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E-Book

No Baggage

Ein Date, drei Wochen, acht Länder - und kein Gepäck

AutorClara Bensen
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783732512799
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Clara steckt in einer Lebenskrise: Nach dem Ende der Immobilienblase drohen die Träume der jungen Amerikanerin zu zerplatzen. Doch dann lernt sie Jeff kennen. Nach nur einem Date schmieden die beiden einen ungewöhnlichen Plan: 21 Tage wollen sie quer durch Europa reisen. Das Besondere: Sie verzichten auf jegliches Gepäck. Mit minimaler Ausstattung, ohne Hotels und festgelegte Route fliegen sie von Austin, Texas nach Istanbul. Die anschließende Reise stellt Claras Leben auf den Kopf. Und nach drei Wochen weiß sie: Die schönsten Dinge passieren, wenn man sie nicht geplant hat.

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Leseprobe

Mein Orientierungssinn ist suboptimal. Diese Unzulänglichkeit hat nichts mit mangelnder Aufmerksamkeit für meine Umgebung zu tun – es ist eher eine Frage meines inneren Kompasses, der sich seit jeher auf die Seite der Poesie anstelle der Praktikabilität geschlagen hat. Ich folge den Pfaden des Naturforschers John Muirs, der schrieb: »Solange ich lebe, werde ich Wasserfälle und Vögel und den Wind singen hören. Ich werde die Felsen deuten, die Sprache der Flut, des Sturms und der Lawine lernen.« Ich weiß genau, wo in meiner Nachbarschaft die Bienen einen Stock in einer stacheligen Rauschopf-Palme gebaut haben, und ich kann sofort zu dem Fleckchen wandern, an dem wilder Rosmarin in duftenden struppigen Büscheln wächst. Den Weg zur nächsten Tankstelle kann ich jedoch nicht eindeutig beschreiben – hauptsächlich deshalb, weil ich mich nie bemüht habe, die Himmelsrichtungen zu lernen.

Als Jeff und ich einmal die Autobahn von Austin nach San Antonio entlangfuhren, deutete ich ehrfurchtsvoll auf eine Ansammlung strahlender Lichter in der Ferne. »Sieht San-Antonio-Stadt nachts nicht aus wie eine Galaxie?«

»Das ist eine Zementfabrik, meine Liebe«, sagte er lächelnd. »Wir befinden uns achtzig Kilometer nördlich von San Antonio.«

Trotzdem, Navigationsmethoden der Romantik beiseite, kann ich normalerweise die richtige Antwort geben, wenn ich den Kontinent bestimmen soll, auf dem ich mich gerade befinde. Das war allerdings nicht der Fall, als Jeff und ich unsere verkrampften Beine in der Ankunftshalle des Atatürk-Flughafens ausstreckten.

Istanbul ist die einzige Weltstadt, die auf zwei Kontinenten liegt. Die Bosporus-Meerenge wird überspannt von gewaltigen Brücken und befahren von einer Fährflotte, die sich mitten durch das Herz der Stadt bewegt und dabei Ost und West, Asien und Europa miteinander verbindet. Während der Anfangsphase des Anflugs war ich abgelenkt worden von der Poesie des Mittelmeers (eine weite, blaue Picknickdecke, die in der Sonne dahinplätschert) und einer Flotte grauer Frachtkähne, die durch das Wasser pflügten (wie Entenscharen aus Metall). Jeff lag bewusstlos auf meiner Schulter mit leicht geöffnetem Mund und leicht schiefer Brille. Er zuckte nicht einmal, als die Stimme des Piloten über die Sprechanlage knisterte. »Es ist ein sonniger und klarer Nachmittag, meine Damen und Herren. Ein wunderschöner Tag in Istanbul. Siebenundzwanzig Grad am Boden mit einer leichten Brise aus Nordost. Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich, wir werden in Kürze landen.«

