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Pädagogische Autorität

Macht und Vertrauen in der Erziehung

AutorRoland Reichenbach
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783170228504
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
In der öffentlichen Diskussion um Erziehungsfragen scheint das Thema der pädagogischen Autorität wieder rehabilitiert zu sein. Allerdings ist der Begriff, die Notwendigkeit des Konzepts und die Bedeutung der pädagogischen Praktiken, die mit 'Autorität' in Verbindung gebracht werden, innerhalb der Erziehungswissenschaft umstritten. Trotzdem wissen zumindest praktisch tätige Pädagoginnen und Pädagogen, dass sie ohne Anerkennung ihrer Autorität kaum sinnvoll wirksam sein können. Das Buch will das Thema 'Pädagogische Autorität' wieder sachlich in die erziehungswissenschaftliche Debatte einführen. Dafür werden soziologische, psychologische, psychoanalytische, literarische und erziehungswissenschaftliche Zugänge zum Thema gewählt, in ihren historischen Facetten rekonstruiert und ihrer Bedeutung für aktuelle Fragestellungen analysiert. Neben der Frage, wie pädagogische Autorität wahrgenommen, wie sie gerechtfertigt, aber auch kritisiert wird, beschäftigt sich das Buch eingehend mit den Quellen, Funktionen und Grenzen pädagogischer Autorität.

Prof. Dr. Roland Reichenbach lehrt an der Universität Zürich.

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Leseprobe

Vorbemerkungen


„Zum Charakter eines Kindes, besonders eines Schülers, gehört vor allen Dingen Gehorsam. Dieser ist zweifach, erstens: ein Gehorsam gegen den absoluten, dann zweitens aber auch gegen den für vernünftig und gut erkannten Willen eines Führers. Der Gehorsam kann abgeleitet werden aus dem Zwange, und dann ist er absolut, oder aus dem Zutrauen, und dann ist er von der anderen Art. Dieser freiwillige Gehorsam ist sehr wichtig; jener aber auch äußerst notwendig, indem er das Kind zur Erfüllung solcher Gesetze vorbereitet, die es künftighin, als Bürger, erfüllen muss, wenn sie ihm auch gleich nicht gefallen.

Der Gehorsam des angehenden Jünglings ist unterschieden von dem Gehorsam des Kindes. Er besteht in der Unterwerfung unter die Regeln der Pflicht. Aus Pflicht etwas tun heißt: der Vernunft gehorchen. Kindern etwas von der Pflicht zu sagen, ist vergebliche Arbeit.“

Immanuel Kant (1803/1977, S. 741 & 743f.)

Mit dem Thema der pädagogischen Autorität begibt man sich in ein weites Feld und zweifelhaftes Gebiet, eine Art Sumpf, in welchem beißwütige Dämonen lauern, die nur eines im Sinn zu haben scheinen: den Eindringling zu verwirren und zu täuschen. Wäre mir dies vor Jahren, als ich mich für die Thematik ernsthaft zu interessieren begann, klarer gewesen, ich wäre sofort umgedreht und hätte andere Gebiete durchwandert, Gebiete mit Bodenhaftung. Denn es gibt ja im Land der Pädagogik so schöne Gegenden, in denen man immer etwas entdeckt, auch wenn man gar nicht richtig sucht. Aber es musste dieser Sumpf sein. Natürlich sucht man sich immer die Probleme, die man verdient, wie der Pädagoge weiß.

