Einführung
In dem vorliegenden Buch werden hauptsächlich Fallgeschichten dargestellt, mit denen ADLER zeigt, wie er sich die Behandlung neurotischer Störungen gedacht und wie er sie praktiziert hat. Diese Darstellungen sind verwoben mit wichtigen Passagen, die zur Theorie seelischer Gesundheit, der Neurose und ihrer Entstehung Stellung nehmen. In diesen Ausführungen nimmt die soziale »Nützlichkeit« einen so hervorragenden Platz ein, daß sie zurecht als das individual-psychologische Kriterium für seelische Gesundheit oder Krankheit angesehen werden kann. Nun hat dieser Terminus nach mehr als 50 Jahren (zumal nach den faschistischen Perversionen der Nützlichkeitsbegriffe im »Holocaust«) ohne Zweifel seine Überzeugungskraft verloren. Darüber hinaus ist in der Psychiatrie und in der Klinischen Psychologie unter den Stichworten »soziale Abweichung« (Devianz) und »Psychotherapie als Anpassung an eine Norm« so viel über das Verhältnis von sozialen Forderungen, ihrer Erfüllung oder Nichterfüllung und die Etikettierungen von bestimmten Eigenheiten als abnormal bzw. »krank« diskutiert worden, daß der Terminus »Nützlichkeit« nicht unkommentiert stehen bleiben kann, wenn er nicht zu Kurzschlüssen hinsichtlich der zugrunde liegenden Theorie Anlaß geben soll.
Der Begriff der »Nützlichkeit« hat eine Geschichte und einen theoretischen Hintergrund, und ohne diese beiden Bezugsrahmen wird man im Verständnis der individualpsychologischen Neurosenlehre leicht in die Irre geführt. Deshalb soll im folgenden aufrißartig versucht werden, im Anknüpfen an die früheren der klassischen Psychoanalyse näherstehenden Vorformen des ADLERschen Neuroseverständnisses den Zugang zu seinen späteren weiterentwickelten Auffassungen zu finden.
Wie FREUD, so geht auch insbesondere der frühe ADLER davon aus, daß das neurotische Geschehen sich aus einem Konflikt heraus entwickelt. Der ursprüngliche »primäre« Konflikt ist einer, der »zur Unausgeglichenheit und Zaghaftigkeit dieser Kinderseele führte«[1]. Er »muß in dem Zusammenstoße seiner Triebe und einer sie verurteilenden Instanz gelegen sein, wobei eine kleine Erfahrung peinlicher Erlebnisse (Organempfindlichkeit, Blamagen, Strafen) zur Intoleranz gegen Herabsetzung führte«[2]. Von diesem Ausgangspunkt aus haben sich in der ADLERschen Neurosenlehre einige Entwicklungen ergeben, die im folgenden skizziert werden sollen.
So sind als Ausgangspunkt der Neurose neben die Organminderwertigkeit, über die ADLER 1907 eine bedeutende Abhandlung[3] geschrieben hat, zweitens die Folgen der Verwöhnung und drittens die Folgen der Vernachlässigung bzw. die Folgen einer autoritären oder haßerfüllten Unterdrückung in der Erziehung getreten; hier ist von Einflüssen die Rede, die das aufkeimende Selbstwertgefühl in seiner Wurzel erschüttern und auf diese Weise zu Minderwertigkeitsgefühlen und der damit verbundenen neurotischen Überempfindlichkeit führen können. Solche Überempfindlichkeiten, die ADLER seit 1909[4] betont, äußern sich darin, daß die notwendige Auseinandersetzung mit den entwicklungsspezifischen Unlust- und Unfähigkeitsgefühlen, das kompensatorische Herangehen (lateinisch: ›adgredi‹), übertrieben oder zaghaft, hektisch oder zögernd, auf jeden Fall aber nicht situationsangemessen und wenig erfolgreich verläuft. Adler, der damals[5] noch den Triebbegriff benutzte, definiert den (wortgeschichtlich aus dem ›adgredi‹ abgeleiteten) Begriff Aggressionstrieb so: »daß es sich dabei um eine Leistung der Kultur handelt, die für die Entwicklung der Menschheit notwendig war, insofern als Vorausdenken und Vorausfühlen nur durch diesen Umweg über eine gehemmte Aggression zustande kommen konnte«.
Im »normalen« d. h. individualpsychologisch gesprochen: In dem nicht von verschärften Minderwertigkeitsgefühlen angekränkelten Seelenleben, gelingt es, das ›Adgredi‹, das Herangehen an Menschen und Dinge so zu steuern, daß es auf die jeweiligen Forderungen der Situation und der sozialen Umgebung abgestimmt (was nicht heißt: passiv angepaßt!) bleibt. Das in der Natur angelegte ›Adgredi‹ wird angereichert durch neue, z. B. sachliche und auf die Gemeinschaft bezogene, Gesichtspunkte. ADLER spricht in diesem Zusammenhang von der »kulturelle(n) Aggression«[6] im Sinne einer situationsangemessenen Kompensation eines bestehenden Unlustgefühls. In der im gesteigerten Gefühl der Minderwertigkeit entstandenen Überempfindlichkeit mißlingt dagegen der Kompensationsmechanismus, das ›Adgredi‹ gestaltet sich archaisch und wild: das »Minderwertigkeitsgefühl führt nämlich zu einer egoistischen feindseligen Aggressionsstellung«[7]; das Handeln bleibt blind auf sich bezogen, bleibt stecken im eigenen eingegrenzten Horizont und bleibt – weil es mangels Angemessenheit in der Umwelt nichts auszurichten vermag – nicht selten zerstörerisch gegen die eigenen Intentionen gerichtet (Symptomatik).