Die Räder ächzten aus dem Bauch des Flugzeugs, als wir mit dem Anflug auf Istanbul begannen. Ich konnte Palmen und Minarette ausmachen, die wie schlanke, in die Erde gesteckte Nadeln nach oben ragten. »Wenn man nur einen einzigen Blick auf die Welt werfen könnte, so sollte man sich Istanbul ansehen«, riet Alphonse de Lamartine, ein französischer Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts. Zu seinen Lebzeiten stand Istanbul – damaliges Zentrum des zerfallenden Osmanischen Reichs – gerade erst am Anfang der Moderne. Lamartine dürfte einer der Ersten gewesen sein, die das Gewässer des Goldenen Horns auf einer Brücke überquert oder eine Nachricht nach Hause per Telegraf versendet haben (wenngleich er wohl kurz vor dem ersten Pfeifen des Orient-Express von Paris nach Istanbul verstarb).

Im Gegensatz zu dem Lamartines war mein erster Blick auf Istanbul eindeutig modern. Er traf auf das wuselige Ankunfts-Terminal – Visa-Zeichen wirbelten hier mit den Schnörkeln des türkischen Alphabets umher; Türen führten zu stillen Gebetsräumen, wo Reisende gen Osten knieten; Bildschirme mit Anschlussflügen nach Beirut, Dubai und Kairo blinkten; und Designer-Kopftücher leuchteten in den Zollschlangen.

Ein Detail, das ich allerdings nicht klären konnte, war die Frage, ob der Flughafen sich auf der europäischen oder der asiatischen Seite befand. Dass ich absolut keine Ahnung hatte, auf welchem Kontinent ich mich befand, fiel mir auf, als ich auf der Toilette in meinem vom Flug zerzausten Haar herumwühlte. Und das, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich mehr mit meinem zotteligen Spiegelbild als den geografischen Koordinaten beschäftigt war.

Jeff und ich übersprangen wohl die »Schau stets heiß aus«-Phase des frühen Verliebtseins, denn es waren gerade einmal vierundzwanzig Stunden vergangen, und ich nahm bereits jetzt schon eine gewisse Ähnlichkeit mit dem verschnofften Zipferlaken von Lewis Carroll an. Die Wurzeln meines Haars waren dunkel gefärbt von Fett, meine Augen dunkle Halbmonde, mein Kleid roch wie muffige Finger auf Flugzeug-Kopfkissen, und meine Achseln hatten ihren langsamen Übergang in Bakterienkultur-Laborschalen begonnen. Was soll’s. Ich schmierte eine dicke Schicht Deo darauf und ging nach draußen in die Empfangshalle.

Jeff lehnte gerade gegen eine Säule und war eifrig damit beschäftig, seine Bordkarte in ein Notizbuch zu stecken, das bereits voller anderer Zettel und wahllosem Infokram war – Visitenkarten, Sand, Federn, Zahnstocher und Hundehaare. Seit 1999 sammelte er vereinzelte Schnipsel des Lebens in Notizbüchern – noch so eine Aufzeichnungsmarotte.

Er klappte das Buch zu, und ich gähnte. »Okay, was nun?«

Unter dem Stetson glänzten seine Augen vor Begeisterung, als hätte er gerade einen Shot Espresso geext, während ich auf der Toilette war. »Ich bin dafür, einen Zug Richtung Zentrum zu nehmen und einfach irgendwo auszusteigen.« Er sagte das so, als ob es der nächste logische Schritt wäre.

»Echt? Meinst du nicht, wir sollten erst mal schauen, wo wir sind?« Einfach irgendwo aussteigen klang furchtbar für mich.

Doch er zuckte nur nonchalant mit den Achseln. »Das finden wir schon raus.«

Das englische Wort für Reise, »travel«, lässt sich auf das französische »travail«, also »Arbeit«, zurückführen, was einen an die Art beschwerliche Reisen erinnert, die für Blasen an den Knöcheln, Sonnenbrand an den Waden und allerlei Gründe für den Wunsch, man hätte das Zuhause besser nie verlassen, sorgen. In Wahrheit sieht es aber doch so aus, dass alles Gute und Wunderbare mit einem gewissen Maß travail einhergeht. Auf jeden umwerfenden Aussichtspunkt und auf jedes legendäre Selfie kommen notgedrungen lange Warteschlangen, schreiende Babys im Flugzeug oder entsetzliche Unterzuckerung.

