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E-Book

Nicht auf den Kopf!

Meine persönlichen Erfahrungen mit Gewalt in der Familie

AutorMarkus Breitscheidel
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783843712484
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Gewalt in der Familie ist ein Tabuthema - obwohl Jugendämter jährlich 45.000 Kinder deshalb in Obhut nehmen. Die Dunkelziffer liegt noch deutlich höher. Markus Breitscheidel wurde in seiner Kindheit und Jugend selbst Opfer von massiver Gewalt in der Familie. Mit diesem Buch liefert er uns einen emotional packenden Blick in den Alltag eines Kindes, das mit der allgegenwärtigen Angst aufwächst, geschlagen und gedemütigt zu werden. Und er beschreibt, wie Nachbarn, Lehrer, Ärzte, aber auch seine Großeltern jahrelang über die Gewaltexzesse seines Vaters hinwegsahen. Bestsellerautor Markus Breitscheidel stößt mit diesem sehr persönlichen Buch eine längst überfällige gesellschaftliche Debatte über das Tabuthema Gewalt in der Familie an.

Markus Breitscheidel, Jahrgang 1968,  war Marketingleiter einer großen Werkzeugfirma. Sein Buch »Abgezockt und totgepflegt«, ein Undercover-Bericht über die Zustände in deutschen Pflegeheimen, wurde zum Bestseller und löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus.   Der Autor ist bei allen Medien bekannt und als Experte gefragt.

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Leseprobe

Der erste Schultag


Am Morgen des ersten Schultags herrschte Hektik im Hause Breitscheidel. Während ich fein zurechtgemacht, die mit Süßigkeiten gefüllte Schultüte schon im Arm, ungeduldig im Hausflur stand, hantierte meine Mutter noch an ihrer Hochfrisur herum. Mein Vater hielt es wohl nicht für nötig, an einem solchen Tag dabei zu sein. Da meine Mutter keinen Führerschein hatte, machten wir uns zu Fuß auf. Wir mussten etwa einen Kilometer in den Nachbarort Dohr laufen. Mit jedem Schritt in Richtung Schulgebäude war ich aufgeregter. Erst als ich vorm Eingang Michael und seine Eltern entdeckte, ließ das etwas nach. Sicher neunzig Kinder mit ihren Eltern hatten sich eingefunden. Der Rektor versuchte erst mal Ruhe in die Menschenmenge zu bringen. Sein Ton war laut und bestimmt. Mir machte es sogar Angst, als er mit scharfer Stimme die Kinder in drei Gruppen aufteilte.

Michael und ich hatten das Glück, gemeinsam in eine Klasse zu gehen. Immer noch nervös standen wir vor der Klasse. Für die nächsten vier Jahre sollte ausgerechnet der strenge Rektor unser Klassenlehrer sein. Er öffnete die Tür, teilte uns in alphabetischer Reihenfolge die Sitzplätze zu und gab uns dann als Hausaufgabe, für den nächsten Tag ein Namensschild anzufertigen. Dann durften wir schon wieder gehen.

Als ich meine Mutter samt meiner Schultüte wiedergefunden hatte, wurde ich ruhiger. Michaels Vater nahm uns in seinem Auto mit nach Hause. Mein Vater hatte für diesen Tag zwar freibekommen, verbrachte ihn aber lieber mit seinen neuen »Freunden« in der Stammkneipe. Ich gebe zu, als er zum Abendessen immer noch nicht zu Hause war, wurde ich nervös. Und die anderen waren auch nicht gerade fröhlich. Unsere Mutter brachte uns ins Bett, las uns noch eine Gutenachtgeschichte vor, küsste uns zur Nacht und löschte das Licht, bevor sie den Raum verließ.

»Markus?«, fragte Oliver. Kurze Pause. »Ja?«, fragte ich zurück. »Können wir das Licht anlassen? Ich hab Angst im Dunkeln.«

Gute Idee, dachte ich. Und stand auf, um das Licht wieder anzumachen. Angst hatten wir anscheinend beide. Ich tat ihm gegenüber einfach so, als hätte ich alles unter Kontrolle. »Ich schließe einfach das Zimmer ab. Okay? Dann sind wir sicher.«

