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Neue Nazis

Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts

AutorJohannes Radke, Toralf Staud
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783462306378
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die extreme Rechte wandelt - und radikalisiert sich Trotz des Auffliegens der »NSU«-Terrorzelle wird die Gefahr weiter unterschätzt: Die extreme Rechte in Deutschland hat sich in den letzten Jahren zugleich radikalisiert und verbürgerlicht - und die emsige Verbotsdiskussion um die NPD lenkt die Aufmerksamkeit in die falsche Richtung. Mit den »Autonomen Nationalisten« (AN) ist eine junge und äußerst gewaltbereite Neonazi-Strömung entstanden. Sie kopiert den popkulturellen Stil der Linksautonomen und bietet Action, wirkt anziehend auf Jugendliche. Dazu trägt auch die rechte Musikszene bei. Anhänger der AN sind mehrfach mit Vorbereitungen zu Terroranschlägen aufgeflogen. Am gemäßigten Rand der Szene erstarkten die Rechtspopulisten. Gruppen wie »Pro Deutschland« und »Die Freiheit« versuchen mit islamophoben Inhalten an nationalkonservative und bürgerliche Positionen anzuknüpfen - und »die Partei zum Sarrazin-Buch« zu werden. Zwischen diesen Polen wird die früher dominierende NPD womöglich zerrieben.

Toralf Staud, geboren 1972, studierte Journalismus und Philosophie in Leipzig und Edinburgh. Von 1998 bis 2005 war er Politikredakteur der Zeit. Seit 2005 ist er freier Journalist und Autor. Im Jahr 2007 erschien von ihm und Nick Reimer das Buch »Wir Klimaretter. So ist die Wende noch zu schaffen«, seit 2011 arbeitet er für das Wissenschaftsportal klimafakten.de, 2016 war er einer der Preisträger des Deutschen Reporterpreises. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit der extremen Rechten in Deutschland sowie Themen rund um den Klimawandel.

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Leseprobe

Opfer rechter Gewalt haben Angst, zur Polizei zu gehen


Im November 2011 hat die Stadt Dortmund eine unabhängige Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt eingerichtet. Bei »Back Up« kann sich melden, wer angegriffen oder bedroht wird – und erhält dann professionelle Hilfe. Das fünfköpfige Team kümmert sich unentgeltlich um Anwälte, psychologische Betreuung und begleitet die Betroffenen zu Gerichtsverhandlungen oder Gesprächen mit der Polizei. »Wir kommen mit der Arbeit kaum nach«, sagt Franca Ziborowius von Back Up. »Schon nach zwei Monaten hatten wir 31 Fälle zu betreuen.« Viele Opfer, aber auch Zeugen, hätten Angst zur Polizei zur gehen. Beispielsweise Migranten mit unklarer Aufenthaltsgenehmigung oder alternative Jugendliche, die Sorge haben, dass die Polizei ihnen eine Mitschuld an dem Übergriff gibt.

Reihenweise können die Leute von Back Up Fälle aufzählen, bei denen die Strafverfolgungsbehörden wenig engagiert wirkten: So wurde eine Schülerin von Neonazis bedroht; sie erstattete Anzeige, aber die Polizisten interessierte zuallererst, ob sie Mitglied linker Gruppen sei und wen sie in der alternativen Szene kenne. Aus dem Opfer wurde eine potenzielle Täterin, den rechtsextremen Drohungen war sie weiter ausgeliefert. Oder eine Gruppe alternativer Jugendlicher. Die war im Sommer 2011 nachts in Dortmund unterwegs, um Plakate gegen einen bevorstehenden Naziaufmarsch zu kleben. Plötzlich fuhr im Schritttempo der bekannte VW-Bus der Dorstfelder Szene neben ihnen, stoppte, und fünf vermummte Neonazis mit Baseballschlägern, Pfefferspray und einem Messer stürzten sich auf sie. »Ich stech’ dich ab!«, soll einer der Angreifer gerufen haben. Nur knapp konnten sich die Opfer in einen Hauseingang retten und den Notruf wählen. Gleichzeitig warfen die Rechtsextremisten weiter Steine und Flaschen, die sie aus dem Bus gereicht bekamen. Wenige Minuten später traf ein Streifenwagen ein. Die Fahndung nach dem Fluchtfahrzeug und den Tätern, von denen die Angegriffenen einen sogar namentlich identifizieren konnten, blieb erfolglos. Stattdessen kümmerten sich die Beamten intensiv um die Opfer: Weil sie in der Nähe frisch geklebte Plakate mit der Aufschrift »No Nazis« entdeckt hatten, nahmen sie seelenruhig die Personalien der unter Schock Stehenden auf – für ein Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung. Als in diesem Moment die Mutter eines der Opfer auftauchte und sich beschwerte, wurde sie in Handschellen gelegt.[11] Wochenlang feierten die Neonazis im Internet den Angriff und gratulierten der Polizei zu der, aus ihrer Sicht, angemessenen Behandlung des »Zeckenpacks«.

