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Mythologie der Griechen

Götter, Menschen und Heroen - Teil 1 und 2 in einem Band

AutorKarl Kerenyi
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl768 Seiten
ISBN9783608106725
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Eine »Mythologie für Erwachsene« nennt Karl Kerényi seine »Götter- und Menschheitsgeschichte«. Der berühmte Religionswissenschaftler fasst mit seiner Erzählung die griechische Mythologie zusammen und greift auf die Forschung des wissenschaftlich belegten Stoffes zurück. Kerényi erzählt lebendig, plastisch, anschaulich, zeitgemäß die Themen und Stoffe, die seit den Anfängen der Geschichte die Menschheit bestimmen. »Das Buch«, urteilt Erhart Kästner, »ist für jeden Freund der Antike, jeden jungen, aber auch jeden erfahrenen, geradezu ein Geschenk. Da geht zum ersten Male seit Schwab von einem griechischen Götterbuche nicht nur Gelehrsamkeit, sondern auch Heiterkeit aus. Mit einem Worte: das Werk eines Meisters, das man künftig zur Hand haben muss, um sich immer wieder an ihm zu erfrischen.«

Karl Kerényi ist einer der wichtigsten Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Geboren 1897 in Temesvár, gestorben 1973 bei Zürich, studierte klassische Philologie in Budapest und an verschiedenen deutschen Universitäten. Ab 1936 war er Professor für Religionswissenschaften in Pécs (Fünfkirchen), ab 1941 in Szeged. Er emigrierte 1943 in die Schweiz, wurde 1946/47 Gastprofessor in Basel und ab 1948 Forschungsleiter am C. G. Jung-Institut in Zürich.

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Leseprobe

II. TITANENGESCHICHTEN


Die Titanengeschichten handeln von Göttern, die einer so fernen Vergangenheit angehören, daß wir sie nur aus einer bestimmten Art von Erzählungen, in einer bestimmten Rolle, kennen. Der Name Titan, mit dem wir sie bezeichnen, ist am längsten an der Gottheit der Sonne haften geblieben und scheint ursprünglich der hohe Titel von Himmelsgöttern gewesen zu sein, doch von sehr alten, noch keinen Gesetzen unterworfenen, wilden Himmelsgöttern. Sie waren uns keine kultischen Gottheiten, mit der Ausnahme vielleicht von Kronos und – wenn wir auch den gebändigten, Gesetzen unterworfenen Sonnengott hierher rechnen – von Helios, die hie und da doch ihren Kult hatten. Die Titanen waren solche Götter, die nur in der Mythologie eine Rolle spielten. Ihre Rolle ist – selbst wenn scheinbare Siege dem endgültigen Schluß der Geschichten vorausgehen – immer die Rolle der Unterlegenen. Diese Unterlegenen trugen die Züge einer älteren männlichen Generation, Züge von Ahnen, deren gefährliche Eigenschaften in den Nachkommen wiederkehren. Wie sie waren, wird man in den folgenden Erzählungen hören.

1. URANOS, GAIA UND KRONOS


Uranos, der Himmelsgott, kam in der Nacht zu seiner Gattin, der Erde, der Göttin Gaia16. Die beiden lichten Kinder der Nacht und der Dunkelheit, Aither und Hemera, die bei Tag da waren, wurden schon genannt. Uranos kam allnächtlich zur Begattung. Aber die Kinder, die er mit Gaia zeugte, waren ihm von Anfang an verhaßt17. Sobald sie geboren wurden, pflegte er sie zu verbergen und ließ sie nicht zum Licht herauf. Er verbarg sie in der inneren Höhlung der Erde. An diesem bösen Werk – so wird bei Hesiod ausdrücklich gesagt – fand er seine Freude. Die riesige Göttin Gaia stöhnte und fühlte sich eng durch die innere Last. Auch sie erfand nun eine böse List. Schnell brachte sie den grauen Stahl hervor; daraus machte sie eine Sichel mit scharfen Zähnen und wandte sich an ihre Söhne.

