Weltanschauung, die von einem humanistischen Agnostizismus geprägt war, der gleichwohl religiöse Untertöne nicht ausschloss (und deshalb auch als ›christlicher Agnostizismus‹ bezeichnet wurde).15 Dies wird auch erwähnt vor dem Hintergrund, dass sich das Motiv der Suche und Pilgerreise durch weite Teile von Vaughan Williams’ übrigem Schaffen zieht: Die ein gutes halbes Jahrhundert währende Beschäftigung mit John Bunyans Allegorie The Pilgrim’s Progress (1678) zeitigte mehrere Werke, und aus dem Umfeld der Sea Symphony stammt das thematisch mit ihr eng verwandte und ebenfalls auf Whitman basierende Chorwerk Toward the Unknown Region (1907).

In der musikalischen Umsetzung griff Vaughan Williams auf das Modell der viersätzigen Sinfonie zurück. Sein formales Konzept unterscheidet sich durchaus signifikant von den genannten Chorwerken Parrys, aber auch von anderen Chorsinfonien: Anders als in vielen Sinfonien, die den Chor nur für einzelne Sätze heranziehen (bevorzugt das Finale),16 ist der Chor bei Vaughan Williams durchgehend eingesetzt. Zudem ist im Gegensatz zu vielen sinfonisch gestalteten Chorwerken, die formal freier, kantatenähnlicher angelegt sind,17 in Vaughan Williams’ vier Sätzen das klassische Formschema zumindest ansatzweise erkennbar,18 auch wenn das Resultat kontrovers beurteilt wurde. So bezeichneten verschiedene Kommentatoren das Werk als »mitnichten eine Sinfonie im klassischen Sinne, sondern eher eine Chorfantasie«19 oder ein »sinfonisches Oratorium«20 bzw. »weniger eine Sinfonie, als eine weltliche Kantate in der viersätzigen Form einer Sinfonie«21.

Am ehesten folgen die beiden Mittelsätze orthodoxen Formschemata. Der 2. Satz (»On the Beach at Night alone«) ist ein Nocturne in A – B – A-Form als Meditation am nächtlichen Meeresufer über die Suche nach dem »Schlüssel zum Universum«. Der 3. Satz (»The Waves«) ist ein virtuoses Scherzo und der einzige Satz, der wohl nicht metaphorisch gemeint ist, sondern als pittoreskes, tonmalerisches Intermezzo aufgefasst werden kann.

Formal freier angelegt sind hingegen die Rahmensätze: Der 1. Satz (»A Song for all Seas, all Ships«) kann als modifizierte Sonatenhauptsatzform gedeutet werden.22 Er beginnt mit einem unerhörten Kunstgriff: einer zweitaktigen Fanfare von Hörnern und Trompeten in b-Moll, die sich im vierten Takt nach D-Dur, der Haupttonart des Satzes, auflöst. Er wurde gedeutet als Ausdruck für die Dichotomie zwischen Natur und Mensch,23 kann aber auch verstanden werden als Imagination der eruptiven Gewalt des Ozeans. Es folgt das eigentliche Hauptthema, das, ebenso wie die Arpeggien und Arabesken der Begleitung, geradezu grafisch das Wogen des Ozeans darstellt. Eine zweite thematische Idee – eine Shanty-ähnliche Passage bei »Today a rude brief recitative« – ist für die spätere Durchführung von Wichtigkeit, während eine schlichte, hymnische Melodie bei »And out of these a chant for the sailors« (scheinbar das Gesangsthema) episodisch bleibt und nicht wiederkehrt.

Die Fanfare des Beginns leitet die Durchführung ein, die mit dem Einsatz des Solo-Soprans beginnt. Auf die Verarbeitung zunächst des zweiten, dann des ersten Themas (Letzteres bei Molto tranquillo mit einem deutlichen Anklang an Elgar) folgt bei »Token of all brave captains« neues motivisches Material. Eine ausgedehnte Steigerung über einem Orgelpunkt (ab Animato vor Buchstabe Aa) führt zu einer stark verkürzten Reprise (Tempo del principio) mit einer kurzen Coda, die den Satz leise ausklingen lässt (wiederum stark an Elgar erinnernd, hier konkret an das Ende des ersten Teils von The Dream of Gerontius). Dass die übrigen Themen nicht wiederaufgenommen werden, verstärkt den Eindruck formaler Freiheit, lag aber mit Sicherheit an der literarischen Vorlage, die zumindest ohne retardierende Textwiederholungen keine wörtliche musikalische Reprise zugelassen hätte. Hier darf das Werk nicht exklusiv unter sinfonischen Aspekten betrachtet werden.

Dasselbe gilt auch für den 4. Satz (»The Explorers«), der als Reihungsform angelegt ist und Reminiszenzen an den 1. Satz enthält. Die gewaltige Textmenge hat zu einer großen Länge geführt: Es handelt sich um den mit Abstand längsten...

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