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Nähe

Wie wir lieben und begehren

AutorGiovanni Frazzetto
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783446259508
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Eine junge Frau legt sich einen imaginären Freund zu - damit sie endlich Ruhe vor ihren besorgten Eltern hat. Ein Theaterschauspieler liebt seine Ehefrau - und geht dennoch fremd. Vater und Tochter verstehen sich nicht, doch ihre Beziehung blüht auf, als sein Tod naht. Acht Geschichten darüber, wie Menschen in unserer Gesellschaft versuchen, einander näherzukommen - und welche Rolle Hormone, Gene und soziale Normen dabei spielen. Was reizt uns an Monogamie, was an Untreue? Wie hält Freundschaft, wie entsteht Intimität? Leichtfüßig verknüpft Giovanni Frazzetto dramatische Erzählung und neueste Erkenntnisse aus Biologie und Hirnforschung und entdeckt so die Liebe auf umfassende Weise neu.

Giovanni Frazzetto wurde 1977 in Sizilien geboren. Er studierte am University College London. Seinen Doktor der Molekularbiologie machte er in Heidelberg. Frazzetto war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo er bis 2015 lebte. Momentan wohnt er in Irland. 2014 erschien bei Hanser sein Buch Der Gefühlscode, das in elf Sprachen übersetzt wurde.

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Leseprobe

Schidduch

über Einsamkeit


Der Beginn des neuen Tages wurde durch den Schnee gedämpft. Der Fluss war zugefroren, und der Blick aus Anitas Fenster bot das altbewährte Grau in Grau.

Als sich ihre Augen öffneten, fand sie sich zusammengerollt wie ein Baby wieder, fest um die Filmspule irgendeines Traums gewickelt, an den sie sich nicht erinnern, den sie aber auch nicht loslassen konnte, den Kopf an der Brust vergraben, die Arme um die Knie geschlungen. Sie machte zwei oder drei tiefe Atemzüge, um sich zu weiten, und stellte dankbar fest, dass sie nachts nicht hustend aufgewacht war – die neuen Kräuter von Inge taten ihre Wirkung.

Langsam entrollte sie sich und starrte an die Decke. Sie fragte sich, ob sie vor dem Zubettgehen das Badewasser ganz abgestellt hatte, und tastete mit der Hand den Boden nach einer Überflutung ab. Beruhigt gähnte sie, setzte sich auf und schüttelte den Kopf.

Sie schloss die Augen wieder.

»Alles Gute zum Geburtstag, Anita, und einen schönen, beschissenen Valentinstag«, sagte sie und nahm das grausame Spiel des Schicksals zur Kenntnis, das in ihr, seit sie erwachsen war, den Wunsch weckte, ihr Geburtstag würde für immer aus dem Kalender getilgt. Dann grinste sie ihren fetten, verschlafenen roten Kater an.

»Wo bleibt mein Frühstück im Bett, Joshua?«

Joshua war nicht der Kater. Der Kater hieß Whiskey. Joshua war ein imaginärer Freund, den sie erschaffen hatte.

»Erzähl doch mal. Ist er Deutscher?«, war Ruths erste Frage gewesen.

»Nein, Mutter. Er ist Amerikaner.«

»Und ist er einer von uns?«

»Ja, Mutter.«

»Oh, Motek, das ist ja wunderbar! Ist es was Ernstes? Wann lernen wir ihn denn mal kennen? Wie heißt er? Und sag bitte nicht, dass er auch Künstler ist!«

Anita war Fotografin. Sie fotografierte verlassene Orte. Geboren und aufgewachsen in Brooklyn, zog sie nach der Kunstschule im Mittleren Westen aus einem Impuls heraus nach Deutschland, als es für sie zu Hause überhaupt nicht zu laufen schien. Berlin, dessen Bürgermeister es einmal als »arm, aber sexy« bezeichnet hatte, war der perfekte Zufluchtsort für jeden arbeitslosen Künstler des Planeten. Jetzt hatte sie ein beneidenswertes Berufsleben, zumindest verglichen mit dem, was sie in den Staaten zurückgelassen hatte. Ihr Werk wurde auf zwei Kontinenten ausgestellt. Sie hatte demnächst eine große Einzelausstellung, eine Teilzeit-Lehrstelle an einer englischen Sprachschule, eine persönliche Assistentin und regelmäßige Verkäufe.

