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E-Book

Nie wieder Kommunismus?

Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus

VerlagUNRAST Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl276 Seiten
ISBN9783954050451
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Der vorherrschende Umgang mit Stalinismus und Realsozialismus zielt auf die grundsätzliche Delegitimierung der kommunistischen Idee. Doch der Verweis auf diesen instrumentellen Charakter darf die kritische Auseinandersetzung der Linken mit ihrer Geschichte nicht verstellen. Gerade an ihr ist es, den Widerspruch zwischen Realsozialismus und einer emanzipatorischen Gesellschaft aufzuzeigen und sich zu fragen, wie aus der Idee des Kommunismus die Praxis von Unterdrückung und Terror wurde. Für eine Linke, die sich die Befreiung des Menschen auf die Fahnen geschrieben hat, ist diese Auseinandersetzung unabdingbar. Vor diesem Hintergrund repräsentieren die Beiträge im vorliegenden Sammelband verschiedene Perspektiven der Kritik. Gemein ist ihnen dabei die Hoffnung auf eine emanzipatorische Politik, die aus den Erkenntnissen über die linke Vergangenheit die richtigen Lehren zieht.

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Nie wieder Kommunismus? – Einleitung zum Buch


 

 

Die kritische Auseinandersetzung mit den historischen Versuchen, die Ideen von Sozialismus und Kommunismus zu realisieren, ist im Grunde so alt wie diese Versuche selbst. Sie ist ein Erkenntnisprozess linker Bewegungen, der durch viele Generationen hindurch und von verschiedenen Standpunkten aus vorangetrieben wurde. Aber es gab immer eine ganze Reihe von linken Positionen, die eine solche kritische Auseinandersetzung erschwerten. Zuvorderst wurden diese von bekennenden Stalinist_innen, aber auch von demokratischen Linken vertreten, die den Realsozialismus oft trotz des Wissens über seine »Unvollkommenheit« als die bessere Alternative zum Kapitalismus verteidigten. Andere Linke sahen von vornherein keine Notwendigkeit für eine kritische Auseinandersetzung. Zum einen war diese Abwehrhaltung ein Reflex auf die antikommunistische Propaganda während des Kalten Krieges und die systemaffirmative Arroganz nach dem Untergang des Ostblocks. Zum anderen machten es unterschiedliche Praxen zwischen undogmatischen Linken und den Staatsparteien sozialistischer Staaten und ihren Protagonist_innen im Westen einfach, gemeinsame theoretische Bezüge, geteilte Begrifflichkeiten und ideelle Ursprünge nicht anzuerkennen. Teil dieser Verdrängungsstrategie war der Verweis auf die historischen Verhältnisse, an denen der Versuch der Bolschewiki, den Sozialismus in Russland zu errichten, scheiterte. Stalinismus erschien demnach tendenziell von »außen« gemacht, was den Glauben erleichterte, für seine Folgen keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Derlei Ursachenbeschreibungen laufen nicht nur Gefahr, die menschenfeindliche Realität des Stalinismus zu relativieren. Sie geben zudem keine befriedigende Antwort auf die Fragen, wie es zu Stalinismus und Realsozialismus kommen konnte und was daraus für Linke heute zu lernen ist.

Die schier ungebrochene Selbstgewissheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus bekam spätestens Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Brüche. Die andauernde Erfahrung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verstärkte auch die Suche nach kritischen Erklärungsmodellen und Möglichkeiten einer nicht-kapitalistischen Gesellschaftsorganisation. In diesem Zusammenhang bekommt die Abgrenzung gegenüber Stalinismus und Realsozialismus eine neue Relevanz. Sie ist die notwendige Bedingung, um den Kapitalismus auf fundamental emanzipatorische Weise zu überwinden und für dieses Projekt Zustimmung zu gewinnen. Insofern lässt sich derzeit ein gestiegenes Interesse an Auseinandersetzungen mit der »eigenen« Geschichte ausmachen. Auch die Motivation zur Herausgabe dieses Sammelbandes geht auf Diskussionen über die Grundbedingungen einer erfolgreichen linksradikalen Gesellschaftskritik zurück. Doch darf es dabei nicht darum gehen, durch symbolische Abgrenzung den Weg für eine neue revolutionäre Politik zu bereiten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung muss das Interesse stehen, den Wandel der kommunistischen Befreiungsidee zur menschenfeindlichen Wirklichkeit verstehen zu können, um auf der Basis von Erkenntnis jede Wiederholung im Ansatz zu verhindern.

Der Weg zum Wissen über das Wesen des Stalinismus und Realsozialismus ist mühsam. Ein Hindernis stellt die hierzulande vorherrschende Art der Darstellung der Geschichte des Sozialismus dar. Als Gruppe, die sich ursprünglich mit dem Ziel konstituierte, die ordnungsstaatlichen Funktionen der Extremismusformel zu kritisieren, wendeten wir uns immer auch gegen die mehr oder weniger offensichtlichen Versuche, die sozialistische DDR und das nationalsozialistische Deutschland als wesensgleiche Diktaturen zu begreifen. Trotz einiger Parallelen wird eine solche Gleichsetzung weder dem Charakter des Nationalsozialismus noch des Realsozialismus gerecht. Diese Art des Vergleichs beider Systeme dient auch nicht, wie häufig behauptet, dazu, eine genauere historische Kenntnis zu gewinnen. Im Vordergrund steht vielmehr das politische Interesse, die kapitalistische Demokratie als alternativlos festzuschreiben. Doch durch die Zurückweisung der instrumentellen Anwendung einer totalitarismustheoretischen Perspektive zeigt sich umso mehr die Schwierigkeit, die DDR und andere realsozialistische Staaten kritisieren und sie vom Nationalsozialismus abgrenzen zu können. Demzufolge ist dieses Buch Ausdruck unseres Bemühens, Stalinismus und Realsozialismus zu verstehen. Am Anfang steht dabei das Eingeständnis, dass die kommunistischen Versuche, die Gesellschaft grundlegend umzugestalten, sofern sie nicht niedergeschlagen wurden, bis dato alle in unterdrückerische Systeme umgeschlagen sind. Die Angst vor Regression hat insofern gute Gründe. Gerade deshalb müssen Stalinismus und Realsozialismus unserer Meinung nach als Negativfolie dienen, an der es sich abzuarbeiten gilt.