Wir schliefen bei Licht ein. Bei dem kleinsten Geräusch jedoch schreckte ich auf. Mitten in der Nacht polterte es auf der Treppe. Ich hörte Schritte, hörte die Schlafzimmertür zuklappen. Und dann wieder Ruhe. Zunächst. Ich war gerade wieder eingenickt, da hörte ich meine Mutter auf dem Flur schreien. »Nein, nicht wieder die Kinder. Lass die Kinder in Ruhe!« Jemand ruckelte an unserer Zimmertür. Drückte die Türklinke. Rauf und runter. Ganz schnell. Oliver wurde auch wach. Er weinte. Es konnte nur mein Vater sein. Ich saß wie versteinert auf dem Bett. Was hat er vor? Er ließ die Tür los. Kurze Stille. Dann hörten wir, wie er unsere Mutter schlug. Dann wieder Stille. Schlafen konnte ich in dem Moment nicht mehr. Dachte ich. Hilflos fühlte ich mich. Mir saß die Angst in den Knochen. Wusste nicht, was ich machen sollte. Oliver schlief wieder ein. Ich muss auch wieder eingeschlafen sein. Meine Mutter weckte uns am nächsten Morgen. Ich war hundemüde. Aber ehrlich gesagt froh, dass ich zur Schule konnte. Weg aus dem Haus. Weg von meinem Vater. Erst beim Frühstück sah ich, wie er meine Mutter zugerichtet hatte. Ihr Gesicht war so angeschwollen, dass sie auf einem Auge nichts sehen konnte. Was ich von Armen und Beinen sehen konnte, war voller blauer Flecken. Sie verlor kein Wort darüber.

Ich verließ zwar das Haus, musste aber ständig an sie und Oliver denken. Bis ich auf halber Strecke zur Schule Michael traf. Der Rest des Weges gemeinsam mit ihm lenkte mich ab.

In unserer katholischen Schule war es üblich, vor dem Unterricht zu beten. An diesem Morgen war ich so verzweifelt, dass ich das erste Mal Gott um Hilfe bat. Er sollte bitte auf Oliver und meine Mutter aufpassen. Wieso ich nicht auch um Hilfe für mich bat, weiß ich bis heute nicht.

An diesem Morgen stellten wir uns reihum einander vor. Ohne große Kommentare lauschten wir. Und auch Herr Fischer, unser Klassenlehrer. Bis Melanie fertig war. Als sie sich hinsetzen wollte, hakte Herr Fischer ein.

»Ich sehe gerade in meinen Unterlagen, dass du ja überhaupt nicht getauft bist.« – »Ja, und?«, fragte Melanie. »Du hast also überhaupt keinen Namen. Setz dich sofort in die hinterste Reihe.«

Wir saßen erschrocken da, schauten uns an. Melanie wurde rot. Sie blieb an ihrem Platz stehen und konterte: »Natürlich habe ich einen Namen! Ich heiße Melanie!« Herr Fischer blieb dabei. Für ihn hatte sie keinen.

»Du bist nicht getauft, also hast du auch keinen Namen! Jetzt sofort nach hinten – aber dalli!«

Ups, damit hatte ich nicht gerechnet. Was kann sie denn dafür? Dachte ich bei mir. Das sollte für Melanie aber noch nicht alles gewesen sein. Einige Schüler hatten nichts Besseres zu tun, als sie in den Pausen aufzuziehen. »Du hast keinen Namen! Du hast keinen Namen!«, sangen sie gehässig. Immer wieder. Sie hatte kaum eine Chance. Mit dem Gefühl kannte ich mich aus. Vielleicht konnte ich deshalb auch so schlecht ertragen, wie sie behandelt wurde.

Zu dieser Zeit spielten wir in fast allen Pausen Völkerball. Melanie war noch nie in eine Mannschaft gewählt worden. Als ich das erste Mal eine Mannschaft zusammenstellen konnte, nutzte ich die Gunst der Stunde und holte sie in meine Gruppe. Sie spielte super. Plötzlich war sie in der Klasse akzeptiert – und zwar als Mädchen Melanie. Verstehe das, wer will.

Die Zeit bis zu den Herbstferien verging schnell. Schule war zwar gut, aber die freie Zeit war besser. Die Ferien verbrachten Wolfgang und ich bei den Großeltern an der Mosel. Hier halfen wir, die reifen Trauben zu ernten. Den ersten Versuch, mit meinen Großeltern über die Exzesse meines Vaters zu sprechen, wiegelten sie sofort ab. Das sei kein Thema, was in ihrem Hause besprochen würde, bestimmte mein Opa. Wolfgang wollte nicht riskieren, diesen für ihn sicheren Ort zu verlieren. Also schwieg er. Ich war hin und her gerissen. Ich brauchte hier zum Schlafen kein Licht, die Tür konnte offen bleiben. Ich, ja, wir hatten hier nichts zu befürchten. Trotzdem war ich immer noch enttäuscht von meinen Großeltern. Konnte einfach nicht vergessen, dass sie meine Mutter und uns Kinder wieder nach Hause geschickt hatten. Am Ende der zwei Wochen war ich mal wieder fest entschlossen, nie wieder bei ihnen meine Ferien zu verbringen.