Ich (zum Beispiel) hatte beinahe vierundzwanzig Stunden lang das Eintreten in eine REM-Phase entbehrt. Im Gegensatz zu Jeff, der höchstwahrscheinlich auch auf einem ohrenbetäubenden Rammstein-Konzert wegdösen könnte, hatte ich den Großteil des transatlantischen Flugs damit verbracht, meinen Körper origamimäßig so zusammenzufalten, dass der Blutfluss zu lebenswichtigen Gliedern nicht behindert würde. (Eine Mission, die mir nichts als ein dürftiges Nickerchen und einen steifen Nacken bescherte.) Mein Eindruck von Istanbul war im Moment noch wenig atemberaubend: Er war erschöpft und voll krustigem Schlafsand.

Travail erschien ebenso unvermeidlich in Sachen Unterkunft. Wenn wir uns an unsere selbst auferlegten experimentellen Leitlinien (und das Landstreicher-Budget) hielten, waren Hotels verboten und Hostels letzter Ausweg. Unser Plan sah vor, bei Einheimischen via Couchsurfing.com – eine weltweite Gemeinschaft, die Reisende als eine Art Kulturaustausch umsonst bei sich daheim beherbergt – zu übernachten. Doch obwohl wir Dutzenden von Gastgebern in Istanbul Couch-Anfragen stellten, hatten wir null Einladungen gesammelt, was vermutlich bedeutete, dass wir durch die Straßen von Istanbul wandern und Pappschnipsel für provisorische Betten im Park sammeln würden.

Der Gedanke daran, mein Bett der Willkür des Zufalls zu überantworten, ließ eine überraschende Panik in mir aufsteigen. Seife und Kissen würden nicht an irgendeiner Zughaltestelle vom Himmel fallen. Statt unbekümmert durch die Stadt zu latschen, brauchten wir eine Strategie-Sitzung. Wir brauchten einen Stadtplan. Wir brauchten eine Internetverbindung, um eine Salve Couchsurfing-Notanfragen abzufeuern. Wir mussten ermitteln, auf welchem Kontinent wir uns befanden.

Heftiger Protest wollte sich gerade aus meinem Mund entladen. Doch ich schluckte ihn sofort herunter, als ich Jeff ansah, der noch immer gegen die Säule gelehnt war, eine Schlange Taxis im Rücken hatte und mich faul anlächelte. Er war in höchstem Maße unbesorgt wegen der Eventualität der Pappbetten. Genau genommen konnte ich mich nicht erinnern, dass er sich in den wenigen Wochen unseres Zusammenseins um irgendetwas anderes Sorgen machte als um die Frage, ob ich Erdnusseis mit Stückchen im Gefrierfach hatte. Er besaß vollkommenes Vertrauen in seine Fähigkeit, sich irgendetwas einfallen zu lassen auf Basis der augenblicklichen Gegebenheiten. Und genau das war ja auch die eigentliche Übung, wegen der wir den weiten Weg gekommen waren.

Auf einmal beschloss ich, nachzugeben, mich für eine Weile verloren fühlen zu dürfen, erschöpft und ohne Dach über dem Kopf, und zu schauen, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Ich strich mit meinem Handrücken über seine Wange, die bereits splittrig scharf von einem Tag Stoppelwuchs war. »Okay, Cowboy. Wo geht’s zum Zug?«

* * *

Von dem Gefühl des Verlorenseins kann ich ein Lied singen. Ich genoss eine erstklassige Ausbildung darin, als ich mich in den wilden und bangen Gebieten meines eigenen Verstands verirrte und zwei grauenhafte Jahre lang weg vom Fenster war. Jeff wusste das damals nicht, doch als er mich auf den Stufen zum Kapitol traf, war es gerade einmal vier Monate her, dass ich zurück in die moderne Zivilisation gefunden hatte.

Noch heute bin ich nicht sicher,...

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