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'Nichts zu sehr'? Die Institutionen der Polis Athen in der Solonischen Nomothesie

AutorSilvia Bielert
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl131 Seiten
ISBN9783638594219
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Geschichte - Weltgeschichte - Frühgeschichte, Antike, Note: 1,0, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Institut für Alte Geschichte), 232 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Im 7. und Anfang des 6. Jahrhunderts v. Chr. befand sich die Bürgergemeinschaft der pólis Athen in einer schweren inneren Krise. Die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten über ihre wirtschaftliche Notlage führte zu Aufruhr (stásis) und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Der Athener Solon (ca. 640-560 v.Chr.) soll seinen Mitbürgern geholfen haben, diese Krise zu überwinden und galt besonders im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. als großer Reformer und 'Gesetzgeber' (nomothétes). Sein Reformwerk umfaßte neben der sogenannten 'Lastenabschüttelung' (seisáchtheia) auch die schriftliche Fixierung von Rechtssatzungen (thesmoí); diese Maßnahme wird von den antiken Quellen und der modernen Forschung als nomothesía bezeichnet. Die Solonischen thesmoí behandeln eine Vielzahl von Bereichen des antiken Straf- und Familienrechts sowie des öffentlichen Rechts. Daneben wird Solon von den Quellen auch eine Münz-, Maß- und Gewichtsreform und die Ordnung der Bürgerschaft nach Klassen (téle) zugesprochen; beides dürften Bestandteile seiner nomothesía gewesen sein. Da Solon von der Geschichtsschreibung des 4. Jahrhunderts v. Chr. häufig als volksfreundlicher Begründer einer demokratischen pátrios politeía charakterisiert wird, soll in der vorliegenden Arbeit erörtert werden, inwieweit er auch das politisch-institutionelle System der sich noch in der Konsolidierungsphase befindenden pólis Athen neu konstituierte. Reformierte er die überkommene politische Ordnung oder sanktionierte er sie nachträglich? Ausgehend von einer Untersuchung der zugehörigen Überlieferung soll geklärt werden, inwieweit der dem Solon von Clemens von Alexandrien zugesprochene Sinnspruch Medén ágan - 'Nichts zu sehr' tatsächlich als Charakteristikum seines Reformwerkes gelten kann. Verteilte er die politische Macht neu oder veränderte Solon 'nichts zu sehr'? Wie wirkte sich die politische Reform auf die Teilhabe der einzelnen Bevölkerungsschichten an der pólis aus und welchen Beitrag leistete Solon für die Entwicklung Athens zum demokratischen Bürgerstaat?

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Leseprobe

B. VORBETRACHTUNGEN


 

 I. Die soziale Krise um 600 v.Chr.


 

 1. Die Ursachen[27]


 

Im 7. Jahrhundert befand sich Athen in einer schweren Krise, welche die Gemeinschaft bedrohte. Kontrovers diskutiert die Forschung sowohl die Faktoren, die diese Krise bedingten, als auch die Formen, in denen sie sich innerhalb der archaischen pólis äußerte. Auch wann sie ausbrach, ist nicht eindeutig festzustellen. Aristoteles ordnet ihr Erscheinen zeitlich nach dem Versuch Kylons, eine Tyrannis zu errichten (ca. 632), dem anschließenden Gerichtsverfahren gegen die Alkmeoniden und nach der Entsühnung der Stadt durch Epimenides ein.[28] Athen muß sich schon einige Jahre in dieser Situation befunden haben, als Drakon seine Gesetzgebung anstrengte (ca. 621/20);[29] der Putschversuch Kylons kann als das früheste Anzeichen einer politischen „Unordnung“ gewertet werden.[30] Ihren Höhepunkt erreichte die tumultuarische Lage nicht lange vor Solons Berufung zum diallaktés.

