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E-Book

Nichts ist jemals vollendet

Die Autobiografie

AutorAvi Primor
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783732506453
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR

Dass Avi Primor 2013 gemeinsam mit dem Palästinenser Abdallah Frangi mit dem Friedenspreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet wurde, ist kein Zufall. Längst ist Primor für sein Engagement für die Aussöhnung zwischen Israel und Deutschland bekannt. Sein Einsatz ist nicht als selbstverständlich: Nur durch Zufall entging seine Mutter dem Holocaust. Aussöhnung auch zwischen Israelis und Palästinensern: Mit seiner Art, Missstände im Umgang mit den Palästinensern offen anzusprechen, machte er sich in seiner Heimat Israel nicht nur Freunde. Hier erzählt Avi Primor von seiner Arbeit als Botschafter Israels und davon, was ihn zu dem Brückenbauer machte, als der er heute gewürdigt wird.

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Ein paar Worte vorweg


Memoiren zu schreiben sollte eigentlich nicht kompliziert sein. Nicht nur kennt man seine eigene Geschichte, sondern es geht doch hier um die Vergangenheit, und die ist eher etwas, womit man vertraut ist. Was Angst macht, ist die Zukunft. Die Zukunft ist uns unbekannt, unverständlich oder bedrohlich. Aber mit der Vergangenheit ist man vertraut. Selbst wenn es Unannehmlichkeiten in der Vergangenheit gab, hat man längst gelernt, wie man sich damit abfindet, und findet die Vergangenheit beschaulich. Diese Vergangenheit kann man auch immer neu gestalten.

Ich glaube aber nicht, dass es wirklich so einfach ist. Und wenn ich an die Vergangenheit denke, so denke ich auch an die Zukunft, in der Überzeugung, dass nichts jemals vollendet ist.

Ich beginne das Schreiben meiner Memoiren in Tel Aviv, im Juni 2014, in einer Atmosphäre der Spannung im Lande. Schon wieder. Seit der Entstehung Israels leben wir in dieser erhöhten Spannung und gewöhnen uns trotzdem nicht daran. Diesmal geht es um die Entführung von drei israelischen Jugendlichen in einem Siedlungsgebiet im Westjordanland. Vermisste Israelis sorgen immer für eine große Aufregung im Land und für einen Aufruf der Bevölkerung an die Regierung, alles Mögliche zu tun, um die Verschollenen zu finden.

Was heißt alles? »Alles« heißt eine Sperrung des Westjordanlandes, die wiederholte Sperrung von Dörfern, Stadtteilen oder ganzen Städten und die Durchsuchung von Tausenden von Wohnungen. Die Filme und Bilder von diesen Durchsuchungen sind schwer zu verdauen. Die Grausamkeit des Einbruchs der Soldaten in der Mitte der Nacht in die Wohnungen der meistens unschuldigen Bürger, der Angriff der Hunde, der Schrecken der Kinder sind Dinge, die seit Beginn der Besatzung vor 47 Jahren nicht neu sind. Und dennoch …

Während ich dies schreibe, berichten die Zeitungen vom Tod eines ehemaligen Chefs des israelischen Geheimdienstes, Avraham Shalom, der im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Der Mann war nicht nur einer der bekanntesten Geheimdienstchefs, sondern wahrscheinlich auch als einer der grausamsten bekannt. Das geht natürlich auf seine Behandlung der Palästinenser in den besetzten Gebieten zurück. Dennoch stand Avraham Shalom in dem berühmten Film über den israelischen Innengeheimdienst Schabak, The Gatekeepers, für ein Interview zur Verfügung. Er kritisiert die israelische Politik in den Gebieten und vor allem die Besatzung. Unter anderem sagt er ganz klar: »Was wir in den Gebieten betreiben, ist genau das, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, abgesehen vom Holocaust und den Konzentrationslagern, in ihren besetzten Gebieten getrieben haben.«

