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E-Book

Mutanfall

Mein Leben ohne Ernst

AutorFranziska K. Müller, Lisa Marti
VerlagWörterseh Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783037635582
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
In ihrem Buch 'Mutanfall' blickt die Glarnerin Lisa Marti auf ein Leben zurück, das spannender und tragischer, letztlich aber auch optimistischer und zufriedener nicht sein könnte. Unterstützt von der Ghostwriterin Franziska K. Müller, erzählt sie von ihrem immensen Verlust, als ihr Mann Ernst spurlos verschwindet, von großer Einsamkeit, tiefster Verzweiflung und einer bis heute brennenden Ungewissheit über seinen Verbleib. Sie erzählt aber auch von einem dunklen Kapitel Schweizer Geschichte, das sie am eigenen Leib erfahren musste - dem Verdingkindwesen. Und davon, wie sie zum Leben zurückfand. Lisa Martis heutiger Zufriedenheit und Strahlkraft liegt eine Selbstbefreiung zugrunde, die für eine Frau ihrer Generation nicht selbstverständlich ist. Lisas Geschichte berührt und wühlt auf und - sie macht Mut. Mut, sich seinem Schicksal zu stellen. Mut, weiterzumachen. Mut, erneut glücklich zu werden.

Lisa Marti, geb. 1933, wuchs im Emmental auf. Als sie vier Jahre alt war, starb ihr Vater. Vom reichen Großvater verstoßen, wurde sie verdingt. Die Jahre bis zu ihrer Volljährigkeit waren geprägt von Schmerz, Einsamkeit und der Entschlossenheit, später ein freies und großzügiges Leben führen zu wollen. 23-jährig heiratete sie Ernst und wurde Mutter von drei Kindern. Als ihr Mann in einer Winternacht 1975 spurlos verschwand und später für tot erklärt wurde, stand sie vor dem Nichts und rappelte sich - ganz Lisa - wieder auf. Mutig begann sie ihre Träume zu realisieren. Aus der ehemaligen Magd wurde eine erfolgreiche Unternehmerin, aus der braven Glarner Hausfrau eine weit gereiste Abenteurerin, die bei der Königsfamilie von Bhutan ein- und ausgeht, unzählige Hilfsprojekte unterstützt und Berggipfel erstürmt. Lisa fand den Mut, sich nochmals zu verlieben. In einen viel jüngeren Fremdenlegionär. Aber Ernst vergaß sie nie. Er bleibt, wie sie heute sagt, spürbar vorhanden.

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Leseprobe

Schwimmen lernen


Ich lief den Weg zurück, den ich mit meiner Mutter vor zwölf Jahren gegangen war, stand auf einer fremden Straße und gelangte zum Bahnhof. Die Zugreise war ein Abenteuer, von dem ich nicht genau wusste, wie es funktionierte, jedoch, wohin es mich führen würde: ins Welschland. Auf den nächsten Hof. Dort hatte ich mir einen einjährigen Aufenthalt organisiert. Der Genfersee lag als kaltblaue Eisenplatte vor mir, die bald berglose und blasse Weite riesiger Ackerbauflächen irritierte mich, ebenso wie ein elegant gekleideter Herr, der im Abteil saß, eine Zigarette rauchte, die er einer silbernen Schachtel mit eingraviertem Monogramm entnahm, und mich mit »Mademoiselle« ansprach. Ich blickte wortlos und ohne Zeitgefühl in die fremde Landschaft, stieg in den frühen Abendstunden aus und gelangte nach einem längeren Fußmarsch zu einem gedehnten Gebäude mit modernen Stallungen. Mein neues Zuhause. Ich war für den umfangreichen Haushalt zuständig und wurde im Spätherbst den Erntearbeiten in den Weinbergen zugeteilt. Die anderen Arbeiter beklagten während der Pflückarbeit im Schatten blättriger Reben die Hitze und die langen Arbeitsstunden, die schmerzenden Knochen, den kargen Lohn.

Ich wusste zwar nicht, was Ferien sind, aber die Monate in der französischen Schweiz kamen mir unbeschwert und geruhsam vor. Genau genommen, herrschten paradiesische Zustände: Ich verdiente fünfzig Franken pro Monat, hatte am Abend und an den Wochenenden freie Stunden zur Verfügung, musste keine Schläge und Bösartigkeiten fürchten. Das Leben war unerwartet schön und verheißungsvoll. In meiner mitgebrachten Sparbüchse klimperten die von meinem Patenonkel geschickten weihnachtlichen Fünfliber, die ich jahrelang gespart hatte, und so beschloss ich bereits am ersten Sonntag einen Ausflug nach Morges.

