Obst, Verjus, Balsamessig
Wie Milch und Honig, so ist auch Obst voll von Süße, von uns Menschen begehrt. Denn Süße verheißt Kraft und Leben, anders als das Herbe oder Bittere, das giftig sein kann. Und im Gegensatz zum weißen und »leeren« Zucker ist Obst wunderbar vielfältig und komplex – bunt in der Farbe, schön in der Form, weich in der Beschaffenheit, saftig und erfrischend.
Die Natur ist trickreich. Sie will, dass Früchte von Tieren verzehrt werden, damit die Kerne im Fruchtfleisch weitergetragen werden und sich die Obstbäume, Sträucher und Stauden andernorts vermehren. Je schöner und süßer die Frucht, desto höher ist die Chance, dass das Obst von Tieren begehrt und verzehrt wird und an anderen Plätzen neue Sämlinge aufgehen.
Farbe, Form und Süße der Früchte sind die vordergründigen Lockmittel, doch die moderne Medizin und Wissenschaft hat noch viel mehr dahinter entdeckt. Claus Leitzmann erklärt in seinem Buch über Gesunde Ernährung: »Obst ist zusammen mit Gemüse unsere wichtigste Quelle für die antioxidativ wirkenden Vitamine C und Beta-Karotin (…). Antioxidantien schützen uns vor den schädlichen Wirkungen freier Radikale, stärken unser Immunsystem und bieten einen natürlichen Schutz vor Infektionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.« Nicht nur Vitamine, auch Mineral-, Ballast- und sekundäre Pflanzenstoffe mit ähnlichen Wirkungen sind im Obst reichlich vorhanden.
Manche Historiker, wie Yuval Noah Harari in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit, gehen davon aus, dass sich der Mensch vor der Erfindung der Landwirtschaft gesünder und vielseitiger ernährt habe als danach. Die Landwirtschaft, so Harari, stelle ein paar wenige, aber sehr nahrhafte Nahrungsmittel wie Getreide zur Verfügung, während der frühe steinzeitliche Mensch viele unterschiedliche Dinge sammeln und erbeuten musste, um satt zu werden.
Ob diese Rechnung aufgeht, sei dahingestellt. Doch als gesund und kulinarisch reizvoll erweist sich auf jeden Fall die Abwechslung. Nicht das einzelne »Superfood«, sondern das Ineinandergreifen vieler natürlicher Lebensmittel – Obst, Nüsse, Ölsaaten, Getreide, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Gemüse, Gewürze, Pilze, etwas Fisch und Fleisch, Milch und Milcherzeugnisse – sorgt für menschliches Wohlbefinden und Genuss. Für Leitzmann sind es 100 frische Lebensmittel, die abwechselnd zum Zug kommen sollten, für Tim Spector 150 in seinem Buch Mythos Diät.
Leitzmann empfiehlt, täglich zwei verschiedene Sorten Obst zu essen und im Fortlauf der Jahreszeiten auf Obst in unterschiedlichen Farben zurückzugreifen: gelb, orange, rot, grün und blau. So nehme man die große Bandbreite von sekundären Pflanzenstoffen und Mikroorganismen auf. Er sagt: »Die Mischung macht’s. Denn die zahlreichen Gesundheitswirkungen sind nicht auf einzelne Inhaltstoffe zurückzuführen, sondern auf die vielschichtige Wechselwirkung zahlreicher Substanzen.«
Zu den ältesten Obstsorten gehören nördlich der Alpen die Beerenfrüchte, die es hier schon in vorbäuerlicher Zeit gab: wilde Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, vermutlich auch Heidelbeeren und Preiselbeeren, dazu Holunder und Schlehe. Kern- und Steinobstsorten wie wilder Apfel, Birne, Pflaume und Kirsche waren vorläufig noch etwas hölzern und nicht besonders süß. Erst die Kelten verstanden es ansatzweise, diese Obstsorten zu pfropfen und zu verfeinern. Die Römer führten dann endgültig die mediterrane Kunst des Obstbaus in den nördlichen, keltischen und germanischen Provinzen ein und brachten neue Sorten mit, wie Pfirsich und Aprikose.
Um 840 erwähnte Walahfrid Strabo in seinem Buch Über den Gartenbau, das vermutlich im Kloster auf der Insel Reichenau im Bodensee geschrieben wurde, auch die Melone – und ergötzte sich daran: »Durchdringt nun das Messer das Innere dieser Frucht, lockt es reichliche Bäche von Saft mit Mengen von Kernen hervor. Zerteilt man dann die hohle Frucht mit der Hand in zahlreiche Stücke, erhält der fröhliche Gast herrliche Leckerbissen aus dem Garten.« Heimische Gastrosophie um 840!
Man achtete in hiesigen Breiten durchaus auf Vielfalt und Delikatesse, sei es, dass man verschiedene Obstsorten auftischte, sei es, dass man Früchte mit herzhaften Speisen verband, um diesen eine frische Note zu verleihen. Die älteste deutsche Speisekarte stammt von 1303. Rat und Bürger der Stadt Weißenfels an der Saale luden den Bischof von Zeitz-Naumburg zum Festschmaus ein. Es gab Eiersuppe mit Safran, Pfefferkörnern und Honig, daneben Gerichte wie gebratenes Huhn mit Zwetschgen sowie Stockfisch (getrockneten Kabeljau) mit Öl und Rosinen.