Autorität ist eines dieser Reizthemen, die einen zu veranlassen scheinen, gleich Stellung – für oder gegen sie – zu beziehen. So gibt es zwei große Gruppen im Diskurs, und ich möchte nun aber zur dritten gehören und hoffe, dass dies hier zum Ausdruck kommen wird. Die erste Gruppe findet alles, was mit Autorität zu tun hat, nicht nur problematisch, sondern gefährlich. Für sie ist Autorität ein hervorragender „Anwärter auf die Rolle des Generalbösewichts“ (eine Begrifflichkeit von Hans Blumenberg [1997, S. 144 f.]). Mit der „Herleitung der Weltübel“ aus dieser „einen Wurzel“ ergibt sich eine „Lizenz zum Ungeheuerlichen“, es drängt nach „Heilstaten“ (ebd.). Es ist nicht ganz einfach, zu versuchen, sich mit Mitgliedern dieser Gruppe über die Ambivalenz der Autorität zu unterhalten, denn sie sind meist intelligent, haben gute Gründe und verweisen zu Recht auf die Schrecken und lange Geschichte des Missbrauchs von Macht und Autorität. In der zweiten Gruppe wird die Geschichte und immer bestehende Möglichkeit des Missbrauchs von Macht und Autorität nicht etwa bestritten, aber Autorität und auch das Bedürfnis nach Autorität – selbst bei Erwachsenen – wird als fixer Bestandteil des sozialen Lebens verstanden und akzeptiert. Autorität ist unvermeidbar und daher erscheint es diesen Leuten sinnlos bzw. reichlich utopistisch, als regulatives Ideal eine Welt ohne Autoritäten vorzuschlagen.

Wie immer ist die Lage komplizierter, als ich sie hier skizziere, denn weder die „Pro-Gruppe“ noch die „Contra-Gruppe“ können als homogene Verbände begriffen werden. Auch ist es ein Irrtum zu glauben, dass die politische Orientierung der beiden Gruppen eindeutig sei. Dennoch können die beiden Gruppen – die je nach Zeit und Ort, nach Herkunft und Geschichte, nach Lebensphase und Lebensziel ganz unterschiedlich groß sein können und manchmal gegenüber der je anderen Gruppe zu dominieren bzw. unterliegen scheinen – letztlich unterschieden werden. In den beiden Gruppen gibt es zwei Extrempositionen, die mit Michael Wimmer (2010) zum einen die „allzu Autoritätsgläubigen“, zum anderen die „radikalen Kritiker“ genannt werden können. Die Argumentationen dieser Mitglieder gilt es wohl doch besonders zu betrachten: „So gilt es, gegen die allzu Autoritätsgläubigen auf (…) [der] Grundlosigkeit [der Autorität] zu bestehen, gegen ihre radikalen Kritiker dagegen auf ihre symbolische Funktion und Unvermeidbarkeit“ (S. 325).

Nun meinen manche Autoren vielleicht, sie seien Mitglied der ersten Gruppe (Contra), aber „eigentlich“ gehören sie in die zweite Gruppe (Pro), nur wollen sie das nicht hören. Mitglieder der Contra-Gruppe, etwa aus dem psychologisch-pädagogischen oder psychoanalytischen Feld – Theoretiker des anti-autoritären oder auch des anti-pädagogischen Diskurses –, mussten mitunter solche Gegenkritik schon ertragen lernen. So hatte beispielsweise Michel Foucault mit Überwachen und Strafen (1975/1994) der Psychoanalyse einen „berühmt-berüchtigten“ Schlag versetzt, „als er ihr glorreiches Projekt der Selbstbefreiung als eine Form von Disziplin und Unterwerfung unter die Macht der Institutionen ‚mit anderen Mittel‘ bloßstellte“, wie Eva Illouz (2009, S. 12) kommentiert. Freilich „entdecken“ auch Mitglieder der Contra-Gruppe immer wieder neu, wie Mitgliedern der Pro-Gruppe gar nicht bewusst ist, dass sie zur Pro-Gruppe gehören, ja, vielmehr noch, dass eine ganze Kultur mithilft, die Zugehörigkeit zur Pro-Gruppe zu verschleiern. So schreibt Arno Gruen in dem mit dem Geschwister-Scholl-Preis gekrönten Werk Der Fremde in uns (20107): „Diese Sucht nach Stärke, nach einem Erlöser, durchdringt alle Lebensbereiche. Sie ist allerdings nicht immer offensichtlich, da wir ja oft sehr geübt darin sind, uns selbst die Pose des eigenständigen, zuversichtlichen und autonomen Menschen zu geben. Ein guter Poseur weiß deshalb auch, wie er seinen wahren Charakter am besten überspielt“ (S. 135). Aber die meisten „von uns“ sind wohl nicht so gute „Poseure“: „Gehorsam verursacht den Verlust einer eigenen Identität. Dies wird verschleiert, indem Menschen sich autonom glauben, weil sie, unbeeinflusst durch Einfühlung und den Schmerz anderer, Macht und Gewalttätigkeit ausüben. Indem Macht und Gewalt durch ideologische Abstraktion einem ‚höheren‘ Ziel wie dem Volk, der Wissenschaft, dem Fortschritt oder dem Wachstum gewidmet sind, werden sie immer mehr von ihren wirklichen Absichten, nämlich Herrschaft und Kontrolle über andere auszuüben, abgetrennt“ (S. 137).

