Um uns und unser persönliches System – die Einheit von Körper, Geist und Seele – weiterzuentwickeln, sollten wir uns erst einmal anschauen, an welchem Punkt seiner Entwicklung eben jenes System heute überhaupt steht. Keine Sorge, Sie müssen sich an dieser Stelle nicht durch evolutionshistorische Abhandlungen kämpfen – ich will Sie nur dafür sensibilisieren, dass erstens unsere moderne Gesellschaft im evolutionären Gesamtzusammenhang gerade mal einen Wimpernschlag alt ist und dass zweitens die biologische Evolution sehr, sehr langsam verläuft. Konkret bedeutet das: Der Mensch hat sich in den letzten 10.000 bis 40.000 Jahren bei Weitem nicht so entscheidend weiterentwickelt, wie wir als aufgeklärte Individuen oft vermuten. Biologisch befinden wir uns mehr oder weniger auf Ötzi-Niveau (der hat vor gut 5000 Jahren gelebt).
So richtig interessant wird es aber erst, wenn wir zusätzlich zur biologischen die kulturelle Evolution betrachten. Der Begriff der Kultur steht dabei (als Gegenpart zur unveränderbaren Natur) für alles, was der Mensch selbst gestaltet – also nicht nur für Theater, Musik und Literatur, sondern zum Beispiel auch für Technologie oder zusammengefasst: für das kognitive Wissen. Über Jahrmillionen fand eine kulturelle Evolution im Prinzip nicht statt. Das kognitive Wissen des Menschen war zu gering, seine Errungenschaften zu nichtig, um der kulturellen Evolution eine entscheidende Rolle zu ermöglichen. Vor rund 3000 Jahren aber begann die kulturelle Evolution, so richtig Fahrt aufzunehmen. Seitdem verläuft ihre Entwicklungskurve exponentiell.
Heute vervielfacht sich das Wissen der Menschheit jährlich und macht Sprünge, die vorgestern noch niemand für möglich gehalten hat – während die biologische Evolution einfach weiter stoisch ihr Schneckentempo hält. Die Folge: Zwischen biologischem und kulturellem Entwicklungsstand klafft inzwischen eine riesige (ständig wachsende) Lücke. Der Mensch hat sich eine Lebensumgebung geschaffen, an die er biologisch gar nicht angepasst ist, ja, nicht sein kann. Das mag sich nach Orwell’schem Gesellschaftsbashing und Früher-war-alles-besser anhören, ist aber nicht mehr als eine nüchterne, evolutionäre Momentaufnahme. Denken Sie einmal daran, wie sich die Welt verändert hat, seit Sie geboren wurden. Extrem, oder? Ihr Genmaterial ist trotzdem noch nahezu das gleiche. Die Lücke an sich ist auch nicht das größte Problem, sondern unser Umgang damit.
Die Ikarus-Falle – jenseits der eigenen Identität
Sie kennen die Geschichte von Ikarus, oder? Die griechische Sage von dem jungen Mann, dessen Vater ihm beeindruckende Flügel gebaut hatte. »Flieg nicht zu hoch«, hatte der Vater gesagt. Aber Ikarus konnte es nicht lassen und kam der Sonne irgendwann so nahe, dass das Wachs schmolz, mit dem die Federn seiner Flügel befestigt waren, und er in den Tod stürzte.
Ikarus hatte gedacht, er könne die Lücke zwischen Erde und Sonne schließen. Er hatte vergessen, wohin er gehört. Ganz ähnlich versuchen wir uns heute an dem Schließen der evolutionären Lücke: Wir entfernen uns zusehends vom Boden unserer biologischen Identität. Wir leben immer mehr wissensgesteuert, wollen hoch zur Sonne, zum Status quo der kulturellen Evolution, spüren aber, dass wir abstürzen würden, wenn wir unser Leben nur noch vom Wissen bestimmen lassen, hängen völlig im Nichts, ohne Halt.
Und das ist unser Problem, nicht die Lücke. Das System Mensch kommt mit den größten Widrigkeiten zurecht, wenn – und das ist entscheidend – wir seine Grundbedürfnisse nicht aus den Augen verlieren. Wenn wir versuchen, krampfhaft die Lücke zu schließen, indem wir verstärkt kopf- oder wissensgesteuert durchs Leben gehen, verlieren wir zwangsläufig unsere biologische Identität. Wir verlieren den Zugang zu unserem Körper und damit zu uns selbst. Unser System gerät aus den Fugen. »Wir sind in der modernen Arbeitswelt mental überstimuliert und körperlich unterstimuliert«, bestätigte mir der Wirtschaftsexperte Dr. Michael Kendzia. Kein Wunder, dass es uns dann schwerfällt, das, was wir uns in den Kopf gesetzt haben, umzusetzen.
Wissenschaftler und Philosophen haben in den letzten Jahrzehnten gleichermaßen dazu beigetragen, das Bewusstsein des Menschen hochzuhalten, das komplexe Denken, das, was ihn von allen anderen Tieren auf diesem Planeten unterscheidet. Dabei ist der Mensch auch das Lebewesen mit dem größten körperlichen Potenzial. Wir haben uns den Weg in die Moderne ja nicht nur mental gebahnt, sondern auch, weil wir körperlich unglaublich vielseitig sind: ausdauernd, kraftvoll, geschmeidig, filigran. Und weil wir anpacken können. Darüber hinaus beeinflusst unser Unterbewusstsein (und dazu gehören unsere Instinkte genauso wie unser ganz individuelles körperliches Gedächtnis) unser Verhalten und unsere Persönlichkeit heute noch – ob wir wollen oder nicht.
