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E-Book

Nestroyana

34. Jahrgang 2014 - Heft 1/2

VerlagHollitzer Wissenschaftsverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl121 Seiten
ISBN9783990121504
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Die Nestroyana veröffentlichen wissenschaftliche Arbeiten über das Altwiener Volkstheater und im Besonderen über das Werk und die Person Johann Nestroys und berichtet über die Tätigkeit der Internationalen Nestroy-Gesellschaft. Die NESTROYANA erscheinen als Zeitschrift der Internationalen Nestroy-Gesellschaft zweimal jährlich als Doppelhefte. Das Hauptinteresse der Zeitschrift gilt dem Leben und Schaffen Johann Nepomuk Nestroys; darüber hinaus enthält sie theater- und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte des Volksstücks und zu dessen Umfeld sowie Berichte über die Tätigkeit der Internationalen Nestroy-Gesellschaft. Zu den Autoren gehören bedeutende Wissenschaftler, u.a. die Herausgeber der neuen Historisch-kritischen Nestroy-Ausgabe.

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Leseprobe

Martin Stern


Dreimal poetische Gerechtigkeit: Beethovens Fidelio, Raimunds Alpenkönig und Nestroys Mädl aus der Vorstadt ein Beitrag zur Säkularisation im 19. Jahrhundert

Wann ist eine Rede, eine Entscheidung, ein Verhalten, wann sind Gesetze und Urteile gerecht? Darüber wird seit der Antike debattiert. Warum? Der Begriff Gerechtigkeit ist eine Denkform des gesellschaftlichen Ideals, aber seine Bedeutung hängt ab von der jeweiligen sozialen Ordnung und deren Normen und Werten. Bis zu den Frühsozialisten im 19. Jahrhundert hieß die Forderung „Jedem das Seine“, aber nie „Jedem das Gleiche“, sondern nur „Allen das ihnen Gemäße“. Und dieses Gemäße galt als unterschiedlich je nach Stand, Geschlecht und Funktion. In der Lehre von Hans Kelsen vermag die „suum cuique“-Formel praktisch jede Ordnung zu rechtfertigen.1 Und sie geht bekanntlich zurück auf den Römer Domitius Ulpianus (um 170–228) und seine klare, aber interpretationsbedürftige Definition: „Juris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“.2 Den Nächsten nicht zu schädigen war eine klare Anweisung. Aber schon was eine anständige, ehrenhafte Lebensführung sei, hat jede Gesellschaft neu zu bestimmen.3 Und was dabei jeder und jedem zuteil werden soll – wer soll das entscheiden?

Nicht viel einfacher steht es um die „poetische Gerechtigkeit“.4 Sie ist eine in der „Höhenliteratur“ heute im Roman und Drama verpönte, beim anspruchsloseren Lese-, Theater- und Filmpublikum aber immer noch beliebte Schließungsstrategie, als: „Moralisch angemessene Zuteilung von Lohn und Strafe an Figuren eines literarischen Werks.“5 Sie meint, der Autor möge herbeiführen, was die Wirklichkeit nur selten gewährt, dass am Ende des Geschehens der Täter entlarvt und das Opfer gerettet, das Böse bestraft und das Gute belohnt wird. Und wenn er das tut, befriedigt er offenbar ein hartnäckiges Bedürfnis. Sonst wäre die Forderung längst ad acta gelegt.6

Darüber gibt es heute in der Forschung eine breite, aber nach wie vor kontroverse Debatte. Auf die Geschichte dieser Debatte, so interessant sie ist, wollen wir aber nur kurz eingehen, denn unser Fokus ist spezieller.