Solche „Entdeckungen“ machen es natürlich schwierig, über die pädagogische Bedeutung von Autorität nachzudenken. Denn wer sie für nötig hält, zeigt der Pro-Gruppe ja vor allem, dass er oder sie nicht ganz bei sich ist, bedauerlicherweise musste er oder sie das „Eigene“ als etwas „Fremdes“ abspalten. „Denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, dass es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist es unsere eigene Schuld“ (S. 14). Wenn solche Kinder später Eltern werden bzw. an der Erziehung von Kindern beteiligt sind – also als unaufgeklärte Autoritätsgläubige pädagogisch wirksam sind –, dann ist dies sicher nicht optimal. Und wenn Gehorsam den Verlust „einer eigenen Identität“ bewirkt, so erziehen schließlich im Grunde immer nur Menschen, die sich selber fremd sind, kleine Kinder, die wiederum nie zu sich kommen werden und später als entfremdete Selbste weiterhin Autorität – und Schlimmeres – einfordern. Denn wenn „Identität auf Identifikation mit Autorität beruht, bringt Freiheit Angst. Solche Menschen müssen dann das Opfer in sich selbst durch Gewalt gegen andere verdecken“ (S. 203). Wird ein solches Selbst bedroht, dann „kommt es erst zur Ruhe, wenn eine Autorität die soziale Ordnung wieder herzustellen scheint“ (ebd.). Autorität ist dann vor allem ein Phänomen von und für beschädigte Selbste …

Die zweite Gruppe, die Pro-Gruppe, unterscheidet sich von der ersten Gruppe immer wieder durch medienwirksame, populistische Verteidigungen von Autorität, wie wenn etwa der „Mut zur Erziehung“ (Bausch, Hahn & Lobkowicz 1978) propagiert oder das „Lob der Disziplin“ (Bueb 2006) verkündet wird. Diese meist konfusen und niederkomplexen Schriften und Diskurse durchbrechen zwar die intellektuelle Langeweile, die an manchen Orten eine lange Tradition hat, doch man fragt sich, ob sich die Auseinandersetzung lohnt mit diesen zahlreichen, teilweise dahingeschludert anmutenden Sätzen wie: „Fernsehen einfach so, gegen das erlaubte oder vereinbarte Programm, da ist kurzer Prozess angesagt, es bedarf keiner Begründung, hier muss der Vater der Regel beherzt Geltung verschaffen“ (S. 21). Oder: „Wir versündigen uns an unseren Kindern, wenn wir ihnen die Weisheit von Jahrtausenden vorenthalten“ (S. 44). Muss man sich mit solchen „Streitschriften“ wirklich auch noch wissenschaftlich auseinandersetzen (vgl. Brumlik 2007)?

Die Zugehörigkeit aber bzw. die „Wahl“ oder Entscheidung, zu einer der Gruppen zu gehören – wenn es eine solche Wahl überhaupt gibt –, scheint nicht wirklich auf rationalen, logischen bzw. argumentativen Gründen zu fußen. Wiewohl ich zur dritten Gruppe gehören möchte, die sich weder pro noch contra, aber sowohl pro als auch contra verhält, glaube ich, dass diese Gruppe noch kein einziges Mitglied wirklich dauerhaft aufgenommen hat, also im Grunde gar nicht existiert. Kurz: wer nicht zur ersten oder zweiten Gruppe gehört, kann dadurch nicht unmittelbar in der dritten Gruppe zugerechnet werden. Vielmehr haben die Zauderer und Unentschiedenen, die Skeptiker und Unentschlossenen, mit denen ich mich verbunden fühle, sich einfach – sei es nun vermeintlich oder sei es eben nicht vermeintlich – noch nicht verortet.1 Im diesen Sinne sei im Folgenden über...

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