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E-Book

Pädagogik und Zeitgeist

Erziehungsmentalitäten und Erziehungsdiskurse im Wandel

AutorRolf Göppel
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl319 Seiten
ISBN9783170228382
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Die Fragen, was 'falsch läuft' in der Erziehung und wie 'richtiges pädagogisches Handeln' aussehen könnte, ob wir mehr Disziplin, Autorität, Unterordnung oder aber mehr Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Mündigkeit brauchen, sorgen immer wieder für heftig-kontroverse öffentliche Debatten. Entsprechend finden sich dort Klagen über eine vermeintliche 'Erziehungskatastrophe', eine 'Erziehungsvergessenheit' einen 'Erziehungsnotstand' ebenso wie Klagen über die überzogene Fürsorglichkeit, Ambitioniertheit und 'Förderwut' heutiger Eltern, Lehrer und Erzieher. Gerade der Bereich der Erziehung ist also in besonderem Maße den Konjunkturen des pädagogischen Zeitgeistes ausgeliefert. Diese betreffen aber nicht nur die Ebene der Alltagskultur und der populären Bestseller. Auch die Erziehungswissenschaft selbst ist nicht frei davon. Das Buch nimmt markante Entwicklungen, die sich auf dem Erziehungs- und Bildungssektor in den letzten Jahren ereignet haben, unter die Lupe. Es sind Entwicklungen, die einmal die 'Erziehungsmentalitäten' betreffen. Es sind andererseits aber auch Entwicklungen, die eher die 'Erziehungsdiskurse' betreffen. Das Buch will hier in kritischer Funktion zu einer Klärung und Versachlichung beitragen.

Prof. Dr. Rolf Göppel lehrt Allgemeine Pädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

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Leseprobe

Einleitung


Die Frage, wie „richtig“ erzogen werden soll, welche Erwartungen, Ansprüche, Haltungen und Umgangsformen im Verhältnis zwischen den Generationen angemessen sind, welche Versäumnisse, Einseitigkeiten und Fehlentwicklungen hier kritisiert und korrigiert werden müssen, ist eine Frage, die wie wenige andere immer wieder für heftige Diskussionen sorgt. Dass diese Diskussionen je zu einem Ende kommen könnten, sei es in dem Sinne, dass irgendwann einmal ein allgemeiner Konsens bezüglich der „richtigen“ Erziehungsformen und der angemessenen Umgangsweisen gefunden wird, sei es in dem Sinne, dass es irgendwann einen Zustand allgemeiner Zufriedenheit mit den bestehenden erzieherischen Verhältnissen und mit den gegebenen Denk- und Verhaltensweisen der nachwachsenden Generation gibt, ist kaum zu erwarten.

Erzieherische Prozesse sind nicht mit Präzision steuerbar, erwünschte Ergebnisse nicht mit Sicherheit herstellbar, Um- und Irrwege in Entwicklungsverläufen nicht mit Gewissheit kontrollierbar. Alles was sich in diesem Feld ereignet und entwickelt ist nicht nur von den Absichten und Angeboten, den Ansprüchen und Anreizen der Erziehenden, sondern stets auch vom Eigensinn und vom Entgegenkommen der Betroffenen abhängig, also von deren Einsichten, Interessen, Stimmungen, Launen, Widerständen … Und diese werden wiederum stets von vielfältigen weiteren Einflussquellen mit geprägt: Von den Erwartungen der Peers, von den Trends der Jugendkultur, von den Botschaften der Medien, von den Einflüsterungen der Konsumwerbung …

Da aber im Zusammenhang mit der Erziehung letztlich viel auf dem Spiel steht, nämlich nichts weniger als die individuelle künftige Lebensbemeisterung und der Fortbestand kollektiver sozialer Spielregeln und zivilisatorischer Errungenschaften, ist das „Projekt Erziehung“ sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene immer wieder mit hohen Ambitionen, großen Hoffnungen, also mit intensiven Gefühlen und somit unvermeidlich bisweilen auch mit großen Sorgen und mit herben Enttäuschungen verbunden. Und damit natürlich auch immer wieder mit Kritik und mit Klagen, mit Mahnungen und Warnungen, mit Mutmaßungen und Auseinandersetzungen darüber, was warum falsch läuft in der Erziehung, wer daran Schuld hat und was zur Besserung und Rettung getan werden müsste.