Wir können nicht zur Sonne fliegen. Aber wir können sie vom Boden aus genießen. Wir brauchen sie ja sogar, um gesund, zufrieden und erfolgreich zu leben. Aber uns ihr zu sehr zu nähern, liegt einfach nicht in unserer Natur.
Look back, step forward – Ur-Power für die Gegenwart
Was aber liegt in unserer Natur? Für mehr Klarheit über unsere biologische Identität müssen wir, wie bereits erwähnt, nicht unbedingt Jahrtausende oder Jahrmillionen zurückblicken. Es hilft schon, daruf zu schauen, wie Kinder sich ihren Weg ins Leben bahnen. Denn solange ihre natürliche Neugierde noch nicht zu sehr von besorgten Bezugspersonen beschnitten wird, setzen Kinder auf der ganzen Welt wunderbare Methoden ein, um voranzukommen – von A nach B und in ihrer eigenen Entwicklung. Unabhängig voneinander und ohne dass wir es ihnen beibringen, beginnen Kinder ihren Körper sprechen zu lassen, ihn auszuprobieren und einzusetzen. Erst nur mit Schreien, Lachen und Strampeln, später über das Rennen, Fallen, Springen, Klettern, Raufen.
Ich habe vor einiger Zeit mit einer sehr skeptischen Seminargruppe in einem Tagungsraum gearbeitet. Es ging um die Veränderung der eigenen Bewegungswahrnehmung im Lebenszyklus. Etwas später bat ich die Gruppe, mit mir in den Außenbereich des Clubs zu kommen, in dem das Seminar stattfand. Ich hatte dort auf einer Rasenfläche mehrere Baumstämme zurechtgelegt, um das Thema Balance aus der Theorie in die Praxis zu holen. Kaum traten wir nach draußen, sahen wir, wie ein ganzes Dutzend Kinder aus der Nachbarschaft vergnügt über die Stämme tanzte und zwischen ihnen hin und her sprang. Barfuß. Ich war selten so glücklich darüber, dass sich jemand ungefragt an meinen Seminarmaterialien zu schaffen machte. Ohne dass ich ein Wort gesagt hatte, war meine Botschaft in diesem Moment bei jedem einzelnen Seminarteilnehmer angekommen.
Wenn also Neugierde und die Lust, sich selbst zu entdecken und weiterzuentwickeln, bei Kindern vor allem Ausdruck in einem unbändigen Bewegungsdrang finden, ist das dann nicht ein klares Indiz dafür, dass dieser in der Natur des Menschen liegt? Und warum verlernen wir irgendwann das, was einst der Mittelpunkt unseres Lebens war?
Lassen Sie die letzte Frage bitte sacken. Formulieren Sie sie am besten noch einmal um: Warum war Bewegung, warum war das ganze Leben als kleines Kind so viel leichter? Was war anders? Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie sehr ähnliche Gründe ausmachen, wie die meisten der Menschen, denen ich diese Frage stelle: Es war alles so herrlich unbeschwert. Ich hatte für nichts Verantwortung. Ich musste keine Familie ernähren. Ich war viel beweglicher. Ich hatte keine Termine. Meine Freunde waren immer da. Ich war fast immer draußen. Es gab noch so viel zu entdecken. Ich musste nichts.
Heute, da sind wir uns sicher einig, sind unsere Lebensumstände anders. Ohne konkreten Anlass in der Gegend herumzutoben, ist schlichtweg nicht altersgemäß. Aber Moment, ist das wirklich so? Sind wir tatsächlich dazu verdammt, tatenlos zuzusehen, wie das Freiheitsgefühl unserer Kindheit in immer weitere Ferne rückt? Es ist erstaunlich und dramatisch zugleich, wie kulturelle Einflüsse, Technologien, Weltanschauungen, Prinzipien und die Gesellschaft all das, was die Natur uns mit auf den Weg gegeben hat, innerhalb kürzester Zeit zusammenschrumpfen lassen.
Es gibt keinen triftigen Grund irgendwann damit aufzuhören, auf Bäume zu klettern, außer »dass man das als erwachsener Mensch eben nicht macht«. Es spricht auch nichts dagegen, einfach eine neue Tätigkeit zu beginnen, weil man in der alten keinen Sinn mehr sieht. Und ganz ehrlich: Mit einem übersichtlichen Kreis aus »echten« Freunden war doch alles wunderbar.
Wie lange ist es her, dass Sie das letzte Mal auf einen Baum geklettert sind? Ja, die Leute gucken komisch, wenn Sie das heute versuchen. Vermutlich lachen sie auch. Aber innerlich bewundern sie, dass da jemand die tief im Gedächtnis seines Körpers und damit in seiner Persönlichkeit verankerten Bewegungserfahrungen wieder auspackt. Das wissen Sie spätestens dann, wenn die ersten Passanten Ihre Kletterversuche beklatschen oder mit dem Handy filmen.
Es gibt diese Geschichte eines Journalisten, der nach Japan reiste, um dort einem alten Lehrmeister dessen Lebensweisheiten zu entlocken. Der Lehrmeister servierte Tee. Er füllte die Tasse des Journalisten, bis sie randvoll war, und goss immer weiter, sodass die Tasse überlief. »Ich glaube, die Tasse ist jetzt voll«, sagte der Journalist irgendwann. »Sie haben recht«, erwiderte der Lehrmeister und fuhr fort: »Genau, wie diese Tasse randvoll ist, so kommen Sie zu mir mit all Ihren Meinungen und Spekulationen in Ihrem Kopf. Wie soll ich Ihnen zeigen, was Weisheit ist, wenn Sie nicht erst Ihre Tasse leeren?«
Ich mag diese Anekdote, weil sie dazu inspiriert, Tabula...