Deren Zahl war damals schon groß. Hesiod nennt außer Okeanos: Koios, Krios, Hyperion, Iapetos und als jüngsten Kronos. Außer diesen sechs Brüdern waren sechs Schwestern da: Theia, Rhea, Themis, Mnemosyne, Phoibe mit dem goldenen Kranz und die liebliche Tethys. Zu ihren Kindern, aber hauptsächlich zu den Söhnen, sprach Gaia in ihrer Betrübnis: »Ach, meine Kinder, und Kinder auch eines verruchten Vaters, wollt ihr nicht auf mich hören und euren Vater für diese böse Mißhandlung bestrafen? Er war es, der eine schändliche Tat zuerst ersann!« Alle erschraken, und niemand tat den Mund auf. Nur der große Kronos, von krummen Gedanken, faßte Mut: »Mutter« – sagte er – »ich verspreche es und tue das Werk. Ich kümmere mich nicht um unseren Vater, verhaßten Namens. Er war es, der eine schändliche Tat zuerst ersann!« Da freute sich Gaia, versteckte ihren Sohn am Ort, der zum Hinterhalt geeignet war, gab ihm die Sichel in die Hand und weihte ihn ein in die ganze List. Als Uranos mit der Nacht kam und, zur Liebe entbrannt, die Erde umfaßte und sich ganz über sie legte, griff der Sohn aus dem Hinterhalt mit der Linken zu. Mit der Rechten nahm er die riesige Sichel, schnitt die Männlichkeit des Vaters schnell ab und warf sie hinter seinen Rücken.

Die Blutstropfen des Gatten fing Gaia auf. Sie gebar davon die Erinnyen – die »Starken« wie sie Hesiod bezeichnet –, die Giganten, und die Eschennymphen, die Nymphai Meliai, aus denen ein hartes Menschengeschlecht entstand. Die Männlichkeit des Vaters fiel in das Meer, und so wurde Aphrodite geboren: lauter Geschichten, die später erzählt werden sollen. Was Hesiod uns nicht erzählte, was aber wohl alle Hörer dieser Titanengeschichte sofort begreifen, sei noch ausgesprochen: seit der blutigen Tat des Kronos nähert sich der Himmel nicht mehr der Erde zu allnächtlicher Begattung. Die Urzeugung nahm ihr Ende, und es folgte die Herrschaft des Kronos. Das ist indessen eine andere Titanengeschichte.

2. KRONOS, RHEA UND ZEUS


Unter den aufgezählten zwölf Titanen und Titaninnen nahmen drei Brüder die eigene Schwester zur Frau, oder richtiger, drei Schwestern den Bruder zum Gatten. Hesiod nennt in diesen Fällen immer die Göttin an erster Stelle. So gebar18 die Titanin Theia dem Hyperion den Helios, die Sonne, Selene, den Mond, und Eos das Frühlicht. So wurde Phoibe durch Koios die Mutter eines hehren Göttergeschlechtes19, zu dem Göttinnen wie Leto, Artemis und Hekate und ein Gott, Apollon, gehören. Und so vermählte sich Rhea mit Kronos20, dem sie drei Töchter und drei Söhne gebar: die großen Göttinnen Hestia, Demeter und Hera und die großen Götter Hades, Poseidon und Zeus. Wie der Vater Kronos der jüngste Sohn des Uranos war, so war nach Hesiod, der vor der Herrschaft des Zeus die mütterliche Abstammung betont und hochhält, Zeus der jüngste Sohn der Rhea und des Kronos. Für jene, die die väterliche Abstammung höher schätzten, wie Homer, galt Zeus als der älteste Sohn des Kronos21. In der Erzählung der Titanengeschichten folgt man aber besser dem Hesiod als Homer, der, wie seine ganze Dichterschule, diese Art der Erzählung nicht liebte und nur selten und andeutungsweise auf sie Bezug nahm.

Alle seine Kinder verschlang der große Kronos, sobald eines aus dem heiligen Leib der Mutter zu ihren Knien kam22. Er war der König unter den Söhnen des Uranos, und er wünschte nicht, daß ein anderer Gott nach ihm in Besitz dieser Würde gelange. Er hatte von der Mutter Gaia und von seinem Vater, dem gestirnten Himmel, erfahren, daß es ihm bestimmt sei, durch einen starken Sohn gestürzt zu werden. Darum war er fortwährend auf der Hut und verschlang seine Kinder: ein unerträglicher Kummer für Rhea. Als sie nun im Begriff war, Zeus zu gebären, den künftigen Vater der Götter und Menschen, wandte sie sich an ihre Eltern, die Erde und den gestirnten Himmel, damit sie mit ihr einen guten Rat fänden, wie sie das Kind unbemerkt auf die Welt bringen und Rache nehmen könnte, des Vaters und der übrigen Kinder wegen, die der große Kronos, von krummen Gedanken, verschlungen hatte.