Da die Bedeutsamkeit der erzieherischen Einstellungen und Maßnahmen der Erwachsenen prinzipiell also als sehr hoch eingeschätzt wird, da die konkrete Zuordnung von bestimmten Entwicklungsresultaten zu unterschiedlichen erzieherischen Ideen und Praktiken aber angesichts der Vielfalt der Einflüsse aus ebenso prinzipiellen Gründen stets mit einem hohen Maß an Unsicherheit behaftet bleibt, da sich zudem in diesem Feld empirische Aussagen über das, was der Fall ist und normative Aussagen über das, was der Fall sein soll, in komplexer Weise überlagern, ist es nicht sehr verwunderlich, dass gerade der Bereich der Pädagogik in hohem Maße den Konjunkturen des Zeitgeistes ausgeliefert ist. Immer wieder gab es gravierende Umschwünge hinsichtlich dessen, was als „richtiger“, angemessener, kindgemäßer, entwicklungsförderlicher erzieherischer Umgang beschrieben wurde und damit natürlich auch hinsichtlich dessen, was als erzieherisches Fehlverhalten beklagt und angeprangert wurde.

Von daher gilt für den Bereich der Pädagogik in ganz besonderem Maße das, was der Philosoph Ralf Konersmann ganz allgemein über das Phänomen Zeitgeist ausgeführt hat: „Philosophisch gesehen, versucht der Zeitgeist die Antwort auf eine Frage. Sie lautet: Wie kann das Wissen, das als wahres Wissen zeitlos ist, in einem gegebenen Augenblick, vorzugsweise im Hier und Jetzt, gültig werden? Wie passen die Zeitlosigkeit der Wahrheit und der Zeitbezug der Erkenntnis zusammen? Seit dem 18. Jahrhundert machen wir die Erfahrung der Geschichtlichkeit des Wissens, und seither strapaziert diese Erfahrung des Wandels das alte, idealerweise in der Mathematik verkörperte Wissensmodell der Zeitlosigkeit. Der Zeitgeist ist eine Art Hilfskonstruktion, um hier einen Ausgleich zu finden. Mit diesem Hilfsangebot verbunden ist aber auch seine Macht als Verführer. Daher ist Skepsis geboten“ (Konersmann 2005, S. 2).

So gab es in den letzten Jahren in der öffentlichen Erziehungsdebatte etwa einen ausgesprochen „Rollback“ hin zu Forderungen nach mehr Disziplin, Autorität und Führung. Entsprechend wurde ein allgemeiner Mangel an Erziehung im Sinne von Regeleinhaltung, Grenzdurchsetzung und Strenge beklagt. Prominente Bücher, die diese Forderungen und Klagen populär machten, waren etwa die Bücher von Bernhard Bueb „Lob der Disziplin“ (2006) und „Von der Pflicht zu führen“ (2008) sowie Michael Winterhoffs Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ und „Tyrannen müssen nicht sein“ (2009). Nicht, dass es immer wieder Autoren gibt, die solche Positionen vertreten ist dabei das eigentlich Überraschende, sondern eher die Tatsache, dass jene Bücher, die vor 30 Jahren vielleicht gänzlich unbeachtet geblieben wären oder die, wenn sie wahrgenommen worden wären, dann eher Verwunderung und Protest ausgelöst hätten, auf einmal auf so große positive Resonanz beim breiten Publikum stoßen, dass sie zu Bestsellern werden und dazu führen, dass jene Thesen und Forderungen plötzlich die öffentliche Erziehungsdebatte dominieren und zum Gegenstand von unzähligen Zeitschriftenartikeln, Hörfunksendungen, Podiumsdiskussionen und Talkshows werden.