Und dann ist da Sven Kahlin, der Skinhead, der 2005 den Punk Thomas Schulz erstach und wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Im September 2010 wurde er überraschend wegen »guter Führung« vorzeitig entlassen. Ein Gutachter hatte bescheinigt, dass keine weiteren Straftaten von ihm zu erwarten seien. Sofort plakatierten die Kameraden um Dennis Giemsch triumphierende Poster: »5 Jahre für ein ganzes Leben!« Schon bald trat Kahlin bei einem Aufmarsch als Redner auf. Die Zeit im Gefängnis habe ihn »nicht gebrochen«, betonte er unter dem Jubel der Teilnehmer. Auf seinem T-Shirt stand: »Was sollten wir bereuen?«

Es dauerte nur wenige Wochen, bis Kahlin erneut an einer schweren Gewalttat beteiligt war. Im Dezember 2010 wurde die alternative Kneipe Hirsch-Q nahe dem Dortmunder Hauptbahnhof zum wiederholten Male von Rechtsextremisten attackiert. Zwei Überwachungskameras haben die Tat festgehalten, so ist sie in einem vierminütigen Video im Internet dokumentiert.[12] Da ist zu sehen, wie sich ein Trupp Skinheads vor der Kneipe sammelt, Zigaretten in der Hand. Mit ihren schweren Stiefeln springen sie dann gegen Fenster und Türen, zerren Gäste aus dem Lokal, treten auf sie ein. Vier Besucher werden verletzt, einer davon durch Messerstiche. Die Angreifer können wenige Straßen entfernt festgenommen werden, darunter Kahlin. Anhand der Video-Aufnahmen hatten Antifa-Gruppen schon nach wenigen Tagen etliche der Täter identifiziert – doch die Staatsanwaltschaft erhob erst 2012 Anklage. Die Auswertung des Videos sei sehr aufwendig gewesen, hieß es zur Begründung.

Jedenfalls blieb Kahlin auf freiem Fuß und prügelte weiter. 2011 attackierte er einen Kneipenwirt, der die Skinheads aufgefordert hatte, sein Lokal zu verlassen. Diesmal immerhin kam es schnell zum Prozess, doch die Richterin wertete Kahlins Angriff als unpolitisch und verhängte erneut Bewährung. Erst als er im November 2011 auf dem Weihnachtsmarkt zwei Migranten bewusstlos prügelte, kam er erneut in U-Haft.

Kahlin gehört zur »Skinheadfront Dorstfeld«, der neben den Autonomen Nationalisten zweiten Dortmunder Neonazi-Gruppierung. Sie ist deutlich kleiner als die Szene um Dennis Giemsch und im Auftreten ein unübersehbarer Kontrast. Die knapp 15 Mitglieder und ihr Umfeld zelebrieren den rechten Skinheadkult exakt so, wie er in den Achtziger- und Neunzigerjahren weit verbreitet war und heute kaum noch zu finden ist: mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefel. Das Durchschnittsalter der Skinheadfront liegt weit höher als bei den AN, gewalttätig ist auch sie.

Die Gruppen pflegen ein zwiespältiges Verhältnis. Als die jungen Autonomen Nationalisten vor ein paar Jahren immer häufiger in ihren neumodischen Klamotten auftauchten, stießen sie bei den älteren Nazi-Skins anfangs auf vehemente Ablehnung. Die empfanden Kapuzenjacken und Turnschuhe als Erkennungszeichen der Linken und warfen, wie Szene-Aussteiger berichten, den AN »Verrat an den Idealen der Bewegung« vor. Umgekehrt sahen die Autonomen Nationalisten in den Glatzen einen undisziplinierten Haufen von Säufern, die zu ernsthaften Aktionen kaum fähig seien. In der Tat ist die Skinheadfront nie mit politischen Aktionen aufgefallen. Der Gruppe geht es vor allem um gemeinsamen Alkoholkonsum, den Besuch von Rechtsrockkonzerten und der Zurschaustellung rechtsextremer Tätowierungen auf der eigenen Internetseite.