Poetische Gerechtigkeit wurde im Barock von der Tragödie gefordert als einem Abbild göttlich-sittlicher Weltordnung, im Zeichen der Mimesis- und Wahrscheinlichkeitslehre in der Aufklärung jedoch bekämpft. Das bürgerliche Trauerspiel, abzielend auf die Stimulierung von Furcht und Mitleid, fand dabei Mittel und Wege zu einem Kompromiss. Vielen Autoren war klar, dass Mitleid und Furcht beim Publikum zunehmen, je größer die Diskrepanz zwischen Verfehlung und Strafe des Helden oder der Heldin ist. Es steigert die Spannung und das Mitgefühl des Lesers und Zuschauers, wenn möglichst lange – im Drama meist bis zum IV. Akt – die Sorge bestehen bleibt, das Laster werde ungestraft davonkommen und die Tugend unbelohnt untergehen. Dann aber hat ein „deus ex machina“-Effekt die Wendung zu bringen, um doch noch Gerechtigkeit herbeizuführen, eben „poetische“.

Am besten eigneten sich für diesen Kompromiss das bürgerliche Trauerspiel und die Tragikomödie. Rosmarie Zeller hat in einer Studie 1988 eine Trennung vorgenommen und Dramen mit poetischer Gerechtigkeit als „moralische“, solche ohne als „pathetische“ bezeichnet.7 Und Cornelia Mönch konnte 1993 diese Typologie auf Grund umfangreichen neuen Materials erweitern und differenzieren. Sie unterscheidet in Kap. 2.2 ihrer Untersuchung ebenfalls den Typus mit totaler vom Typus ohne jede poetische Gerechtigkeit, aber auch die zwei Mischformen mit nur partieller Erfüllung der Doktrin, das heißt entweder „Untergang der Tugend und Strafe des Lasters“ oder „Rettung der Tugend ohne Strafe des Lasters.“8

Fast unisono lautet seit längerem die Behauptung, poetische Gerechtigkeit sei seit der Klassik und Romantik ein Reservat der Trivialliteratur.9 So ausdrücklich bei Wolfgang Zach, welcher die Frage stellte und auch gleich beantwortete: „Poetic Justice? Vom literarischen Dogma zur Trivialdoktrin. Infragestellung und Prestigeverlust der Doktrin vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne.“10 Dieser These hat Harald Fricke widersprochen mit der Behauptung: „Die Oper ist heute das Refugium der Poetischen Gerechtigkeit. Sie war das immer, unbeirrt und unangefochten; sie ist es bis in die avancierteste Gegenwart geblieben – und sie wird es bis ans Ende ihrer Gattungstage bleiben.“11 Wir werden gleich einem berühmten Beispiel dieser Resistenz in der Wiener Klassik begegnen. Doch zuerst ist der spezielle Fokus unserer folgenden Überlegungen zu erläutern.

Interessant scheint unter geistesgeschichtlichem Aspekt nicht nur, wie jeweils dramaturgisch der versöhnende Eingriff des „deus ex machina“ bewerkstelligt wird, sondern auch, welcher Instanz diese finale „Wendung zum Guten“ von den Protagonistinnen und Protagonisten des Dramas und Films und vom Erzähler des Romans zugeschrieben wird. Heißt diese Instanz (christlich) Vorsehung oder (antik) Schicksal? Heißt sie göttliche Allmacht, Zauberkraft oder Zufall?

Im Folgenden wird, wie der Titel besagt, der Versuch gemacht, an drei Theatertexten zu zeigen, wie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Wechsel von einer transzendenten zu einer weltimmanenten Begründung vollzog, oft auch eine haarsträubende Doppelspurigkeit. Mit Josef Sonnleithners, Stephan von Breunings und Georg Friedrich Treitschkes Libretto für Ludwig van Beethovens Fidelio sind wir noch ganz im christlichen Denkraum. Leonore und Florestan lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihnen Gottes Omnipräsenz und Liebe in letzter Minute rettend zu Hilfe kam, um die so willkürlich verletzte Gerechtigkeit wieder herzustellen. Ganz anders präsentiert sich der Eingriff des Geisterkönigs Astragalus in Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Sein Einfall, den für die Seinen unerträglich gewordenen Rappelkopf mit sich selbst zu konfrontieren und so zur Räson zu bringen, geschieht aus Mitleid mit dem am väterlichen Starrsinn leidenden Liebespaar. Das imaginäre Setting verhindert so jeden Verdacht einer unchristlichen Blasphemie. Das Spiel ist ein Werk der Fantasie und nur im psychologischen Bereich Abbild einer möglichen Wirklichkeit, natürlich auch zum Schutz vor der Zensur. Johann Nestroys Das Mädl aus der Vorstadt verzichtet auf alle Hilfskonstruktionen zur Begründung des guten Endes. Dieses ist allein dem Spürsinn des Winkel-Advokaten Schnoferl und dem Zufall zu verdanken. Sie arrangieren, was den Betrogenen wie ein Glücks- und dem überführten Betrüger wie ein Unglücksfall erscheint. Schnoferl war insofern ein Vorläufer der ungezählten erfolgreichen Detektive und Kommissare des Kriminalromans, bis auch diese Tradition im 20. Jahrhundert hinterfragt zu werden begann.