Zu anderen Zeiten waren es andere Bücher mit gänzlich anderen pädagogischen Konzepten, die das breite Publikumsinteresse auf sich zogen und die mit dem Versprechen und der starken Hoffnung verknüpft waren, dass eine Orientierung an den dort dargestellten Prinzipien im erzieherischen Bereich – ja im gesellschaftlichen Bereich überhaupt – alles zum Besseren wenden würde. So beschreibt Andreas Flitner etwa die erstaunliche Rezeptionsgeschichte von Alexander Neills Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ folgendermaßen: „Eine kleine Sammlung von Praxisberichten des – aus der deutschen Reformpädagogik hervorgegangenen – Erziehers Alexander Neill über seine Privatschule Summerhill, die seit langem unbeachtet auf dem Buchmarkt war, erschien 1969 als Taschenbuch unter dem neuen Titel Antiautoritäre Erziehung und erreichte binnen kurzem eine deutsche Auflage von mehr als einer Million Exemplaren“ … „Ein Generationsereignis, zugleich ein publizistisches Phänomen“ (Flitner 1999, S. 168).

Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre waren es die Bücher von Alice Miller, die einen regelrechten Boom auslösten und der „antipädagogischen Bewegung“ erhebliche Schubkraft verliehen. Sie war vor dem Hintergrund ihrer psychoanalytischen Arbeit mit erwachsenen Patienten zu der Überzeugung gekommen, dass am Anfang aller psychischen Leiden und aller zwischenmenschlichen Tragödien stets eine erzieherisch verbrämte Traumatisierung des Kindes gestanden habe. Und sie kam von daher zu der These, dass alle erzieherischen Absichten im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, d.h. alle Versuche, Kinder aufgrund erzieherischer Ideen einzuschränken und in bestimmte Richtungen zu lenken, verwerflich seien, weil sich dahinter stets das aus dem unbewussten Wiederholungszwang stammende Motiv der Erziehenden verberge, sich für die in der eigenen Kindheit erlittenen Erniedrigungen und Demütigungen rächen zu wollen. Entsprechend forderte sie den radikalen Verzicht auf alle erzieherischen Ambitionen.

Nun könnte man sagen, diese Umschwünge seien eben nur Erscheinungen auf der Ebene der populären pädagogischen Schriften, wenn man so will, der „pädagogischen Laienkultur“ und daneben gebe es doch die Erziehungswissenschaft, die ganz unabhängig von diesen wechselhaften Tendenzen in den „Niederungen“ der Alltagsvorstellungen über Erziehung und der dort populären Konzepte, in ihrem Erkenntnisfortschritt stetig und unaufhaltsam voranschreite. Eine solche scharfe Trennung der Ebenen ist in diesem Bereich der realen Sachlage jedoch wenig angemessen. Zwar gibt es inzwischen durchaus in vielen Bereichen der Erziehungswissenschaft eine hoch entwickelte Forschungslandschaft und so wissen wir heute z.B. durchaus sehr viel genauer Bescheid als früher über die Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen und über die Merkmale eines effektiven, lernwirksamen Mathematikunterrichts – aber im Hinblick auf die grundlegenden erzieherischen Fragen nach den vordringlichen Zielen, die pädagogisch befördert werden sollen, ist ein solcher „Erkenntnisfortschritt“ sehr viel schwerer zu realisieren. Eben deshalb, weil diese Fragen ganz stark in die grundlegenden Aspekte unseres kulturellen Selbstverständnisses eingebettet sind: Welche Tugenden halten wir für primär bedeutsam? Welche Ausprägungen von Disziplin, Gehorsam, Unterordnungsbereitschaft bzw. welches Maß von Autonomie, von geistiger Unabhängigkeit, Kritikfähigkeit und Widerstandsbereitschaft halten wir für wünschenswert? In welchem Verhältnis stehen für uns die eher asketischen und arbeitsbezogenen Dimensionen wie Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Fleiß, Sparsamkeit, Gewissenhaftigkeit zu den eher hedonistischen Dimensionen wie Lebensfreude, Glücksstreben, Selbstverwirklichung, Genussfähigkeit, Konsumlust? In welchem Verhältnis stehen die eher individualistischen Dimensionen wie Originalität, Kreativität, Spontaneität, Sensibilität zu den eher sozialen Dimensionen wie Geselligkeit, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft, Solidaritätsfähigkeit, Zivilcourage? Und selbst wenn man sich hier auf einen allgemeinen Prioritätenkatalog der Tugenden verständigen könnte...

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