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Orson Welles' 'Citizen Kane' und die Filmtheorie

16 Modellanalysen (Reclams Universal-Bibliothek)

VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783159612973
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Viele Filmkenner halten 'Citizen Kane' von Orson Welles für den besten Film aller Zeiten, praktisch alle wichtigen Filmwissenschaftler haben über ihn gearbeitet. Dieser Band eröffnet durch 16 modellhafte Analysen unterschiedliche Zugänge zu diesem Meisterwerk. Sie untersuchen die Rhetorik des Werks und seine Dramaturgie, aber auch Technikgeschichte, Intermedialität oder Filmerinnerung. Und sie klären auf diese Weise die Grundfrage: Was ist ein Film? Eine vorzügliche, breitgefächerte Einführung in Filmtheorie.

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Leseprobe

Einleitung


Von Oliver Jahraus und Tanja Prokić

»Alle werden ihm immer alles schulden.«

(Jean-Luc Godard)

Der vorliegende Band versammelt 16 Lektüren von Orson Welles’ Meisterwerk Citizen Kane, die als solche jeweils eine grundlegende Position der Filmtheorie und Filmanalyse vorstellen.

Zu Orson Welles’ bewegter Biografie, seinem Schaffensspektrum zwischen den Künsten und seinen im Verbund mit Technikern und Praktikern entwickelten Innovationen, die die Geschichte des Films nachhaltig beeinflussten, gibt es eine unüberschaubare Fülle von Publikationen. Allein zu Citizen Kane haben alle internationalen namenhaften Filmwissenschaftler und Filmwissenschaftlerinnen mindestens einmal explizit gearbeitet oder kehren immer wieder zu seinen Neuerungen zurück, so etwa André Bazin, Gilles Deleuze, Laura Mulvey, David Bordwell oder Youssef Ishaghpour. Aber nicht nur die Publikationswut zu Welles, sondern vor allem die Nachwirkungen bzw. die Nachbilder in der internationalen Filmgeschichte sind kaum zu unterschätzen, wie dies mit dem dieser Einleitung vorangestellten Zitat Jean-Luc Godards anklingt. Fast scheint es – um ein berühmtes Wort von Alfred North Whitehead zur Philosophiegeschichte als Fußnote zu Platon abzuwandeln –, als ob die Filmgeschichte nur eine Fußnote zu Orson Welles sei.

Warum also diese versammelten Modellanalysen ausgerechnet zu Citizen Kane? Denn dieser Band will nicht Citizen Kane und noch weniger Orson Welles und anderen ein Denkmal errichten. Bei der Wahl von Citizen Kane spielte vielmehr sein unverkennbarer Einfluss auf Meisterwerke wie etwa The Barefoot Contessa von Mankievicz, Les Mauvaises Recontres von Astruc, Lola Montés von Max Ophüls, 8½ von Fellini oder Pulp Fiction von Tarantino sowie sein indirekter Einfluss auf nahezu unzählige internationale Werke, ebenso seine zum damaligen Zeitpunkt einzigartige Komplexität der audiovisuellen Narration, seine kluge Verbindung von Politik und Ästhetik, sein facettenreiches Einweben zeitgenössischer Diskurse, seine kongeniale Inszenierung von Medienkonkurrenzen sowie sein brillanter Einsatz von technischen Neuerungen eine Rolle.

© Peanuts Worldwide LLC / Distr. Andrews McMeel Syndicate / Distr. Bulls

Vor allem bietet besonders dieser Film die Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit und das Komplexitätsniveau analytischer (Film-)Modelle und Theorien anschaulich vorzuführen und zu erproben, wie es die Beiträge dieses Bandes unternehmen. Dies funktioniert gerade deshalb, weil Citizen Kane selbst eine Fülle an kinematografischen Reflexionen über den Film als ein in den 1940er Jahren längst historisch gewordenes Medium in einem komplexen intermedialen, historischen, technischen und ökonomischen Gefüge vollzieht.

Für jede der 16 Modellanalysen gilt es, einen riskanten Drahtseilakt zu bewältigen: Neben dem Wechsel von der Audiovision in das sinnlich ärmere Medium der Schrift ist auch der Systemwechsel von einem offenen und kreativen System der Kunst in das hochreglementierte System der Wissenschaft notwendig. Wie schreibt man über Filme, wie arbeitet man wissenschaftlich über Kunst? Dabei gilt es, die Komplexität des Films nicht zu unterschreiten sowie die Funktion und gleichzeitig den Gehalt der entsprechenden Theorie illustrativ am Film herauszustellen.

Unsere Leitfragen lauten: Welche Erkenntnisse kann die Methode oder das Analysemodell über den Film bereitstellen? Wie gelingt es einer Theorie, als »second-order observation« über den Gegenstand hinaus etwas sichtbar zu machen? Inwiefern reflektiert eine solche Position ihre Grenzen und bestimmt ihren theoretischen Ort für anschließende Analysen? Weist sie ihre theoretischen Prämissen aus? Problematisiert sie die Implikationen ihrer Prämissen? Wie legitimiert sie ihre Ergebnisse jenseits von Spekulation? Wie grenzt sie sich von anderen Modellen ab? Inwiefern gehen Theorie bzw. theoretische Prämissen auf die Eigenspezifik ihres Mediums ein? Wie verhält die Theorie sich zu ihrem Gegenstand: Wird er rein illustrativ eingeführt, dient er zur Schärfung der Theorie oder dient die Theorie zur Sichtung des Gegenstandes?