Die drei Texte liegen kein halbes Jahrhundert auseinander. Beethovens Fidelio – abgeleitet aus dem Opernlibretto Léonore ou L’Amour conjugal des Franzosen Jean Nicolas Bouilly – erschien in erster Fassung 1805 in Wien, Raimunds Alpenkönig ebendort 1828 und Nestroys Mädl ebendort 1841. Ich vermute, dass die sehr unterschiedliche Begründung des „guten Endes“ in den drei Stücken symptomatisch sei für jenen weltanschaulichen Wandel, den die Geistesgeschichte mit „Säkularisation“ bezeichnet. Weltgeschehen und individuelles Schicksal werden zunehmend einer theologischen Deutung entzogen und als Folgen menschlichen Wollens und Handelns interpretiert. Natürlich gibt es Gegenbeispiele, Versuche zur Bewahrung, Rückkehr oder Erneuerung verlorener religiöser Positionen. Aber sie scheinen mir den festgestellten Trend eher zu bestätigen als in Frage zu stellen.

Mit einem Hinweis auf Gottfried Kellers Novelle Die drei gerechten Kammmacher, erschienen 1856 in dem Band Die Leute von Seldwyla, schließt mein Versuch, in dem sich zeigt, wie auch die Prosa der Epoche poetische Gerechtigkeit, wenn sie sie herstellt, um 1850 bereits lieber menschlichem Handeln und dem Zufall als übernatürlichen Eingriffen zuschreibt.

I.

Seit Beethovens Oper Fidelio 1805 im Theater an der Wien zum ersten Mal erklang, gilt sie als das Hohe Lied der Gattenliebe. Doch welche Kräfte sind da eigentlich am Werk, um den dem Hass seines Feindes Pizarro zum Opfer gefallenen spanischen Adeligen Florestan vor der Ermordung im Gefängnis zu bewahren?

Roccos, des Kerkermeisters, schwankende Seele ist dafür nicht stark genug. Er empfindet zwar Mitleid mit dem Gefangenen, gehorcht aber dem brutalen Befehl, ihn langsam verhungern zu lassen, und am Schluss sogar der Weisung, rasch sein Grab zu schaufeln. Die Rettung ihres geliebten Mannes ist das einzige Ziel Leonores, dem sie mit List, Mut und Opferbereitschaft zustrebt, aber nicht allein auf sich gestellt. Was verleiht ihr die Kraft dazu? In I, 12 stellt sie die bange Frage: „Angst rinnt durch meine Glieder; / Ereilt den Frevler kein Gericht?“12 Aber schon im Terzett Nr. 5 in II, 4 sang sie tapfer: „Ich hab auf Gott und Recht Vertrauen“.13 Dieses Vertrauen teilt auch ihr hungernder Gatte, der nach seiner Labung mit Wein im Terzett Nr. 13 in II, 2 singt: „O Dank, Ihr habt mich süß erquickt! / ich kann die Wohltat nicht vergelten.“ – verbunden mit dem Wunsch: „Euch werde Lohn in bessern Welten! / Der Himmel hat euch mir geschickt.“14 Und nachdem er auch das ihm von Leonore heimlich...

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