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E-Book

Oskar Kokoschka

Jahrhundertkünstler

AutorRüdiger Görner
VerlagPaul Zsolnay Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783552059191
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Rüdiger Görner stellt in seiner Biografie den Gesamtkünstler Oskar Kokoschka in all seiner faszinierenden und widersprüchlichen Vielschichtigkeit dar. Dramen, Briefe und Essays zeugen auch von den bedeutenden schriftstellerischen Qualitäten dieses großen Malers. Die Musik war zentral für seine Arbeit. Und als Pädagoge begründete Kokoschka 1953 schließlich die 'Schule des Sehens'. Oskar Kokoschka erreichte trotz schwerer Verletzungen im Ersten Weltkrieg ein biblisches Alter. Görner zeichnet Kokoschkas Weg vom Bürgerschreck und Hungerkünstler zum wohlhabenden Weltbürger und Jahrhundertkünstler ganz nah an dessen Werk nach, denn Kokoschkas Leben erzählt man, in dem man sein Werk erzählt - und umgekehrt.

Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil, ist Professor für Neuere Deutsche und vergleichende Literatur an der Queen Mary University of London. Gründer des Ingeborg Bachmann Centre for Austrian Literature und Gründungsdirektor des Centre for Anglo-German Cultural Relations. Träger des Deutschen Sprachpreises, des Reimar Lüstpreises der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Bei Zsolnay erschienen Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache (2004), Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme (2014) und Oskar Kokoschka. Jahrhundertkünstler (2018).

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Leseprobe

 

 

ERSTES KAPITEL

 

AUF DEM WEG

 

 

UNTERWEGS ZU EINEM LEBENSANFANG


 

Anfänge in Pöchlarn im Mostviertel am südlichen Ufer der Donau. Der Ort, wo Oskar Kokoschka am 1. März 1886 geboren wurde, blieb ihm wichtig, und das noch oder wieder im Jahre 1936: »Meine Wiege stand […] im Bechelaren der Nibelungen, die bekanntlich den Rheinschatz, den goldenen hüteten. Als ich geboren wurde, allerdings, befanden sich im Staatssafe bloß devalvierte Guldenzettel, deshalb lernte ich schon früh selbständig zu sein und für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten.« (DSW III, 251) Ein klassischer Kokoschka-Satz, wie er auf die geschichtlich-mythische Vergangenheit anspielt, sie leicht travestiert, mit zeitgenössischen Problemen verknüpft (die relative Geldentwertung im Anschluss an die Finanzkrise der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit dem Verlust der staatlichen Goldreserven) und ins Persönliche wendet. Gemeint ist die 26. und 27. Aventiure aus dem Nibelungenlied, in dem die aus Worms kommenden Nibelungenkönige mit ihrem Gefolge am Hof des Markgrafen Rüdiger als Gäste empfangen werden. Dieser wird mit den Nibelungen weiter nach Wien ziehen, wo Kriemhild mit dem Hunnenkönig Etzel sich vermählen wird, um dann in Gran (heute: Esztergom) mit ihnen unterzugehen. Pöchlarn, das kleine ritterlich-mythische Idyll vor der Katastrophe. In Reichweite befindet sich übrigens Schloss Artstetten mit der Gruft des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Gemahlin, der Opfer von Sarajevo, dessen Banausentum in Sachen Kunst wiederum der junge Kokoschka beinahe zum Opfer gefallen wäre. Doch davon später.

Nur sein erstes Lebensjahr verbrachte Oskar K. in Pöchlarn, in der Regensburger Straße 29, doch eben Zeit genug, um den Geburtsort später zu mythisieren – und das noch und besonders in den späten Fernsehinterviews im unverfälschten, deutlich bäuerischen Zungenschlag seiner Heimatregion. Der Vater, aus einer Prager Familie mit langer Tradition im Goldschmiedekunstgewerbe stammend, Gustav Josef Kokoschka (1840–1923), war als Handelsreisender für Uhren bei einem örtlichen Juwelier angestellt. Nach Prag dürfte die Provinzialität Pöchlarns für ihn ein Problem gewesen sein. Vermutlich befand sich die Familie in Wartestellung, bis sich etwas beruflich Günstigeres für Gustav in Wien ergeben würde, der sich, bedenkt man seine Familientradition, im sozialen Abstieg befand. Genaueres lässt sich dazu jedoch nicht sagen, nur das, was Kokoschka in seiner Autobiografie darüber bemerkt. (ML, 39f.) Das Erfreulichste, was Oskar K. später über seinen Vater zu berichten weiß, steht in einem Brief an die Mutter vom 27. Juli 1918, als dieser den rekonvaleszierenden Sohn in Dresden besucht: »Ich bewundere [Vaters] geistige Frische und sein lebendiges Interesse an allem und sein Gedächtnis. Er ist mir lieber als Kamerad als alle meine Bekannten hier, weil er so menschlich ist.«1