 

Wer heute vom Kommunismus redet, darf von Realsozialismus und Stalinismus nicht schweigen. Umstritten ist jedoch, wie weit diese Kritik reichen muss. Die unter anderem als Selbstbezeichnung genutzte Vokabel des real existierenden Sozialismus, die, nebenbei bemerkt, eine absurde Doppelung ist, schreibt die Unterscheidung zwischen ideellem Anspruch und der alltäglichen sozialistischen Realität selbst in die Geschichte ein. Doch ist die Verbindung zwischen dem theoretischen Konzept, das von Marx maßgeblich angestoßen und von diversen Marxist_innen weiterentwickelt wurde, eng mit den historischen Fehlschlägen verbunden. Der Sozialismus wollte die Diktatur des Proletariats, die in einer Vorstufe zum Kommunismus die Makel der alten Ordnung beseitigen und die Gesellschaft ökonomisch und politisch neu strukturieren würde. Der Kommunismus war das Ziel dieser historischen Bewegung und wurde verstanden als die Überwindung der Herrschaft des Kapitals und die schrittweise Neuordnung der Gesellschaft hin zu einer Situation, in der die Menschen in einer freien Assoziation individuell nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten miteinander in Interaktion treten und sich verwirklichen können. Der Realsozialismus machte die praktische Unvollkommenheit dieser Konzeption deutlich. Er zeigte, dass weder die Idee des Kommunismus noch seine theoretischen Vordenker_innen ein Rezept für eine emanzipatorische Aufhebungsbewegung bereithielten. Als die Sozialist_innen und Kommunist_innen sich 1917 die Macht erkämpft hatten, wollten sie sie nicht mehr teilen. So wich das Projekt der Befreiung dem der Umerziehung im Interesse der Partei, legitimiert durch höhere Wahrheiten. Es führte in Unterdrückung und Liquidierung eines großen Teils derer, die widersprachen, und in die ständige Überwachung der Massen. Der Realsozialismus begrub in der Praxis die Hoffnung auf eine wahre Freiheit unter Gleichen und führte den Anspruch, die Unterdrückung zu beseitigen ad absurdum. Ein plumpes Ablehnen der Begriffe »Kommunismus« bzw. »Sozialismus«, oder der Versuch, sich auf jene Theoretiker_innen zu stützen, die nicht »beschmutzt« sind, löst das Probleme der Geschichte der radikalen Linken nicht: Offensichtlich ist, dass Stalinismus und Realsozialismus als Verwirklichung der kommunistischen Idee gedacht waren und bis zum Schluss Impulse aus der kommunistischen Idee und ihrer Theorie bezogen.

Der Verlockung, Kommunismus als abstrakte Idee zu behandeln, um ihn damit von seiner Geschichte abzuschneiden, sollte also nicht nachgegeben werden – schon weil die befreite Gesellschaft ohne ihre wirkliche Bewegung ein Traum bliebe. Gerade aber die tatsächliche Organisation und Praxis des Kommunismus sind durch die Hypothek des Realsozialismus belastet. Mit Blick auf die Orientierungsfunktion marxistischer Theorie in der heutigen Praxis linker Gruppen und Bewegungen ist es notwendig zu fragen, inwiefern die Marx’sche Kritik als Abstraktion und der Kommunismus als Idee für die Entstellungen der sozialistischen Wirklichkeit verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund benennt Christian Schmidt in seinem Text Die Politik des Kommunismus drei in der Marx’schen Theorie fundierte Probleme bei der Überwindung des Kapitalismus. Zunächst betrachtet der Autor die Wissenschaftsauffassung von Marx, aus der im Marxismus Herrschafts- und Wahrheitsansprüche der Partei abgeleitet und gegen Versuche politischer Mitbestimmung durchgesetzt wurden. Das Umschlagen von Wissenschaft in Ideologie finde sich, so Schmidt, aber bereits im Kernstück der theoretischen Arbeit von Marx, in der Kritik der politischen Ökonomie selbst angelegt. Indem Marx die im Kommunismus notwendige Produktion den Maßgaben von Rationalität und Effizienz unterordnet, gibt er diesen Bereich für den politischen Prozess und damit auch für demokratische Entscheidungen verloren. Die Entpolitisierung der Ökonomie bei Marx zog die Entstehung eines eindimensionalen Produktionsregimes nach sich, das Diskussionen über Bedingungen und Ziele der Produktion nicht mehr erlaubte. Schließlich verweist Christian Schmidt auf die Lücke in der Marx’schen Befreiungskonzeption, die zwar einerseits die Selbstaneignung der Politik bejahe, andererseits dafür aber kein Modell anbiete, wie die allen offenstehende Entscheidungsautorität in einer hochgradig arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft denkbar ist.

Das Autor_innenkollektiv Che Buraška sucht ebenfalls nach theoretischen Fehlern der kommunistischen Politik. In ihrem Text In der Sackgasse: Der real existierende Nationalismus in der Sowjetunion setzen sie allerdings einen anderen thematischen Akzent. Auch die Ursache für die antiemanzipatorische Nationalitätenpolitik der Bolschewiki müsse demnach in den Theorien...

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