[34]Über die Jahre aber näherten sich beide Gruppen langsam an. Die Skinheadfront unterstützt mit ihrer Teilnahme inzwischen fast alle Aufmärsche der AN. Diese überlassen im Gegenzug den Skins ihre Räume für Veranstaltungen. Und Dennis Giemsch hostet ihre Internetseite. Der Konflikt zwischen alten und neuen Neonazis ist entschärft. Eine gewisse Distanz jedoch bleibt bestehen, so fahren beide Gruppen ausschließlich in getrennten Bussen zu bundesweiten Nazi-Aufmärschen.

Für die Nachwuchsrekrutierung der extremen Rechten hat sich die Zweiteilung der Szene sogar als hilfreich erwiesen: Wer sich mehr vom martialischen Skinheadkult angezogen fühlt, geht zur einen Gruppe; wer es lieber poppig und aktionsorientiert haben möchte, findet in der anderen seine Heimat. Augenfällig ist auch der unterschiedliche Umgang mit Gewalt: Während die Skinheads ihre Taten meist spontan im Rausch verüben, sind jene der Autonomen Nationalisten in der Regel gezielt vorbereitet und geplant.

Seit Herbst 2011 amtiert in Dortmund ein neuer Polizeipräsident, und mit Norbert Wesseler soll ein frischer Wind einziehen. Der Schock über die Aufdeckung der NSU-Mordserie kam genau zu der Zeit, als er seine Stelle antrat. Eine der ersten Amtshandlungen Wesselers war die Einrichtung einer »Besonderen Aufbau-Organisation« gegen Rechtsextremisten. Szenekundige Beamte vom Landeskriminalamt und anderen Stellen sollen darin ihre Kräfte bündeln und den Verfolgungsdruck auf Neonazis verstärken. »Wir wollen denen richtig auf den Füßen stehen«, sagt Wesseler. »Es muss klar werden, dass es hier keinen Raum für Rechtsextremisten gibt.« Das Land hat Extrapersonal bereitgestellt, und auch Wesseler ordnete zusätzliche Beamte ab. Parallel dazu gründete das städtische Ordnungsamt eine »Taskforce«, die in Dorstfeld künftig jedes kleinste rechtsextreme Vergehen ahnden soll. Plakate, Aufkleber und Schmierereien sollen immer sofort entfernt werden – keine Aktion soll mehr stattfinden können, ohne dass der Staat eingreift.

Als »Null-Toleranz-Strategie« bezeichnet die Stadt das Konzept. Wesseler will Dortmund »unattraktiv« für die Rechtsextremisten machen und hofft, den Stempel »Nazihochburg« irgendwann loszuwerden. Er weiß, dass die Stadt dafür einen langen Atem braucht. Eine Bewährungsprobe für den Polizeipräsidenten wird der jährliche Großaufmarsch der Autonomen Nationalisten im September. Noch 2011 wurden alle Sitzblockaden von Gegendemonstranten geräumt, teilweise sehr ruppig und unter Einsatz von Pfefferspray. Die Debatte, ob das gerechtfertigt war, wurde bis hinauf in den Düsseldorfer Landtag geführt. Die Dortmunder Anti-Nazi-Initiativen erwarten von Wesseler, dass die Polizei sensibler mit den Protesten umgehe. Sie wollen im September erneut mit Tausenden Bürgern versuchen, den braunen Marsch zu stoppen und haben dabei die Rückendeckung des Oberbürgermeisters. »Ich sage ganz klar, Sitzblockaden sind legitim«, erklärte der Sozialdemokrat Ullrich Sierau öffentlich.

Manche Aktion der Neonazis aber lässt sich selbst mit höchstem Polizeieinsatz nicht verhindern. Am Tag vor Heiligabend 2011 klingelte ein »Nationaler Weihnachtsmann« in rotem Kostüm und mit weißem Rauschebart an der Tür von Sieraus Privathaus und drückte seiner überraschten Frau ein makabres Geschenk in die Hand: Eine Flasche Wein für die Eltern und eine Nazi-CD für die Kinder lagen in dem Paket.[13]

Die Botschaft war klar: Wir wissen, wo ihr wohnt.

 

PS.: Am 23. August 2012 wurde der »Nationale Widerstand Dortmund«...

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