Elegante Stadthäuser reihten sich aneinander, sogar das Kopfsteinpflaster war sauber, hin und wieder fuhr ein glänzendes Automobil an mir vorbei, dem auch die flanierenden Passanten nachblickten. Die Frauen trugen Glockenröcke, ondulierte Frisuren, rote Lippen und spitzes Schuhwerk. Lachend hakten sie sich bei jungen Männern ein, an denen alles schmal und blass schien: Anzüge, Schuhe, Silhouette, Gesichtszüge. Aus einer schweigsamen bäuerischen Welt stammend, in der bereits der Neuanstrich eines Fuhrwerkes als unanständige Eitelkeit galt, erschien mir das städtische Treiben unwirklich und exotisch. Die extrovertierte Lebensart ließ sich nicht deuten, ahnungslos und unbedarft, wusste ich nicht einmal, was mir an Erlebnissen zustehen könnte, und konkrete Wünsche hegte ich bis auf einen einzigen – schwimmen lernen – keine.

Den Blick ließ ich in den Auslagen der Schaufenster ruhen: Seidentücher in allen Farben. Bunte Plastikketten und Ringe. Sonnenbrillen. Elektrische Bügeleisen. Zwischen weichledrigen Pumps und purpurfarbenen Pantöffelchen entdeckte ich weiße Riemchensandaletten mit dünnen Sohlen. Ich entschied, meinen ersten Lohn in die exorbitant teuren Sommerschuhe zu investieren, die knapp fünfzig Franken kosteten.

Eine halbe Stunde später stand ich zum ersten Mal in meinem Leben in einer Konditorei: Puppenhausmobiliar und Porzellangeschirr. Spitzenpapier. Goldfarbene Schriftzüge. Geschliffene Spiegel. Das hübsche Verkaufspersonal trug gerüschte Halbschürzen und farblich assortierte Häubchen. In unserer Dorfbäckerei hatte es Frau Bolliger gegeben. Ein Küchentuch am massigen Leib befestigt, verkaufte sie drei verschiedene Sorten Brot, Paniermehl und für die Verschwendungssüchtigen mit Hagelzucker bestreute Buttertaler. Süßigkeiten buk oder kaufte die sparsame Hungerbühler nie. Die heimlich abgeschlagenen Zuckerstockspäne zergehen in meiner Erinnerung noch heute auf der Zunge, und einmal schüttelte ich heimlich zwei Zwanzig-Rappen-Stücke aus der Spardose und kaufte auf dem Schulweg acht Fünfer-Mocken. Obwohl ich mich bemühte, das erste Bonbon hastig fertig zu lutschen, musste ich bei der pünktlich erwarteten Rückkehr auf dem Hof den verbleibenden Rest in der Schürzentasche verbergen. Die Entdeckung dieses Geheimnisses führte zu einer bösen Tracht Prügel, aber in schlauer Voraussicht hatte ich die restlichen Süßigkeiten zuvor an verschiedenen Stellen im Garten vergraben. Und im Verlauf der Wochen hob ich die Schätze einen nach dem anderen wie ein Hamster und schob mir die feucht gewordenen Klebrigkeiten – samt der Erdkrümel, die sich nicht entfernen ließen – in den Mund. Daran dachte ich, als ich vor den eleganten Vitrinen der Confiserie stand. Mit Bändern und Blüten verzierte Torten lagen dort, puderzuckerbestäubte Gugelhupfe und karamellisierte Brühkugeln, die, zu Pyramiden geformt, aneinanderklebten.

