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Musik und Inklusion

Zu den Widersprüchen inklusiver Musikproduktion in der Sozialen Arbeit

AutorPeter Tiedeken
VerlagBeltz Juventa
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783779949336
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis45,99 EUR
Spätestens seit Ratifizierung der UN-BRK stehen auch musikpädagogische Angebote der Sozialen Arbeit vor der Herausforderung Inklusion zu verwirklichen. Weitgehend unerforscht sind bislang die konkreten Verwirklichungsbedingungen und Hindernisse inklusiver Praxen. Am Beispiel der 1988 gegründeten Hamburger Musikgruppe 'Station 17', wird untersucht, welche Ziele bei der inklusiven musikpädagogischen Arbeit verfolgt werden. Mit welchen Problemen sind die Musiker*innen in der Praxis konfrontiert und welche Handlungsstrategien haben sie zu deren Bewältigung entwickelt? Ein Fokus liegt dabei auf der Erarbeitung von Widersprüchen der Theoriebildung und pädagogischen Praxis, die sich aus einem inklusiven Transformationsanspruch bei gleichzeitiger Affirmation gesellschaftlicher Machtstrukturen ergeben.

Peter Tiedeken, seit 2016 Vertretungsprofessur fu?r Ästhetik und Kommunikation mit dem Schwerpunkt Kultur und Musik an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung.

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Leseprobe

2 Grundlagen der Systemtheorie und des Konstruktivismus


Systemisch-konstruktivistische Ansätze sind in nahezu allen wissenschaftlichen Bereichen verbreitet, z. B. der Philosophie, Psychologie, Biologie, Mathematik und Neurologie (einen Überblick dazu liefert Jensen 2013). In den pädagogischen Diskursen werden vor allem der radikale Konstruktivismus (Reich 2010, Siebert 2005, Lindemann 2006) und die Luhmannsche Systemtheorie (Kleve 2007, Merten 2004, Miller 1999) rezipiert. Auch der Inklusionsdiskurs greift systemisch-konstruktivistische Theorien und Annahmen auf, um diese für sich fruchtbar zu machen. Anken (2010, 163) zeigt „eine relative Nähe, eine Art Verwandtschaftsbeziehung“ zwischen Inklusion und systemisch-konstruktivistischen Ansätzen auf, weil der mit dem Konstruktivismus verbundene Verzicht auf Gewissheiten eine notwendige Bedingung für einen anerkennenden und inklusiven Umgang mit menschlicher Heterogenität sei. Inklusion sei mit einem absoluten Wahrheitsanspruch nicht vereinbar und deshalb der Toleranz gegenüber anders wahrgenommenen Wirklichkeitskonstruktionen verpflichtet (vgl. ebd., S. 164). Aufgrund des engen Bezugs zum Inklusionsdiskurs werden im Folgenden die Grundlagen des radikalen Konstruktivismus und der Systemtheorie nach Luhmann erläutert und kritisch reflektiert.

2.1 Grundlagen und Widersprüche des Konstruktivismus


Der Begriff Konstruktivismus leitet sich ab vom lateinischen Ausdruck ‚Contruere‘ und bedeutet ‚formen‘, ‚herstellen‘ und ‚erzeugen‘. Unter anderem bezeichnet der Begriff eine Kunstform, die ihren Ursprung in der ehemaligen Sowjetunion hat. Populär geworden ist der Begriff jedoch als erkenntnistheoretische Strömung der modernen Philosophie im 20. Jahrhundert (vgl. Gloy 2006, S. 221). Mit dem ‚radikalen Konstruktivismus‘, dem ‚interaktionistischen Konstruktivismus‘ und dem ‚sozialen Konstruktivismus‘ haben sich unterschiedliche Strömungen des Konstruktivismus entwickelt, die sich jedoch im Hinblick auf ihre Grundannahmen ähnlich sind (vgl. Haan/Rülcker 2009, S. 7). Wesentlich beeinflusst wurde die konstruktivistische Erkenntnistheorie durch den 1970 erschienenen Aufsatz ‚Biology of Cognition‘ von Humberto R. Maturana. Der chilenische Neurobiologe plädiert dafür, den Prozess des Erkennens biologisch zu fassen, indem er den Erkennenden, also den Beobachter selbst, ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt, um ihn als Quelle allen Wissens zu bestimmen. Diese Kernaussage, die das Forschungsinteresse weg von dem Gehalt von Aussagen und Beobachtungen hin auf das formulierende bzw. beobachtende Subjekt lenkt, kennzeichnet noch heute die Leitformel konstruktivistischer Diskurse: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Maturana 1998, S. 25). Mit dieser Verschiebung der Forschungsfrage, wird der Prozess des Erkennens durch die Konstruktionen eines Beobachters zum Thema. Beobachtungen von Wirklichkeit werden dementsprechend in ihrer Abhängigkeit von den Erkenntnissen eines kognitiven Systems analysiert bzw. interpretiert (vgl. Baraldi et al. 1997, S. 101). Der Erkenntnisgegenstand des Beobachters wird dabei als existent unterstellt. Im Gegensatz zum Solipsismus, der davon ausgeht, dass außer dem konstruierenden Konstrukteur nichts wirklich sei, verweist der Konstruktivismus immer wieder auf eine erfahrbare soziale Wirklichkeit. Dies bestätigt auch Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Ernst von Glasersfeld, der als Mitbegründer der radikal-konstruktivistischen Erkenntnistheorie gilt: „Lassen Sie mich bei unseren Überlegungen noch einmal nachdrücklich betonen, dass der Konstruktivismus nie die Wirklichkeit – die ontische Wirklichkeit verneint oder verleugnet […]“ (Glasersfeld 1987, S. 422). Gleichzeitig konstatiert Glasersfeld jedoch auch, dass eine objektive Bestimmung dieser Wirklichkeit nicht möglich sei. Folglich, so Pongratz, bleiben alle Beobachter*innen mit ihren jeweiligen Wirklichkeitsfiktionen allein (vgl. Pongratz 2009, S. 57). Damit handelt sich der Konstruktivismus den Widerspruch ein, zwar von einer ontischen Wirklichkeit auszugehen, diese jedoch kategorisch als nicht erfassbar zu postulieren. Es gibt also in dieser Vorstellung eine objektive Wirklichkeit, über die sich jedoch nichts Objektives herausfinden lässt. Da das Erkannte strikt an den Erkennenden geknüpft ist, wird jeglicher Anspruch auf allgemeingültige Wahrheiten relativiert. Unbestreitbare Erkenntnisse über die ontologische Wirklichkeit können nicht erfasst werden. Sicherlich lässt sich dem Konstruktivismus insofern zustimmen, dass Erkenntnisse nur von einem Subjekt gemacht werden können. Aufgrund der immanenten Widersprüche geraten die strikt antirealistischen Grundpositionen des radikalen Konstruktivismus allerdings ins Wanken.