Das Vaterhaus in der Prager Brentegasse »mit Werkstätte und Laden«, Oskar K. sollte es während seines ersten Besuchs in der Hauptstadt Böhmens ausfindig machen, war das eines wohlhabenden Patriziers. Sein Großvater, Václav Kokoska, Jahrgang 1810, kam als 26-jähriger Goldschmied in Prag an, er stammte aus dem Dorf Racineves, rund 65 Kilometer nordwestlich von Prag gelegen. In Prag heiratete er Therese Josefa Schütz, Tochter eines ansässigen Goldschmieds. Kokoschkas Vater, Gustav Josef, ging 1840 aus dieser Ehe hervor. Dass auch er zur Gilde der Goldschmiede gehören würde, stand wohl schon früh fest. Oskar Kokoschkas künftiger Schwiegervater, Karel B. Palkovsky, verstand sich auf genealogische Forschungen und spürte diese Verbindungen auf. Offenbar wollte er genau wissen, wem er seine sehr junge Tochter anvertraute.

Als Kokoschka in der Prager Nationalgalerie das in Spitzweg-Manier gearbeitete Gemälde eines Goldschmieds in seiner Werkstatt (1861) von Quido Mánes (1828–1880) entdeckte, glaubte er vor einem Porträt seines Großvaters Václav zu stehen. Denn fraglos waren die Kokoschkas angesehen und damit porträtreif. So verkehrten auch Antonín Dvořák und František Smetana im Bürgerhaus der Kokoschkas in der Brentegasse. Vater und Großvater halfen bei der Restaurierung der gotischen Wenzelskapelle auf dem Hradschin mit, was ihre Bedeutung als Kunsthandwerker illustriert. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, die Folgen des Wiener Börsenkrachs von 1873 und der Bosnien-Krise nach 1878 führten dazu, dass Gustav Kokoschka sein Prager Vaterhaus verkaufen und das Geschäft auflösen musste. Doch der Sinn für das Kunsthandwerkliche, der sich schon bald im zweitgeborenen Sohn ausprägen sollte, erwies sich als bleibendes väterliches Erbe. In einem Artikel in der Neuen Freien Presse vom 28. August 1898 hatte Adolf Loos noch ernüchtert konstatiert: »Das Publikum will keinen stolzen Handwerker.« Seine These lautete: Nur im Handwerklichen finde sich das Echte, Unverbildete. Dafür hatte er ein Ideal anzubieten: »Die Engländer haben uns ihre Tapeten herübergebracht […] Das sind Tapeten, die sich nicht schämen aus Papier zu sein.« Der Engländer sei eben kein Parvenu. »Auch seine Kleiderstoffe sind aus Schafwolle und bringen dies ehrlich zur Schau. Würde die Führung in der Kleidung den Wienern überlassen werden, so würden wir die Schafwolle wie Samt und Atlas weben.« Der Schein bestimmt eben das Sein des Parvenus. Um dessen Entzauberung wird es bald dem jungen Oskar Kokoschka gehen. Bemerkenswert übrigens, dass auch der große Anglophile in der Wiener Moderne, Hugo von Hofmannsthal, noch und gerade nach dem Ersten Weltkrieg in einem Vortrag vor den Mitgliedern des österreichischen Werkbundes Die Bedeutung unseres Kunstgewerbes für den Wiederaufbau (1919) hervorhob und dem Kunstgewerbe, das sich seiner Ansicht nach maßvoll selbst am von Otto Wagner verfemten »Ornament« orientieren sollte, eine identitätsstiftende Aufgabe zuwies.2

