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Niemands Land

Die unglaubliche Geschichte von Moresnet, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte

AutorPhilip Dröge
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783492976435
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
1816 fiel ein kleines Stückchen Land in der Nähe von Aachen zwischen alle Stühle: Sowohl Preußen als auch die Vereinigten Niederlande beanspruchten das Gebiet für sich, und man konnte sich partout nicht einigen, weil ausgerechnet dort eine wirtschaftlich bedeutsame Zinkmine lag. So kam es zu einem phantastischen Provisorium, das über hundert Jahre währen sollte - einem 3,4 Quadratkilometer großen Mikro-Land namens »Neutral-Moresnet« mit zunächst 256 Einwohnern, von denen keiner so richtig wusste, wohin man eigentlich gehörte. Moresnet wurde zu einem Eldorado für Schmuggler, Abenteurer und Träumer aller Couleur, bis es im Ersten Weltkrieg von den Deutschen besetzt und 1919 dann Belgien zugeschlagen wurde. Eine unglaublich skurrile Geschichte, charmant und humorvoll erzählt.

Philip Dröge ist Journalist und Schriftsteller. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften und tritt regelmäßig in Diskussionsrunden zu aktuellen und politischen Fragen im Radio und im Fernsehen auf.

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Leseprobe

1
Baden gehen mit Napoleon


Eines der Bäder im Schloss Fontainebleau,
Herbst 1810

Ein kleiner, leicht untersetzter Mann mit glattem Haar betritt das Zimmer und geht auf eine seltsame Metallwanne in dessen Mitte zu. Ihm folgt mit Trippelschritten fast unsichtbar sein Leibdiener, der gerade noch rechtzeitig den von seinem Herrn abgelegten Wollmantel in Empfang nehmen kann.

Mit einem Bein überwindet Napoleon Bonaparte den hohen Wannenrand. Dann zieht der Feldherr das andere nach und lässt sich beglückt ins dampfende Wasser sinken. Er hat auch allen Grund, zufrieden zu sein, denn niemand auf dem europäischen Kontinent hat eine so prächtige Wanne wie er. Nicht einmal der russische Zar.

Eine gute Stunde verbringt Napoleon im Wasser, und das ist alles andere als Zeitverschwendung: Während er in der Wanne planscht, bespricht er sich mit seinem Sekretär, Baron Fain. Die beiden gehen Unterlagen durch, der Kaiser der Franzosen diktiert ein paar Briefe, und dann wird geschaut, ob etwas Interessantes in der Zeitung steht.

Das Tolle an dieser Wanne ist, dass das Wasser währenddessen nicht kalt wird. An ihrer Rückseite befindet sich ein kleiner Metallzylinder mit glühenden Holzkohlen, der über zwei Rohre mit der Wanne verbunden ist. Mithilfe eines ausgeklügelten Systems wird in diesen Rohren Wasser angesaugt, erwärmt und genau in der richtigen Temperatur wieder in die Wanne entlassen.

Napoleon, der bekanntermaßen äußerst verfroren ist, kann sich keinen besseren Start in den Tag vorstellen als ein Bad in dieser Wanne. Selbst wenn er zu einem Feldzug aufbricht, muss die Wanne mit, egal, welch große Entfernungen überwunden werden müssen. Zum Glück ist das Ding relativ leicht und zerlegbar. Unvorstellbar, dass er einmal ohne auskommen konnte!

Wenn es jemandem gelungen ist, einem, der längst alles hat, das perfekte Geschenk zu machen, dann Jean-Jacques Daniel Dony. Der Mann aus Lüttich ist Erfinder und hat die Wanne, die er Napoleon verehrt hat, selbst erfunden und konstruiert. Dony ist seiner Zeit weit voraus – vor allem der thermische Siphon, der das Wasser automatisch erwärmt und im Kreis pumpt, ist einfach genial. Erst dreißig Jahre später wird sich ein britischer Forscher ein vergleichbares System patentieren lassen.

Doch Dony, ein Freund Napoleons, ist noch viel mehr als nur ein handwerklich begabter Erfinder. Er ist Metallurg und Chemiker, darüber hinaus Laienpriester – wenn auch nur in seiner Freizeit. Und er versucht sich als Geschäftsmann. Die Badewanne ist daher nicht nur einfach ein Geschenk, sondern auch ein Werbepräsent.