Sie lebte in einer schicken Wohnung, die so groß war, dass sie sie als Atelier nutzen konnte. Sie wurde regelmäßig zu Partys eingeladen, und ihr blieb noch Zeit, um zur Inspiration Galerien und Museen zu besuchen. Sie hatte genug Geld, um zu verreisen, am Wochenende essen zu gehen und sich ab und an eine neue Handtasche zu kaufen. Alles in allem brauchte sie sich eigentlich um nichts Sorgen zu machen.

Doch zählten all die guten Seiten ihres Berliner Lebens keinen Pfifferling, wenn abends alles, woran sie sich klammern konnte, die Wärme eines Kissens und Whiskeys Fell waren. Sie hatte in der neuen Stadt viele Menschen kennengelernt, vor allem jede Menge Auswanderer der Kunstszene, was sich positiv auf ihre Arbeit auswirkte. Aber sie konnte nicht behaupten, dass sie jemanden hatte, auf den sie wirklich zählen konnte, und dieses Bewusstsein löste in ihr ein Unbehagen aus wie die Nebenwirkung einer neuen Diät. Die Winter waren in der deutschen Hauptstadt besonders hart und einsam: die großen Alleen matschig und schweigsam, die Bäcker unfreundlich und die meisten Leute miesepetrig und gereizt. Wenn man Glück hatte, lächelten die Pendler in der U-Bahn vielleicht ab Mitte April wieder.

Anita erschuf Joshua an einem Tag, als zum dritten Mal hintereinander ein Fremder ihren Gruß nicht erwiderte, ein Typ nicht zu einer Verabredung erschien und Ruth sie fragte, wann sie endlich heiraten würde. Die Erfindung eines imaginären Partners half ihr, mit der hartnäckigen Sorge ihrer Eltern umzugehen, dass sie immer noch single war, aber auch, ihre Einsamkeit zu lindern und sich auszumalen, was sie sich von einem Mann wünschte. Hin und wieder wandte sie die Lüge auch bei Fremden an, etwa wenn sie der einzige Single bei einer Dinnerparty war. Joshua war, genau wie Whiskey, ein Rotschopf. Mit haselnussbraunen Augen. Er war groß und Bildhauer, was bedeutete, dass er riesige, kräftige Hände hatte. Er war ruhig und bestimmt, witzig und ein bisschen linkisch. Vor allem war Joshua ein Komplize und der Trost, der Anita in den Höhen und Tiefen ihres Alltags so fehlte. Sie brauchte jemanden, der mit ihr schimpfte, wenn sie zu viel Zeit vor dem Computer verbrachte, der sie dazu brachte, sich an den Tisch zu setzen, wenn sie im Stehen aß, der ihr zuhörte, wenn sie wieder mal auf einer Talfahrt der Schwarzmalerei war oder sich über einen Kunden aufregte, der von einem Kauf zurückgetreten war. Sie brauchte jemanden, der sie daran erinnerte, dass Herumzappeln sie unattraktiv machte und Hausbrände zwar nicht ausgeschlossen, aber selten sind. Einen Typ, der herzlich lachen und Fotos von ihr machen konnte, wenn sie nackt zu 80er-Jahre-Musik tanzte, und jeden Samstag in der Küche ein Chaos veranstaltete, wenn er Pfannkuchen machte oder ihr einen Geburtstagskuchen buk. Einen Mann, mit dem sie improvisieren und mal eben aus einer Laune heraus eine Reise nach Afrika oder Brasilien buchen konnte. Aber vor allen Dingen brauchte Anita einen Mann, um ihr, wie sie es ausdrückte, »verdammt noch mal zu sagen, dass alles gut wird«. Das war ein merkwürdiger Perspektivenwechsel. Jahrelang, seit sie vielleicht sechzehn war, hatte sie das von niemandem hören wollen – weder von den Eltern noch ihren Freunden oder ihrem Freund. Nur sie selbst wusste, was das Beste für sie war. Heute, mit Anfang vierzig, hatte sie es satt, ihr einziger Bezugspunkt zu sein. Selbst für die kleinsten Aufgaben brauchte sie ewig. Jede Entscheidung, die sie allein traf, kam ihr vor, als ginge es um Leben und Tod. Auch wenn er nicht real war, glaubte sie, dass Joshua die Last ihrer Sorgen halbierte.