Was nun hatte Kokoschka von seiner Mutter mitbekommen? Maria Romana (1861–1934), eine geborene Loidl, kam aus der tiefen Provinz, dem niederösterreichischen Hollenstein im Ybbstal. Sie vermittelte ihrem Sohn, so will es scheinen, das Interesse am Heimatlichen, eben den Sinn für das Schlichte, Einfache, Nicht-Parvenuhafte. Sie stand für das Praktische. Übrigens dürfte sie das im Vergleich zu Hollenstein etwas größere Pöchlarn als durchaus angenehm empfunden haben. Vielsagend ist freilich, dass ihre beiden Söhne, Oskar und Bohuslav (1892–1976), sie unter erheblichem Kostenaufwand nach ihrem Tod in Wien im Juli 1934, das ihr zeitlebens fremd blieb, zurück nach Hollenstein werden überführen lassen, um sie auf dem dortigen Bergfriedhof in einer eigens für sie gebauten Kapelle zu bestatten. Im Todesjahr der Mutter herrschten in Österreich bürgerkriegsähnliche Zustände, wobei Kokoschkas Mutter die Beschießung der Wiener Arbeiterviertel durch Regierungstruppen des Regimes Engelbert Dollfuß offenbar besonders verstört hatte. Der Begräbnismonat der Mutter ist auch jener eines vereitelten Putsches der österreichischen Nationalsozialisten, dem jedoch Dollfuß zum Opfer fällt. Am 25. Juli 1934 wurde er im Bundeskanzleramt ermordet. Die Erste Republik befand sich nun ihrerseits am Rande eines nibelungenhaften Untergangs.

Wo und unter welchen Umständen sich Gustav Kokoschka und Maria Loidl begegnet waren, verbleibt im Dunkeln. Auch dürfte ihnen die immense Begabung ihres Oskars rätselhaft geblieben sein. Zumindest die Mutter aber schien ihn rückhaltlos bewundert zu haben, als ein Gottesgeschenk eben. Man war in diesen kleinbürgerlichen Verhältnissen gewohnt, die Dinge als das einem Geschickte so hinzunehmen, wie sie eben kamen und waren. Die von beiden überlieferten Fotografien zeigen zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: der Vater mit imposanter Barttracht und von durchaus elegantem Auftreten, die Mutter, in sich gekehrt, scheu wirkend, mit einem ländlich rundlichen Gesicht, vom weiblichen Schönheitsideal ihrer Zeit weit entfernt. Das Leid über den frühen Tod des Erstgeborenen scheinen beide gemeinsam getragen zu haben. Nach allem, was sich sagen lässt, förderten sie ihre drei Kinder je auf ihre Weise und vermittelten ihnen ein Gefühl von häuslicher Geborgenheit, wenngleich der handelsreisende Vater, der, Uhren verkaufend, mit Zeit handelte, so dürfte es dem kleinen Oskar vorgekommen sein, allzu oft abwesend war.

Der Familienname Kokoschka klingt nicht nur slawisch; denn кукушка – kukuschka, betont gehaucht ausgesprochen, bedeutet im Russischen der Kuckuck. Als Vogel betreibt er Brutparasitismus. Der Kuckuck versteht sich, wie das Volkslied über den Wettstreit zwischen ihm und der Nachtigall in Des Knaben Wunderhorn weiß, auf das Regelhafte, die Kenntnis der Technik im Gesang: »Der Kukuk drauf fing an geschwind / Sein Sang durch Terz und Quart und Quint.« In einem frühen Brief, in dem er sein Geburtsjahr fälschlich oder absichtlich falsch mit 1887 angab, verwies Kokoschka übrigens auf vermeintliche »russische Ahnen«. (Br I, 10)

Bei Pöchlarn befand sich das Sägewerk eines der Brüder Maria Romanas. In der Nacht nach seiner Geburt hatte ein verheerendes Feuer in der kleinen Stadt gewütet, was Oskar später in seiner kindlichen Phantasie mit dem Brand von Troja in Verbindung brachte. Eine glühender Kohle geschuldete Narbe an seiner rechten Hand zeugte angeblich von diesem Feuer, aber auch das überraschende Bekenntnis: »Ich liebe Feuer über alles.« (ML, 41) Das eine der vier vorsokratischen Elemente, das prometheische Feuer, soll ihm mithin in die Wiege gelegt und damit das nietzscheanische Motto »Lebe gefährlich« ans Herz gelegt worden sein. Geburt...

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