Der französische Kaiser und Dony kennen sich schon eine ganze Weile, die Geschäftsbeziehungen zwischen Erfinder und Diktator reichen bis ins Jahr 1805 zurück. Damals bittet Dony Napoleon um die Erteilung einer Konzession, auf 800 Hektar des Departements Ourthe mitten im französischen Kaiserreich nach Metallen schürfen zu dürfen. Vor allem auf den dünn besiedelten Landstrich zwischen Lüttich und Aachen hat er es abgesehen.

Napoleon berät sich mit seinem Bergwerksdienst. Was will Dony in diesem Gebiet? Die Ingenieure verfassen einen detaillierten Bericht über die dort vorhandenen Bodenschätze: Nördlich des Dorfs Kelmis, in der Gemeinde Moresnet, inmitten des Territoriums, für das Dony eine Konzession beantragt hat, befindet sich in geringer Tiefe eine große Ader Zinkspat, aus dem sich Zinkpulver herstellen lässt. Es gibt dort eine kleine Mine, in der das gelbbraune Mineral von einer Handvoll Arbeiter abgebaut wird. In dem Bericht steht auch, dass die Mine bereits seit dem 15. Jahrhundert in Betrieb ist.

Um den Zinkspat geht es Dony vermutlich. Aber warum? Dieser Rohstoff ist äußerst schwer zu bearbeiten und die Absatzmöglichkeiten sind gering, weshalb Privatbetriebe normalerweise kein Interesse daran haben. Die Mine gehört einem französischen Staatsbetrieb, der den Abbau überwacht. Der Hügel hinter der Mine heißt auf Deutsch Altenberg (im Regionaldialekt Aeuwe Bäersch), sodass die Franzosen ihren Zinkbetrieb Vieille Montagne genannt haben.

Das Beste, was man damals mit Zinkspat anfangen kann, ist, ihn in einen mit Steinkohle beheizten Ofen zu geben. Darin bersten die das Erz enthaltenden Steine aufgrund der Hitze. Die so entstandenen Brocken zermahlt man anschließend zu einem weißen, stark zinkoxidhaltigen Pulver. Vermengt man dieses Pulver mit flüssigem Kupfer, entsteht eine harte Legierung: Messing. Dieses Prozedere kannten bereits die alten Griechen. Doch Messing ist zu teuer, um groß Verwendung zu finden, in erster Linie werden daraus Maschinenteile hergestellt. Fabriken produzieren es daher ausschließlich in winzigen Mengen – Zinkspat ist ein echtes Nischenprodukt. In den Öfen geht außerdem viel Zink verloren. Wegen der großen Hitze, die man braucht, um die Steine bersten zu lassen, wird ein Teil des Zinks sofort gasförmig und verschwindet durch den Schlot. Auch deshalb rechnet sich dieses Vorgehen in größerem Maßstab nicht.

Warum ist Dony bereit, die nicht gerade geringe Pachtsumme von 40 500 Francs im Jahr zu zahlen, nur um die Zinkvorkommen in und um Kelmis ausbeuten zu dürfen? Für diese Summe bekommt man in Paris ein schönes Haus – und das jedes Jahr aufs Neue!

Der Laienpriester aus Lüttich ist kein Spinner. Er hat in seinem Labor eine neue Methode zur Zinkgewinnung entwickelt, den sogenannten Reduktionsofen. Eine geniale Konstruktion, die aus einem geschlossenen Ofen besteht, in dem so gut wie kein Sauerstoff vorhanden ist. Das Zinkspat enthaltende Gestein wird darin zwischen mehreren Lagen glühender Steinkohle erhitzt. So stark, dass fast sämtliches im Stein enthaltene Zink gasförmig wird und mit der Wärme nach oben steigt.

Nur dass das Gas nicht durch den Schlot entweicht. Dony verwendet ein System, das an eine Schnapsdestille erinnert: Über ein Rohr steigen die Zinkgase nach oben, wo sie fernab der Wärmequelle abkühlen. Dabei wird das Gas flüssig und von mehreren schräg montierten Platten aufgefangen. Von dort tropft es in eine Wanne, wo es schließlich erstarrt. Das Resultat ist ein hochgradig reiner Klumpen Zink.