Mich trifft das hautnah. Mein ältestes Enkelkind ist seit zwei Jahren im Militärdienst. Es dient in der Elitekampfeinheit, die die Hunde für diese Arbeit ausbildet und mit ihnen palästinensische Häuser durchsucht. Der Vater dieses Enkelkinds, mein ältester Sohn Adar, erzählte mir, er habe seinen Sohn gefragt, was genau er in diesen besetzten Gebieten mache. Der Junge, Noam, an sich ein sehr sanfter und liebenswürdiger Junge, antwortete seinem Vater: »Lass das, Papa. Du bist ein Liberaler, es ist besser für dich, wenn du es nicht weißt.«

Mir dreht sich der Magen um. Seit meiner Kindheit und meiner Leidenschaft für einen friedlichen jüdischen Staat sind schon fast achtzig Jahre vergangen, und ich kann nur sagen: Nichts ist jemals vollendet.

Eine Autobiografie, eine Geschichte, die man über sich selbst erzählt, wird oft mit ein wenig Argwohn betrachtet. Man denkt, jedem Menschen, der über sich selbst schreibt, wird vor allem daran gelegen sein, sich in einem guten Licht darzustellen. Friedrich Nietzsche schrieb: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.«

Noch schlimmer ist, dass Erinnerungen oft verschwommen sind. Oft ist man ehrlich der Meinung, dass man etwas genau in Erinnerung hat, und ist sich nicht bewusst, dass man die Geschehnisse im Kopf falsch abgespeichert hat.

Zwei solcher Geschichten habe ich persönlich erlebt.

1970 starb der 80-jährige General de Gaulle. Obwohl er schon nicht mehr Staatspräsident war, stand ihm ein Staatsbegräbnis zu, und in Frankreich und weltweit herrschte das Gefühl, einem historischen Ereignis beizuwohnen. De Gaulle wollte kein Staatsbegräbnis, sondern hatte sich eine intime Beerdigung im Kreise seiner Familie in seinem Dorf Colombey-les-Deux-Églises gewünscht. In Paris wurde dennoch ein Staatsakt in Notre-Dame ausgerichtet. Zu diesem Staatsakt kamen Staatsoberhäupter und Prominente aus aller Welt.

Obwohl die Beziehungen zwischen Frankreich und Israel zu diesem Zeitpunkt regelrecht schlecht waren und obwohl, zumindest vom israelischen Blickwinkel aus gesehen, de Gaulle daran schuld war, entsandte Israel seinen Staatspräsidenten Zalman Shazar sowie den pensionierten ehemaligen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion. Niemand in Frankreich wusste, wer Shazar war, aber Ben-Gurion sorgte für Aufsehen. Nicht nur, weil er der legendäre israelische Staatsgründer und langjährige Ministerpräsident war, sondern auch und besonders weil bekannt war, dass er mit de Gaulle auch korrespondiert hatte, als die Beziehungen zwischen den beiden Staaten merklich abgekühlt waren. Von allen Seiten wandten sich Journalisten an mich, der ich damals Sprecher der Botschaft war, und bewarben sich um ein Interview mit Ben-Gurion. 1970 war Ben-Gurion schon gesundheitlich angeschlagen und sehr geschwächt. Es wurde daher entschieden, dass er nur einen einzigen Journalisten empfangen würde, und ich wurde gebeten, diesen Journalisten auszusuchen. Ich entschied mich für den Leiter des Außenressorts der Tageszeitung Le Figaro, Yves Cuau, der ein großer Kenner der Weltpolitik und unter anderem Korrespondent seiner Zeitung in Deutschland und Kairo war und Israel mehrfach besucht hatte. Er hatte zugegebenermaßen auch einen Vorteil, weil er mein persönlicher Freund war 