 

Obwohl Aristoteles und Plutarch Auskunft über die Zustände und Auswirkungen der Situation in der pólis geben, sagen sie nichts über die Ursachen. Mit Hilfe der Solonischen Gedichte wird jedoch rekonstruierbar, welche Umstände die pólis in diese Krise brachten. Dem sogenannten „Eunomiagedicht“, das Solon vor seiner Berufung öffentlich rezitiert haben muß, sind folgende Worte zu entnehmen:

 

 

Nicht der Zorn der Götter, sondern die Gier der Polisbewohner nach Reichtum, angeführt von den „Führern des Volkes“ (???????? ??? ?????), bewirkte „Aufruhr“ (??????) in Athen und verursachte Ungerechtigkeit und eine enorme Armut, die ihre Opfer sogar in die Sklaverei führen konnte (??????????).[31] Die Gier nach Reichtum prangert Solon in vielen erhaltenen Fragmenten seiner Gedichte an. Er erörtert die Unzulänglichkeiten des irdischen Reichtums, der nicht vor Unglück schützt und eine schlechte Gesinnung nicht ausgleicht.[32] Doch nicht die Bürgerschaft Athens allgemein macht er für die „Mißgesetzlichkeit“, die ????????,[33] wie er den Zustand der pólis beschreibt, verantwortlich. Seine Kritik an Habgier und unrechtem Tun gilt überwiegend der wohlhabenden Oberschicht, den hegemónes oder den „Herren“ (????????), wie er sie in seinem „Rechenschaftsgedicht“ nennt.[34] Den anderen wirft er lediglich vor, untätig zugesehen zu haben, wie die „Wohlordnung“ (???????) zerstört wird.[35] Was sich bei Solon wie anarchische Zustände anhört, in denen sich die hegemónes so viel aneigneten wie sie nur konnten ohne Rücksicht auf andere zu nehmen,[36] wird bei der Betrachtung der sozialen Ordnung einer agrarisch geprägten archaischen pólis-Gesellschaft, welche die Forschung gern als face-to-face-society bezeichnet, offensichtlicher.

 

Da für das 7. Jahrhundert unter Besitztum vor allem Ackerland zu verstehen ist, kann die Vermehrung von Reichtum als ein illegales oder legales Anhäufen von Ländereien begriffen werden.[37] Das soziale Ansehen der wohlhabenden oîkos-Herren hing in erster Linie von Wert und Anzahl ihrer Besitztümer ab.[38] Der auch den ????? mit Führungsanspruch drohende soziale Abstieg[39] und das ständige Streben nach Durchsetzung der eigenen Interessen und Mehrung des Reichtums machte den Verbund größerer oíkoi instabil und führte zu blutigen Konflikten und Konkurrenzkämpfen unter ihnen.[40] Versteht man den Kylonischen Putschversuch als erste Eskalation innerhalb der bestehenden Krise, hervorgerufen durch das Wettbewerbsdenken der aristokratischen Führungsschicht, dürften die anschließenden Blutracheakte unter den hegemónes ihre erste Gegenmaßnahme in der Drakonischen Gesetzgebung gefunden haben, welche die Selbsthilfe durch Gerichtszwang einzuschränken suchte.[41]

 

Die attischen Kleinbauern hingegen hatten häufig nur ein karges Auskommen. Der Ernteertrag des eigenen Landes reichte gerade, um die Mitglieder des eigenen oîkos zu ernähren; die Vorratskammern waren nicht immer gefüllt.[42] Eine gewisse Verschuldung war daher nicht unüblich. Schulden machten die Bauern in Form von Naturalschulden;[43] innerhalb des gängigen Systems der „Nachbarschaftshilfe“ liehen sie sich untereinander Geräte und kleinere Mengen Ernteerträge aus.[44] Konnte ein Bauer seine Naturalschulden – bedingt durch eine Mißernte oder andere Umstände – nicht zurückzahlen, lief er Gefahr, seinen Ruf als ehrlicher Kreditnehmer zu verlieren.[45] Bodenerschöpfungen und Störungen im Wasserhaushalt kamen gewiß vereinzelt vor; einen Rückgang der Getreideproduktion oder die Ausweitung der Olivenkulturen als Verschuldungsursachen einer breiteren Schicht auszumachen, bleibt jedoch Spekulation ohne Anhaltspunkte in den Quellen.[46] Anders sah es mit der Auswirkung des oft propagierten Bevölkerungswachstums im 7. Jahrhundert in ganz Griechenland  aus, das für sich genommen noch nicht für eine starke Reduktion der verfügbaren Nutzfläche in Athen sorgte, aber durch die Bestimmungen des Erbrechtes zu einer zunehmenden Aufteilung des attischen Bodens unter den Nachkommen führen konnte, bis ein Landstück nicht mehr ausreichte, um die Familie zu versorgen.[47]