In einer Zeit, in der die Metallurgie noch in den Kinderschuhen steckt, ist diese Erfindung geradezu revolutionär. Im Grunde müsste Dony in einem Atemzug mit den Genies seiner Zeit wie Voltaire, Watt und Faraday genannt werden. Seiner Erfindung ist es zu verdanken, dass Zink erstmals in großen Mengen hergestellt werden kann – ein unglaublich praktisches Material, da es relativ leicht und stabil ist und sich problemlos zu Platten auswalzen lässt. Diese Platten können wiederum mithilfe einer Presse, einer Matrize und etwas Wärme in fast jede nur erdenkliche Form gebracht werden.

Ganz zu schweigen vom vielleicht größten Vorteil von Zink, nämlich dass es nicht rostet. Man kann es daher an allen Orten benutzen, wo es mit Wasser in Berührung kommt: Es eignet sich zum Decken von Dächern genauso wie zum Auskleiden von Becken oder Leitungen. Taucht man Eisen in flüssiges Zink, versieht man es mit einer Rostschutzschicht – eine Erfindung des Italieners Luigi Galvani aus dem Jahr 1772.

Auch Badewannen lassen sich natürlich aus Zink herstellen. Um zu zeigen, wie großartig seine Erfindung ist, baut Dony mit Zink aus der Kelmisser Mine die wunderbare mobile Wanne und schenkt sie 1809[1] Napoleon zum Dank für die Konzession, die er seit nunmehr vier Jahren besitzt. Das auf kleinen Füßen stehende Ding ist auffallend kurz und hoch. Wie seine Zeitgenossen badet Napoleon vorzugsweise im Sitzen. Außen wurde die Wanne mit Farbe marmoriert, sodass man nur von innen sieht, dass sie aus Metall ist. Seitlich ist sie mit einem Lorbeerkranz verziert, in dessen Mitte ein großes N prangt. Ein Jahr später schickt Dony dem Kaiser auch noch eine Zinkbüste, die natürlich Napoleon darstellt.

Der französische Herrscher ist von der für damalige Verhältnisse modernen Wanne schwer beeindruckt. Er erkennt, dass der Erfinder aus Lüttich die Mine viel besser ausbeuten kann als ein Staatsbetrieb. 1810 erteilt seine Regierung Dony auch noch ein Patent für die neuartige Zinkgewinnungsmethode. Das macht sich dieser sofort zunutze und stampft in Lüttich eine Fabrik aus dem Boden, in der das Schürfmaterial aus der Mine weiterverarbeitet wird.

Mit der Konzession und dem Patent für seinen neuartigen Ofen hält Dony sämtliche Voraussetzungen für sagenhaften Reichtum in seinen Händen. Er ist in einer Situation, von der jeder Unternehmer träumt: Er besitzt ein tatsächliches Monopol. Seine Mine ist die einzige, in der Zink in großem Stil abgebaut wird, und zwar genau in der richtigen chemischen Zusammensetzung. Nur unweit der preußischen Stadt Kattowitz (dem heutigen Katowice in Polen) und auf Sardinien gibt es ähnliche Zinkspatadern, aber die Minen sind kleiner und, was viel wichtiger ist: Donys revolutionärer Ofen ist dort gänzlich unbekannt.

Es gibt allerdings zwei Probleme. Das eine Problem ist, dass Dony zwar ein großartiger Erfinder ist, aber ein schlechter Verkäufer. Er ist der Typ brillantes Genie ohne viel Sozialkompetenz. Von dem einzigen Porträt, das uns überliefert ist, schaut uns ein sympathischer Herr mit großen Augen an. Kein knallharter Geschäftsmann, sondern vermutlich eher jemand, der fast zu gut ist für diese Welt. Und das bleibt nicht ohne Folgen. Donys kleine Fabrik produziert dank seiner Erfindung zwar bald beachtliche Mengen Zink, allerdings wird er sie nicht los. Als Monopolist mit einem tollen Produkt hat er viel erreicht, doch es fehlt an Partnern mit dem nötigen Geschäftssinn.

Das andere, noch schwerer wiegende...

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