Damit sind auch wissenschaftstheoretische Schwierigkeiten verbunden, die an Citizen Kane exemplarisch für alle wissenschaftlich behandelten Filme deutlich werden: Durch die theoretische und analytische Auseinandersetzung mit dem Film wird nicht nur ein grundlegender Medienwechsel vollzogen, sondern damit auch die Frage nach der disziplinären Zuständigkeit für den Film aufgeworfen. So herrscht bis heute keine Einigkeit darüber, ob der Film (und das heißt hier im Wesentlichen: der Spielfilm) als ein Text behandelt werden soll, der über eine eigene semiotische oder rhetorische Bildsprache verfügt, ob er wesentlich als eine Narration aufzufassen ist, für die alle Paradigmen des Erzählens wie für andere Medien gelten müssen, ob ihm wie dem Theater performativer oder szenischer Charakter zugesprochen werden muss, ob er seit der Erfindung des Tonfilms als Gesamtkunstwerk wie die Oper behandelt werden muss, oder ob er aufgrund seiner Bildhaftigkeit bzw. Ikonizität der Malerei, aufgrund seines mimetischen Abbildungspotenzials der Fotografie oder aufgrund seiner Verkettung von Bildern (Montage) dem Comic nähersteht.

Bereits 1913 erkannte der Schriftsteller Kurt Pinthus die Bedeutung des Films. So gelang es ihm, zeitgenössische Autorinnen und Autoren, unter anderem Else Lasker-Schüler und Max Brod, in einem Band zu versammeln. Pinthus’ Maßnahme muss innerhalb der Filmdebatte, die um die Frage kreiste, ob der Film als siebte Kunst gelten könne oder gar als niederes Unterhaltungsmedium mit seiner eindeutigen Herkunft aus dem Jahrmarkt zur Verblendung der Massen diskreditiert werden sollte, als eindeutige Stellungnahme für den Film gerechnet werden.

Der Harvard-Professor Hugo Münsterberg widmete sich in The Photoplay. A Psychological Study (1916) erstmals ausführlich der Gestaltfrage des Films, um auf ihrer Grundlage die Möglichkeit einer filmischen Ästhetik zu verhandeln. Einige Jahre später sollte Rudolf Arnheim mit Film als Kunst (1932) in einer ähnlichen Trennung von Elementar- und Methodenlehre für den Film als Kunst argumentieren. Und noch vor ihm kämpfte Béla Balázs in Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924) um die Anerkennung der mit dem Film verbundenen Neuerungen.

Besonders der propagandistische Einsatz des Films, seine Verstrickungen in die Ökonomie, sowie der große und andauernde Zulauf des Publikums und die damit verbundene Abkehr von etablierten Kunst- und Unterhaltungsmedien wie dem Theater, der Oper und der Literatur, auch die Konkurrenz mit neuen Medien wie dem Radio haben immer wieder die Frage aufgeworfen, was den Film eigentlich so attraktiv und verführerisch für sein Publikum macht. Walter Benjamins epochemachende Gedanken zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit sind ohne die nachhaltigen Veränderungen des Bewusstseins durch den Film undenkbar.

Gerade die Vielseitigkeit der Auseinandersetzung und der regelrechte Kampf um eine Deutungshoheit machen den Film noch heute, obgleich er im digitalen Zeitalter ungleich an Status eingebüßt hat, zu einem berechtigten Gegenstand auch fachfremder Disziplinen. Zu nennen sind hier etwa die Wirtschaftswissenschaften, die Psychologie oder die Soziologie – die erste soziologische Untersuchung zum Film stammt übrigens mit der Dissertation Zur Soziologie des Kino von Emilie Altenloh bereits aus dem Jahr 1914.

Obgleich die ersten Reflexionen über den Film sich gerade an seiner spezifischen Medialität in Anlehnung und Absetzung von anderen Medien, besonders des Theaters, abarbeiteten, eignete sich in Deutschland relativ schnell die Literaturwissenschaft den Film als wissenschaftlichen Gegenstand an. Besonders die Tatsache, dass seit der Anfangszeit des Films der Großteil aller Filme auf literarischen Vorlagen basieren, und so gut wie jedem Spielfilm ein Skript zugrunde liegt, macht die Nähe zur Literatur augenfällig. So war es besonders die Literaturverfilmung, die einen Zugang zum Film versprach. Mit der Frage nach der Übersetzbarkeit von Literatur in ein (audio)visuelles Format geriet dann auch bald die Spezifik beider beteiligten Medien wieder in den Blick.

Bevor sich institutionell die Filmwissenschaft bildete, hatte eine Vielzahl an Einführungen aus dem Bereich der Philologie gestammt, und noch heute hält insbesondere die Narratologie eine starke Position in der Auseinandersetzung mit dem Film. Aus der Aneinanderreihung von Bildern entsteht, so die narratologische Position, so etwas wie eine Struktur, die dann als zeitliche oder logische Abfolge der gezeigten Handlung verstanden werden kann, die ihrerseits wiederum eine Erzählung begründet. Neben dem nur schlecht zu widersprechenden Umstand, dass der Film eine Geschichte erzählt, teilen Literatur und Film auch den Charakter als Text. Der literarische Text ist in Bezug darauf, was seine sprachliche Struktur angeht, einfach, denn er kennt in der Regel nur die natürliche Sprache, die er allerdings – auch im Zuge der Narration – ästhetisch anreichert.

Schon in der Anfangszeit des Films wurde deutlich, dass aus der Montage von zwei (willkürlichen) Filmbildern hintereinander eine Abfolge resultiert, die ihrerseits Sinn...

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