Verjus
Es boten sich aber nicht nur Früchte wie Zwetschgen oder Dörrobst wie Rosinen an, um Frische und Süße in die Speisen zu bringen, man hatte noch Raffinierteres in petto. Schon um 1200 beschrieb Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival ein Gala-Diner auf der Gralsburg und erwähnte, in mittelhochdeutscher Sprache, »salssen, pfeffer, agraz«, sprich Soßen und Pfefferbrühen – und was Agraz meinte, erklärte um 1350 Das Buch von guter Speise, das in Würzburg entstand: »Willst du eine säuerliche Soße machen, nimm Weintrauben und zerstoße saure Äpfel, tu dies zusammen, vermenge es mit Wein und druck es aus. Diese Soße ist gut zu Lammbraten und zu Hühnern und zu Fischen und heißt Agraz.« Es handelte sich demnach um einen säuerlichen Würz- und Fruchtsaft, den man aus unreifen Weintrauben und grünen Äpfeln gewann: als feine Alternative zum scharfen Essig.
Der Welthandel der Frühen Neuzeit brachte dann auch exotische Früchte in die deutschen Lande, darunter Zitrusfrüchte wie Zitrone, Pomeranze und Orange, die den säuerlichen Fruchtsaft, den Agraz, verdrängten. Doch er verschwand nie ganz aus den Küchen. Heute wird er als Verjus, wörtlich grüner Saft, wieder geschätzt. Insbesondere österreichische Winzer stellen Verjus wieder her.
Balsamessig aus Modena
Seit dem 16. und 17. Jahrhundert mehrten sich die Quellen, die über exzellenten Essig aus dem italienischen Modena berichteten, zumal die Stadt damals zur Residenz der Herzöge von Este wurde. Bei einem Staatsbankett zu Ehren der schwedischen Königin Christina im Jahr 1655 reichte man zum Damhirsch »Malvasia-Essig«, Essig aus Süßwein, ebenso zum Hasen eine »königliche Essigsauce«.
Es ging darum, dem Essig seine Schärfe zu nehmen und ihn buchstäblich balsamisch zu machen. Seit dem 19. Jahrhundert ist für den Essig aus Modena der Begriff Balsamessig bezeugt. So schrieb Fausto Sentini 1863 einen Aufsatz über die »Aceti Balsamici del Modenese« – und Balsamessig meinte nichts anderes als Essig mit besonderem Wohlgeruch, komplex, süß-säuerlich.
Traditionell wird für den Balsamessig aus Modena der Most aus heimischen Reben verwendet, hauptsächlich aus Trebbiano und Lambrusco. Man lässt diesen Most unter freiem Himmel einkochen, auf 50 bis 80 % seines ursprünglichen Volumens, anschließend vergärt der Most zu Wein und verwandelt sich dann in Essig. Er kommt in eine Batterie, wie man sagt, welche in der Regel aus sieben Fässern mit abnehmender Größe besteht, von 10 bis 100 Liter; häufig sind vier Fässer davon aus Eiche (für süßes Vanillearoma), die anderen drei aus Maulbeerbaum (für dunkle Farbe), Edelkastanie (für guten Gerbstoff) und Kirschbaum (für ausgleichende Zartheit). Von Jahr zu Jahr wird der Essig von einem ins andere Fass umgefüllt, um an Harmonie zu gewinnen. Die Fassöffnung bleibt jeweils ohne Stöpsel, wird nur von einem Tuch geschützt, damit ein Großteil der Flüssigkeit über die Jahre hinweg verdunstet und der Essig an Dichte und Raffinesse gewinnt.
Diese herkömmliche Art der Herstellung wird mittlerweile staatlich geschützt und kontrolliert und darf »Aceto Balsamico Tradizionale di Modena D. O. P« genannt werden. Dieser wird stets in kugelrunde 0,1-Liter Fläschchen mit rechteckigem Fuß gefüllt und in zwei Varianten angeboten: einmal mit rötlicher Kapsel und einem Alter von mindestens 12 Jahren, das andere Mal mit goldener Kapsel und einem Alter von mindestens 25 Jahren und der Aufschrift »Extravecchio« – uralt.
Von der Menge her fällt der sündhaft teure »Tradizionale« kaum noch ins Gewicht. Denn daneben gibt es die moderne Art der Herstellung, die preislich um einiges günstiger sein kann, weil dafür der Most oft weniger eingekocht und noch mit Weinessig angereichert wird. Die Qualitätsschwankung ist viel größer, reicht von gewöhnlich bis köstlich. Manche Erzeuger geben den Stoff aus Most und Weinessig auch noch in eine Verdunstungsmaschine, die in ein bis zwei Tagen eine Dichte schafft, die im traditionellen Verfahren nur über viele Jahre entsteht. Reift ein moderner Essig dann mindestens zwei Monate im Holzfass, darf er »Aceto Balsamico di Modena I.G.P.« genannt werden. Wenn er mindestens drei Jahre im Fass lagerte, erscheint zusätzlich der Begriff »Invecchiato« – gereift.
Dagegen sollte man Balsamessige aus Modena ohne die Echtheitszeichen I.G.P. oder D.O.P. mit Vorsicht betrachten; sie enthalten gegebenenfalls nur Weinessig und Karamell für Farbe und Süße. Doch der moderne »Aceto Balsamico di Modena I. G. P.« mit dem Zusatz »Invecchiato« kann eine seriöse, etwas günstigere Alternative zum »Aceto Balsamico Tradizionale di Modena D. O. P« sein.
Die entscheidenden Qualitätsmerkmale für feinen Balsamessig aus Modena sind nicht unbedingt die dunkle Farbe, die dickflüssige Konsistenz und das süß-säuerliche Aroma – sondern die ungemein zarte...