Die ersten Schultage zogen so an mir vorbei. Ich hatte mich gerade in unserem neuen Haus wieder eingelebt, da ging es wieder los. Mein Vater kam nach der Arbeit nicht nach Hause. Meine Mutter brachte uns wie üblich ins Bett. Sie war fahrig, und auch uns war es nicht geheuer. Wir ließen das Licht an. Und die Tür habe ich auch verschlossen. Mitten in der Nacht krachte es laut. Draußen.

Als ich zum Fenster ging, sah ich, dass mein Vater das Auto mit Wucht vor den Pfeiler in der Garagenauffahrt gesetzt hatte. Er versuchte sich aus der eingeklemmten Fahrertür zu befreien. Um die Haustür aufzuschließen, brauchte er auch einige Zeit. Wohl wieder betrunken. Richtig voll war er. Ich hörte nur, wie er lang auf den Marmorboden fiel. Ich saß zitternd im Bett und konnte nicht wieder einschlafen. Nach etwa einer Stunde hörte ich die Badezimmertür. Die Tür knallte so laut zu, dass Oliver wach wurde. Er fing an zu weinen. Ich verkroch mich panisch unter der Bettdecke und begann zu beten. Was anderes fiel mir nicht ein. Dann hörte ich, wie mein Vater die Treppe herauftorkelte. An unserer Tür vorbei. Ins Schlafzimmer. Ich schlotterte. Mit Schrecken stellte ich fest, dass ich mir vor Angst in die Hose gemacht hatte. Ich traute mich nicht, einen Ton von mir zu geben. So blieb ich regungslos unter der Decke auf der nassen Matratze. Hier fühlte ich mich am sichersten. Dann polterte es wieder. Die Türklinke bewegte sich. Mehrmals, vergeblich. »Macht sofort das Zimmer auf!«, hörte ich ihn schreien, während er versuchte, die Tür zu öffnen. »So weit kommt es noch! Ich! In meinem eigenen Haus! Vor verschlossener Tür!«

Selbst wenn wir gewollt hätten, wir hätten nicht reagieren können. Wie versteinert saßen wir in unseren Betten. Mein Vater brüllte weiter, schlug gegen die Tür. Wir machten nichts. Dann wurde es für einige Sekunden totenstill, bis er mit voller Kraft gegen die Tür knallte. Der Türrahmen riss. Angespornt durch den ersten Erfolg, nahm er noch zweimal richtig Anlauf, und dann knallte die Tür mit Rahmen auf den Boden unseres Zimmers. Er stürmte in das Zimmer, zerrte Oliver aus dem Bett in die Mitte des Raums.

Völlig regungslos schaute ich zu, wie er Oliver mit den Fäusten schlug und ihn trat. Plötzlich wandte er sich mir zu, riss mich aus dem Bett und ließ mich neben Oliver auf den Boden fallen. In diesem Moment tauchte meine Mutter auf. Mit letzten Kräften aus ihrem Zimmer in den Flur und schrie verzweifelt:

»Nicht auf den Kopf. Werner. Nicht auf den Kopf! Lass die Kinder!«

Er stank nach Alkohol. Mein Vater drosch auf uns ein, bis ihm die Kräfte ausgingen. Erst als meine Mutter sich schluchzend über uns warf, ließ er endlich ab und verschwand. Wohin, weiß ich nicht. Meine Mutter versorgte unsere Wunden. Gemeinsam hoben wir das Türblatt mit Rahmen auf und wuchteten es notdürftig wieder dahin, wo es hingehörte. Dabei versuchten wir so leise wie möglich zu sein, um bloß meinen Vater nicht wieder zu reizen. Die restliche Nacht verbrachten wir gemeinsam in Wolfgangs Zimmer. Der hatte diesmal nichts abbekommen. Meine Mutter holte Olivers Matratze in das Zimmer. Meine war ja nass. Ich schämte mich. Meine Mutter gab mir eine trockene...

Blick ins Buch

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