Bevor sie sich auf einer Decke ausstreckte, griff Anita nach ihrem Notizbuch und einem Stift. »EINSAMKEIT KANN TÖDLICH SEIN«, schrieb sie in Blockbuchstaben und zerknüllte spontan ihr letztes Päckchen Zigaretten. Das wäre ein toller Aufdruck für ein T-Shirt, dachte sie. Sie könnte es zur nächsten Party oder auf der Straße tragen, um sich als einsam zu outen, in der Hoffnung, einen Klub zu gründen oder so und vielleicht Gleichgesinnte anzulocken.

Einsamkeit ist eine weltweite Epidemie. Laut einer vergleichenden Umfrage hat sich zumindest in den USA die Zahl der Menschen, die keinen Vertrauten haben, mit dem sie über wichtige Dinge reden können, in weniger als zwei Jahrzehnten, von 1985 bis 2004, fast verdreifacht.1 Auf der anderen Seite des Großen Teichs sieht es kaum besser aus, wobei Großbritannien zu den einsamsten Ländern Europas gehört.2

Anitas Slogan ist kein Witz. Einsamkeit kann genauso wie Rauchen, Fettleibigkeit, Bewegungsmangel oder Luftverschmutzung zu einem frühen Tod führen.3 Sie schädigt unseren Körper und verändert unsere Wahrnehmung der Welt und wie wir mit ihr interagieren. Sie verursacht Erschöpfung und Schlafstörungen4 und geht einher mit Stress, Angst und Depressionen.5 Sie wird mit erhöhtem Blutdruck und Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems in Verbindung gebracht.6 Sie begünstigt zelluläre Entzündungsreaktionen und schwächt die Immunabwehr.7 Sie kann sogar zu geistigem Verfall und schließlich Demenz führen.8

Anita spürte die Last der Einsamkeit, als schnüre es ihr unerbittlich die Brust zusammen. Sie litt nicht nur an chronischem Sodbrennen, sondern auch an Dyspnoe beziehungsweise der sogenannten Pseudo-Dyspnoe, was hieß, dass sie hyperventilierte, hustete und gelegentlich kurzatmig war.9

Wir bewohnen die Welt, teilen sie, nehmen sie wahr und interagieren mit ihr nicht nur mit dem Kopf, sondern mit unserem gesamten Körper.10 Die Wechselhaftigkeit des Lebens und wie wir darauf reagieren, gehen auf Kosten unseres Gleichgewichts von Körper und Geist und wirken sich auf die Funktion von Organen, Gewebe und Zellen aus.

Anitas Freundin Inge hatte sie kürzlich gemahnt: »Wir müssen uns um deinen Parasympathikus kümmern!« Während sich der Sympathikus »einschaltet«, wenn wir mit Gefahr oder einem Notfall umgehen müssen, hilft uns das parasympathische Nervensystem dabei, Abstand von der Welt zu gewinnen, und dominiert, wenn wir es uns leisten können zu entspannen. Es übt Funktionen aus, die nicht unserer Aufmerksamkeit bedürfen, wie Herzschlag, Atmung und Verdauung.

Wenn wir auch ohne Sorgen oder Stress ständig auf der Hut sind, verübelt uns das der Parasympathikus. Wir können uns nicht entspannen. Und nicht nur das, auch einige der simplen, automatisch ablaufenden Funktionen, die er ausführt, gehen schief. Eine davon ist das Ablassen der Säuren aus dem Magen.

Anitas Brustschmerzen und Kurzatmigkeit waren nicht nur eine Folge dessen, was sie aß oder wie viel Kaffee oder Gin sie hinunterkippte. Sie waren auch eine Reaktion auf ihre Einsamkeit sowie ihre ständige Beschäftigung damit. Ein entscheidender Bestandteil des parasympathischen Nervensystems ist der Vagusnerv, ein langer Nerv, der von der Schädelbasis durch die Brust bis hinunter zu unseren Genitalien führt und empfindlich für soziale Interaktionen ist.11 Neben vielen anderen Funktionen trägt der Vagusnerv zur Regulierung unseres Magen-Darm-Trakts bei. Wenn beim...

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