Die bis hierhin noch kausalistisch anmutende Denkstruktur wird in der weiteren Entwicklung der Adlerschen Gedankengänge durch die finale Dimension erweitert: Je mehr sich nämlich die Symptomatik – die Überempfindlichkeit und ihre hemmenden Folgen – im Sinne einer ungenügenden körperlichen Ausstattung hinderlich auf alle Handlungsvollzüge auswirkt, umso mehr erscheint der Betroffene vor sich und seiner Umgebung entschuldigt. Die Neurose ist dadurch charakterisiert, daß diese Zusammenhänge von dem Betroffenen nicht verstanden werden, ihm unbewußt bleiben. Er leidet an den Folgen der neurotischen Konstellation (Angst; Symptomatik) und nutzt sie gleichzeitig für sich aus (Entschuldigungs-Arrangement) ohne sie zu verstehen; kurz: der Betroffene erscheint sich selber entfremdet, immer nur gelähmt vor Angst und ohne Spürsinn dafür, daß er sich in seine Angst selber weiter hineinsteigert, sich selber lähmt, sich selber außer Kraft setzt und sich entweder dadurch oder im unsinnig übersteigerten Aufbäumen dagegen letztlich zerstört. Entweder fühlt der Patient sich nur als Objekt und Produkt oder aber ausschließlich als Subjekt und Produzent seiner Verhältnisse: die mangelnde Einsicht in die Dialektik menschlicher Lebensbedingungen und in ihre Zusammenhänge, die Tatsache, daß der Mensch mehr weiß als er versteht, machen in der entwickelten Lehre ADLERS das Zentrum des Unbewußten aus und nicht irgendwelche Triebe, Triebabkömmlinge und -repräsentanzen, die als Teile des Ganzen das unteilbare Individuum nie überlisten könnten, wenn dieses ihnen nicht bewußt oder unbewußt eine Möglichkeit dazu einräumte.
Der ursprüngliche Konflikt zwischen dem unbefriedigenden Selbstwerterleben und dem unstillbaren Bedürfnis, es durch entsprechend übersteigerte Ansprüche auf einem zufriedenstellenden Pegel zu halten und zu stabilisieren, wächst sich teufelskreisartig aus: ein überkompensatorisch überhöhtes Ziel, (z. B. »Vollkommenheit«, Überlegenheit über alle, Perfektionismus im Leistungsbereich) und die von eben dieser überkompensatorischen Tendenz angekränkelte Mittelwahl führen zu immer größeren Abweichungen zwischen den Ist- und Soll-Lagen des Selbstwertgefühls. Wenn das Kind schon sehr früh in derart intensiv erlebte und überkompensatorisch bearbeitete Zweifel an seinem Wert verwickelt war, scheint der weitere Weg nach ADLER vorgezeichnet: »Man gewinnt dabei den Eindruck, daß alle späteren Konflikte zur manifesten Neurose führen können, sobald der primäre, aus der Organminderwertigkeit stammende innere Widerspruch besteht«.[8] Es ist also nicht so, daß die Individualpsychologie den Konflikt als Kategorie der Darstellung der Neurose nicht kennte; was sie lediglich in Frage stellt/ablehnt, ist die Vorstellung eines Konfliktes zwischen unabhängig gedachten reifizierten Instanzen im Individuum. Statt dessen sieht die Individualpsychologie den Menschen als Ganzes gattungsmäßig vor Aufgaben gestellt, die er mit seiner angeborenen Anlage als solcher nicht bewältigen kann; vielmehr muß diese Anlage entwickelt werden, was ohne einen wohlwollenden Bezug zur Gemeinschaft der anderen, ohne die Weitergabe und Übernahme von allgemeingültigen Gütern wie Logik und Sprache und ohne die Übermittlung eines tragenden Selbstwertgefühls (»Urvertrauen«) durch Wärme und Beachtung der Bezugspersonen nicht möglich wäre. Allerdings hat der Konflikt als Gegebenheit und Zustand in diesem System nicht den entscheidenden Stellenwert; entscheidend ist vielmehr seine Weiterführung in der Bewegung, die als Streben nach Überwindung und als Kompensation bezeichnet wird. Das Streben nach Überwindung von Mangellagen kann gefährdet werden oder als gefährdet erscheinen, weil in der Kindheit die lebensnotwendige Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen oder Umgang mit der »Logik des Zusammenlebens« nicht oder nicht konsequent genug entwickelt wird.
In der weiteren Entfaltung der individualpsychologischen Neurosenlehre darf nun eine Tatsache nicht vergessen werden: die Einführung und Weiterentwicklung des Konzepts des »Gemeinschaftsgefühls«. Auf dem Wege der Ausformung seiner Theorie entdeckte ADLER dieses Phänomen zunächst als Gegenkraft gegen den Aggressionstrieb; als solcher Gegenkraft werden dem »Gemeinschaftsgefühl« in Adlers Theorie die Funktionen...