 

Viel gefährlicher als die gängige Nachbarschaftshilfe waren den Kleinbauern die oîkos-Herren, die reichen Großgrundbesitzer, die schon bald zur Knechtung ihrer Schuldner übergingen, indem sie ihre Notlagen bewußt ausnutzten und mehr gaben, als ihnen die Bauern jemals zurückgeben konnten.[48] Ihr Ziel war es, kleinere oíkoi in Abhängigkeit zu bringen, um so die eigene Position innerhalb der aristokratischen Stasiskämpfe durch Mehrung der Anhängerschaft – die dem Aristokraten bei öffentlichen Auftritten, Gewaltaktionen und in der Ausübung amtlicher Funktionen Unterstützung leistete – dauerhaft zu festigen.[49]

 

Die Armut, die im Solonischen „Eunomiagedicht“ angesprochen wird, betraf demnach die Kleinbauern innerhalb der attischen Landbevölkerung und konnte sie in die Verschuldung und später in die Schuldknechtschaft bzw. sogar in die Schuldsklaverei führen.[50] Zwar war die gängige Praxis der Schuldenaufnahme nicht gleichbedeutend mit „personaler Verpfändung“. Da aber im archaischen Rechtsempfinden die Unfähigkeit, ein Darlehen zurück zu zahlen, einem Diebstahl glich, hatte der Gläubiger in diesem – und nur in diesem – Fall das Recht, auf den säumigen Schuldner oder dessen Eigentum (insofern dieser noch welches hatte) im Rahmen der Selbsthilfe zurückzugreifen.[51]

 

Unter den genannten Voraussetzungen müssen nun auch die bei Solon, Aristoteles und Plutarch besprochenen Formen der Abhängigkeit verschuldeter Kleinbauern von der Oberschicht analysiert werden.

 

 2. Die Erscheinungsformen[52]


 

War ein Bauer nicht mehr zahlungsfähig, konnte er sein Land an den Gläubiger verkaufen, um seine Schulden zu begleichen, und versuchen, seinen zukünftigen Lebensunterhalt als Handwerker oder Arbeiter zu bestreiten.[53] Verkaufte er nicht, drohte ihm der Verkauf in die Schuldsklaverei durch den Gläubiger.[54] Der Darlehensgeber hatte dadurch ein Druckmittel, Arbeitsdienste auf seinem Grundbesitz (Schuldknechtschaft) zu fordern.[55] Der Schuldner konnte auf diese Weise Zeit gewinnen, um seine Schulden zu begleichen und wieder Herr über sein Land zu werden.[56] Der Gläubiger konnte den Bauern jedoch auch zwingen, ihn als Erbe einzusetzen, um doch noch in Besitz des begehrten Landes zu kommen. Die Flucht konnte zwar helfen der Sklaverei zu entgehen, führte aber in ein ungewisses Schicksal.[57]

 

Da die wohlhabenden Gläubiger – wie beschrieben – vornehmlich ein Interesse daran hatten, ihre Schuldner dauerhaft von sich abhängig zu machen und sich langfristig regelmäßige Einnahmen zu sichern, statt sich durch den Verkauf des Schuldners in die Sklaverei nur einmalig zu bereichern,[58] gerieten die Kleinbauern in den Status eines ?????????.[59] In der Athenaíon politeía werden die von den Reichen Abhängigen in „Hörige“ bzw. „Tagelöhner“ (???????) und hektémoroi unterteilt. Letztere sollen die Felder der Reichen, unter Abgabe von Sechsteln ihres „Ertrages“ (????????), bearbeitet haben.[60] Denkbar wäre, daß der hektémoros auf seinem eigenen Land als Pächter arbeitete und einen bestimmten Teil seines Ernteertrages an den Gläubiger abgab, um sich „das Zugriffsrecht auf seine Person“ auf diese Weise „ständig...

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