Gaia und Uranos erhörten die Tochter und verrieten ihr, welche Zukunft König Kronos und seinem Sohn beschieden sei. Die Eltern schickten Rhea nach Lyktos, auf der Insel Kreta. Dort fing Gaia den Neugeborenen auf. In dunkler Nacht brachte Rhea das Kind nach Lyktos und verbarg es in einer Höhle des bewaldeten Berges Aigaion. Dem Sohn des Uranos aber, dem ersten König der Götter, reichte sie einen großen Stein, in Windeln gewickelt. Der Schreckliche griff danach und legte den Stein in seinen Bauch, ohne zu merken, daß der Sohn, unbesiegt und unbekümmert um ihn, nur darauf wartete, den Vater zu stürzen, ihn seiner Würde zu berauben und an seiner Stelle zu herrschen. Schnell wuchsen die Glieder und der Mut jenes Herrschers – Hesiod nennt ihn nicht basileus, »König«, sondern anax, »Herr«, wie unsere Götter seit der neuen Herrschaft angeredet werden –, bis es nach Erfüllung der Zeit wirklich dazu kam, daß Kronos mit List und Kraft von Zeus besiegt wurde und seine verschlungenen Kinder von sich gab. Zeus befreite, außer seinen eigenen Brüdern, auch Brüder des Vaters, die noch von Uranos in Fesseln geschlagen worden sind: vor allem die Kyklopen. Diese schenkten ihm aus Dankbarkeit den Donner und den Blitz, die Zeichen und Mittel seiner Macht.

Mit Kronos blieb uns die Erinnerung an das Goldene Zeitalter verbunden. Sein Königtum fällt mit einer glücklichen Periode der Welt zusammen, deren Schilderung später folgen soll. Wie eng diese beiden zusammenhängen, zeigt die weitere Geschichte des Kronos, die uns andere Dichter ausführlicher erzählten als Hesiod. Im Goldenen Zeitalter floß Honig aus den Eichen. Die Anhänger des Orpheus wußten es so23, daß Kronos vom Honig berauscht schlief – noch gab es ja den Wein nicht –, als Zeus ihm die Fesseln anlegte. Er fesselte den Vater, um den alten Gott dorthin zu entrücken, wo Kronos – und mit ihm das Goldene Zeitalter – auch heute noch weilt: auf den Inseln der Seligen, am äußersten Rand der Erde. Dorthin nahm Zeus24 den Weg mit seinem Vater. Dort umwehen die Lüfte vom Okeanos her den Turm des Kronos. Dort ist er König, »der Gatte der Rhea, der zuhöchst über allen thronenden Göttin«.

3. GÖTTER- UND TITANENKÄMPFE


Unsere Mythologie kannte früher mehrere Geschichten von Götterkämpfen, die später in Vergessenheit gerieten. Die Gefangenschaft, in die Kronos durch seinen Sohn gestürzt wurde bedrohte auch diesen selbst. Es wird bei Homer angedeutet, wie sogar Zeus einmal von seinen Geschwistern, Hera und Poseidon, und von einem seiner Kinder, Pallas Athene, fast in Fesseln geschlagen wurde25. Doch ließ Thetis, in ihrer Eigenschaft als große Göttin des Meeres, aus den Tiefen einen von den drei »Hundertarmigen« kommen: jenen, den die Götter Briareos nannten, die Menschen aber Aigaion. Er beherrschte wohl einst allein mit der Göttin die Tiefen des Ägäischen Meeres. Der Hundertarmige setzte sich, sein ruhmvolles Amt genießend, als Beschützer neben den Sohn des Kronos. Die seligen Götter erschraken und legten keine Fesseln an Zeus. Es geschah auch nur mit der Hilfe von solchen gutmütigeren Ungeheuern, die Uranos in die Tiefe gestoßen hatte, daß Zeus, nach seinem Sieg über Kronos, seine Macht behaupten konnte gegen die ihrem Vater ähnlicheren, ungestümen Söhne des Himmels.

So erzählt Hesiod26: Seit zehn vollen Jahren rangen schon die Titanen und die Kinder der Rhea und des Kronos in schmerzlichem Kampf miteinander: die alten Götter, die Titanen, vom Gipfel des Berges Othrys, Zeus und seine...

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