Das Treffen fand in der Suite Ben-Gurions statt. Im dortigen Wohnzimmer befand sich ein kleiner runder Tisch mit drei Stühlen, an den sich Ben-Gurion, Yves Cuau und ich als Dolmetscher setzten. Neben uns stand ein Sofa, auf dem sich der israelische Botschafter in Paris und ehemalige Mitarbeiter von Ben-Gurion, Asher Ben-Natan (der erste israelische Botschafter in Deutschland), niederließ, um dem Gespräch zuzuhören. Ben-Gurion beantwortete gerne alle Fragen Cuaus und erzählte viel von seinen Gesprächen und von seiner Korrespondenz mit de Gaulle. Unter anderem berichtete er detailliert über ein Gespräch mit de Gaulle, das er geführt hatte, als die beiden in Bad Honnef bei der Beerdigung von Konrad Adenauer hinter dem Sarg hergingen.

De Gaulle, so Ben-Gurion, erzählte dabei von Gesprächen, die er mit Adenauer über Israel und den Nahen Osten geführt habe. Adenauer habe sich über das Verhältnis zu den arabischen Staaten Sorgen gemacht, die aufgrund der deutschen Beziehungen zu Israel auf ihn zukommen könnten. De Gaulle habe erzählt, er habe dem Kanzler einen Ratschlag gegeben: »Tun Sie, was ich in diesem Bereich tue. Meine Politik mit dem Nahen Osten ist eine Politik der Parallellinien. Ich unterhalte die besten Beziehungen zu Israel, ohne den arabischen Staaten zu erlauben, sich in diese Angelegenheit einzumischen. Parallel versuche ich, die Beziehungen zur arabischen Welt zu entwickeln, ohne den Israelis das Recht zu geben, mir ihre Meinung dazu kundzutun. So etwas können auch Sie sich erlauben.«

Dieser Geschichte folgten noch weitere Geschichten, bis nach eineinhalb Stunden der Adjutant Ben-Gurions kam, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass das Gespräch vorüber sei. Cuau bemerkte dies selbst, stand auf, und ich geleitete ihn hinaus. Ich begleitete ihn zum Hotelausgang, und er sagte mir, wie begeistert er von diesem Gespräch gewesen sei. Anschließend ging ich wieder hoch zu Ben-Gurions Suite, und als ich ankam, öffnete sich die Tür und Botschafter Ben-Natan trat heraus. Er sagte: »Komm, Ben-Gurion muss sich jetzt ausruhen. Lass uns kurz weggehen und später zurückkommen.«

Im Treppenhaus fragte er mich, wie ich das Gespräch empfunden habe. Ich sagte, es sei faszinierend gewesen und ich hätte viel daraus gelernt.

»Und was war für dich am interessantesten?«, fragte er weiter.

»Das Gespräch zwischen de Gaulle und Ben-Gurion bei Adenauers Beerdigung«, sagte ich.

»Du weißt doch, dass ich Botschafter in Deutschland war, als Bundeskanzler Adenauer starb«, sagte Ben-Natan. »Ben-Gurion war gar nicht da! Er ist zwar mit der Absicht nach Deutschland gekommen, zur Beerdigung zu gehen, dann aber im Hotel erkrankt und konnte der Beerdigung doch nicht beiwohnen. De Gaulle war da, ich auch, aber mit mir hat de Gaulle kein Gespräch geführt.«

Eine zweite Geschichte:

1977 war ich Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes in Jerusalem und Sprecher des Außenministers Yigal Allon. Zu dieser Zeit beschäftigten wir uns immer noch hauptsächlich mit der Durchbrechung der diplomatischen Barrikade Israels. Nicht nur waren wir aus der gesamten arabischen und islamischen Welt (mit Ausnahme der Türkei) ausgeschlossen, sondern auch aus der kommunistischen Welt und aus der Mehrheit der Entwicklungsländer in Afrika und Asien; selbst in Westeuropa gab es noch Länder, die Israel nicht anerkannt und mit ihm keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen hatten.

Zu dieser Zeit befand sich Portugal, ein Land, in dem wir ein Konsulat hatten, mit dem wir aber keine...

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