2.1.1 Viabilität statt Wahrheit


Einen konkreten Bezug zur sozialen Wirklichkeit stellt der Konstruktivismus mit dem Viabilitätskonzept her. Als Teil der konstruktivistischen Theoriebildung soll Viabilität den Wahrheitsbegriff ersetzen. Das Viabilitätskonzept geht davon aus, dass Erkenntnisse über die Wirklichkeit dem Individuum dazu dienen, seine Lebensfähigkeit zu erhalten bzw. zu verbessern. „Begriffe, Theorien und kognitive Strukturen im Allgemeinen sind viabel bzw. überleben, solange sie uns mehr oder wenig zuverlässig zu dem verhelfen, was wir wollen“ (Glasersfeld 1987, S. 141). Demzufolge ist das Bewährte für das Individuum funktional, aber deshalb nicht mit einem Anspruch auf Wahrheit verbunden. Schließlich sind immer auch andere Wirklichkeitskonstruktionen denkbar, mit denen das Individuum seine Ziele erreichen kann. In pädagogischen Kontexten wird das Viabilitätskonzept aufgegriffen, um für Toleranz gegenüber den Wirklichkeitskonstruktionen anderer zu argumentieren: „Wir müssen tolerant werden und die Entscheidungen des anderen, wie er die Welt sehen will, respektieren; denn es sind keine objektiven Maßstäbe erkennbar, aus denen ich ableiten könnte, dass ich einen höheren Anspruch auf Wahrheit habe als andere“ (Rotthaus 1989, S. 12f.). In diesem Zusammenhang wird dafür plädiert, individuelle Wirklichkeitskonstruktionen als sinnvolle Lebensbewältigungsstrategien anzuerkennen. Problematisch am Viabilitätskonzept erscheint jedoch, dass jeder äußere Beurteilungsmaßstab aufgegeben werden muss. In letzter Konsequenz resultiert daraus „die unterschiedslose Akzeptanz von jedwedem Bezug des Einzelnen auf seine Umwelt, weil ja auch das, was dem Beobachter unsinnig oder gar schädlich erscheint, als für die innere Stabilität nützliche Pertubation angesehen werden muss“ (Hagen 2001, S. 43). Die konstruktivistische Forderung nach absoluter Toleranz gegenüber viablen Wirklichkeitskonstruktionen ist daher als „unhaltbare Aufforderung zur Wertungswillkür“ (Nüse et al. 1991, S. 303) zu kritisieren.

2.1.2 Funktionalität statt Analyse


Wenn für eine Erkenntnis entscheidend ist, ob sie dem Subjekt beim Zurechtkommen in der Wirklichkeit dient, ersetzt dieser funktionelle Gesichtspunkt eine analytische Haltung gegenüber der Lebenswirklichkeit. Solange das Individuum mit einer Erkenntnis bzw. Einbildung nicht scheitert, kann es an jeder beliebigen Konstruktion festhalten. Huisken greift diesen problematischen Aspekt einer derart radikalen Versubjektivierung auf, indem er die mit dem Viabilitätskonzept verbundene Individualisierung der Lebensbewältigung auf das Beispiel Arbeitslosigkeit bezieht:

„Hat z. B. einer ein Problem damit, arbeitslos zu sein, so wird ihm statt Beseitigung der Gründe für seine Lage Abhilfe durch eine andere Sicht empfohlen: dieser Lage lässt sich doch z. B. als Auszeit für eine Neubesinnung auf eine andere Lebensgestaltung doch auch etwas Positives abgewinnen“ (Huisken 2011, o.S.).

Konstruktivistische Erkenntnistheorien gehen davon aus, dass das Subjekt zu seiner Lage ein sinnsuchendes Verhältnis einnimmt. Damit wird das menschliche Denken beschränkt auf die Konstruktion von Passungsverhältnissen zwischen Mensch und Umwelt, die allein vom Individuum zu leisten ist.

2.2 Grundlagen der Systemtheorie


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