Ich ließ mir von einer Deutsch sprechenden Mademoiselle alles erklären: aus Nussteig dressierte Vogelnestli, in der Mitte mit Himbeermarmelade gefüllt, geschlungene und glasierte Vanillebretzel, schachbrettartig gemustertes Teegebäck, Rosinentaler, Zimtschnecken und Schaumgebäck kosteten zehn Rappen. Marzipankartoffeln, Mohrenköpfe, Zitronentörtchen, Pistazienwürfel und rosarot verzuckerte Cremeschnitten zwanzig Rappen. Zehn teure Stücke wählte ich aus, ließ alles in einen Karton verpacken und mit einer Goldkordel verschnüren. Erhobenen Hauptes verließ ich das Geschäft, setzte mich an die abendliche Seepromenade, betrachtete das anlegende Dampfschiff und das blinkende Lichtermeer am gegenüberliegenden Ufer. Die glänzende Pracht beim Öffnen der Schachtel war ein unfassbar schönes Bild. Das süßsaure Zitronentörtchen und den apricotierten Mohrenkopf verschlang ich gierig in wenigen Bissen und ohne Scham. Weniger hastig biss ich in ein schokoladenüberzogenes Eclair. Leichte Übelkeit begleitete bereits den Verzehr einer quarkgefüllten Biskuitroulade, worauf ich in den verbleibenden Rest wahllos hineinbiss, nicht aufhören konnte, an die Mutter dachte, Zuckerguss abkratzte, Buttercreme ableckte, wie sie litt, wie sie fror und hungerte, dann die zerstörten Törtchen grob in die Schachtel zurückwarf – und förmlich spürbar drehte sich mein Magen um. Unter den empörten Blicken der Passanten ergoss sich ein nicht enden wollender Schwall vor ihre Füße. Beschämt, so wahnsinnig beschämt, schlich ich mich weg, doch bereits am nächsten Tag verzieh ich mir, wie ich auch anderen stets verzeihen konnte.

Für das exklusive Schuhwerk reichte das Geld nicht mehr. Erst von meinem zweiten Lohn kaufte ich die weißen Riemchensandaletten, von weiteren Ersparnissen im Haushaltsgeschäft von Morges eine Heizdecke für die Mutter. Decken, Kappen, schöne Wolljacken kamen im Verlauf der Jahre dazu. Ich schenkte ihr Wärme wie im Wahn und auch noch, als ihre Kammer längst mit einem Ofen ausgestattet war, sie nicht mehr im Mantel zu Bett gehen musste, die Schuhe nicht mehr am Boden anfroren. Nachdem ich und meine Brüder selbständig geworden waren, verbesserte sich ihre finanzielle Lage. Den kargen Lohn musste sie nicht mehr in Zugbillette und Schokoladentafeln investieren. Aber das Fehlen von allem war längst zu einem inneren Zustand geworden. Sie blieb weiterhin beim Bauer und akzeptierte die misslichen Zustände als dauerhaft und unabänderlich. Wo hätte sie hinsollen? Was unternehmen oder kaufen wollen? Das Wünschen und das Herbeisehnen waren ihr abhandengekommen, und ich bewundere meine starke und kluge Mutter für die tapfere Leistung, ohne Bitterkeit zu bleiben und mir später kommentarlos zuzugestehen, was ihr verwehrt geblieben ist: eine freie, abenteuerliche und selbstbestimmte Existenz.

Die Monate im Welschland hätten für mich vieles bedeuten können: Nachdenkzeit. Nichtstunzeit. Kameradinnenzeit. Beinahe pflichtbewusst holte ich nach, was ich an kindlichen Vergnügungen bei den Hungerbühlers verpasst hatte: Ich fuhr Karussell. Im Zoo ritt ich unter den erstaunten Blicken der Erwachsenen auf einem Pony. Es fühlte sich unrichtig an. Auch das unbeschwerte Leben eines jungen Mädchens wollte mir nicht recht gelingen. Einmal besuchte ich eine Tanzveranstaltung im Städtchen. Die anderen tranken Sangria, redeten gescheit und bewegten sich zu seltsamen Klängen. Die elegante Annäherung zwischen den Geschlechtern, das Kichern und Schäkern empfand ich als fremdartig. Alles und nichts war jetzt möglich, aber mein befreites Dasein war weder gesellig noch unbeschwert, sondern ratlos und leer.

Nach zwölf Monaten vernahm ich auf Umwegen, dass man im Krankenhaus Langnau eine Küchenhilfe suchte. Ich bewarb mich, erhielt die Stelle und ein Zimmer dazu, das sich im Schwesternhaus befand. Das Schälchen mit dem Vanillepudding musste neben dem umgekehrten Glas stehen, Gabel und Messer unter der Tellerkante liegen. Die Rollwagen hatten mit der immer gleichen Anzahl Tabletts beladen zu werden, dreimal pro Tag. Mein mutloses Leben fand im neonerleuchteten Untergrund statt, und meine Tätigkeit diente jenen, die sich in den oberen Stockwerken aufhielten. Die blass aussehenden Mahlzeiten wurden vom Pflegepersonal ausgeliefert. Es lief durch die nach Desinfektionsmittel riechenden Gänge, schenkte ungezuckerten Tee nach,...

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