3. Das Jugendstrafrecht
Bevor ich auf die einzelnen Sanktionsmaßnahmen des JGG eingehe, ist es mir wichtig, einen Blick auf die Entstehung des JGG zu werfen, um die pädagogischen Gesichtspunkte, die es damals schon in Ansätzen gab, herauszuarbeiten. Weiter sind mir die heutigen Ziele des JGG – seit seiner Änderung - wichtig, da sie das gesetzliche Fundament bilden, unter dem man alle Sanktionsmaßnahmen, aber auch den Stellenwert der JGH betrachten muss. Und mindestens ebenso wichtig ist der offen formulierte Erziehungsgedanke, den das JGG seit 1923 verfolgt.
Schon bevor das 1. deutsche Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) am 16.02.1923 verabschiedet wurde, gab es verschiedene Bemühungen, straffällig gewordene Jugendliche nicht mit dem gleichen Strafmaß zu sanktionieren, wie Erwachsene.[24] Es gab verschiedene Abstufungen der Strafmündigkeit, die sich entweder „nur nach dem Alter oder auch nach der individuellen Einsichtsfähigkeit bestimmten“.[25] Zwar galt bis zum Inkrafttreten des RJGG für Jugendliche ab 12 Jahren das Allgemeine Strafrecht, doch schon 1895 fanden sich neben der Bewilligung für Bewährungsfristen auch Gedanken der Diversion, da der Jugendliche durch das Strafverfahren und den darauf folgenden Sanktionen keinen Schaden erleiden sollte. Bereits im Jahr 1909 sah der Entwurf einer Strafprozessordnung ein pädagogisches Subsidiaritätsprinzip vor, nach dem Erziehungs- und Besserungsmaßregeln einer Bestrafung vorzuziehen waren. Auch Franz von Liszt erkannte Ende des 19. Jahrhunderts – nachdem die Jugendkriminalität ständig angestiegen war –, dass die Rückfallquote eines Jugendlichen Straftäters umso höher ist, desto härter die Bestrafung ist. Deshalb forderte er die unter Punkt 2.3. genannte Parole „Erziehung statt Strafe“. 1919 erfolgte dann eine Gesetzesänderung, die aus der Erziehung als privatrechtliche Angelegenheit einen öffentlich-rechtlichen Anspruch machte. Diese Umstände eröffneten unter anderem den Weg für ein eigenständiges Jugendgerichtsgesetz, bei dem der öffentliche Erziehungsgedanke Vorrang vor dem Strafgedanken besitzen sollte.[26] Dies bedeutet: „Das JGG ist Erziehungsrecht, das heißt, die in diesem Gesetz vorhandenen Möglichkeiten der Sanktion sind nicht wie im Strafgesetzbuch im wesentlichen an der Tat, sondern an der Person des Straffälligen orientiert. Die Maßnahmen des Gerichts haben sich an der Persönlichkeit des jungen Straffälligen auszurichten mit dem Ziel, ihn mit einer geeigneten erzieherischen Maßnahme davon abzubringen, zukünftig erneut straffällig zu werden.“[27]
Mit der Einführung des RJGG 1923 und dem Grundsatz „keine Strafe, wo Erziehungsmaßregeln ausreichen“, schuf der Gesetzgeber ganz neue Sanktionsmöglichkeiten, die später dann zu den Weisungen und anderen ambulanten Maßnahmen führten.[28] Aber auch die Justiz wurde mit neuen sozialpädagogischen Aufgaben konfrontiert: „Ihre Entscheidungen werden stärker von außerrechtlichen (…) Gesichtspunkten abhängig gemacht; Jugendgerichtshilfe und Bewährungshilfe werden als mit der Rechtssprechung verbundene Organe der sozialen Fürsorge geschaffen, ja sogar dem Jugendrichter selbst in Verhandlung, Urteil und Vollstreckung erzieherische Funktionen zugewiesen.“[29] Weitere wichtige Neuregelungen waren:
Straffreiheit bis 13 Jahre
Jugendrichterliche Erziehungsmaßnahmen für 14-18 jährige
Bestrafung erfolgt nur, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen und unter der Bedingung,
dass neben der schon bestehenden geistigen Reife auch die sittliche Reife erreicht sein musste.
Die Vollstreckung der Strafe konnte auf Probe ausgesetzt werden.
Ausschluss der Öffentlichkeit bei Verhandlungen aufgrund besonderer pädagogischer Erfordernisse.
Zudem fielen die Aufgabe der Persönlichkeitserforschung und die fürsorgerische Betreuung der straffällig gewordenen Jugendlichen an die JGH.[30] Jedoch wies das neue RJGG in vielen Bereichen noch Mängel und Lücken auf, so dass es bis zum 1.JGG-Änderungsgesetz im Jahr 1991 kontinuierlich weiterentwickelt wurde:
Nachdem 1941 der Jugendarrest von unbestimmter Dauer durch die Nationalsozialisten eingeführt wurde, beschloss man 1943 das RJGG weiter umzugestalten. Die Sanktionsmaßnahmen wurden in drei Teile gegliedert (Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendgefängnis)[31], hinzu kam u.a. auch das vereinfachte Jugendstrafverfahren.[32] Zudem bekam die Stellung des Verteidigers eine neue Rolle: Er sollte die Tat nicht „beschönigen“, sondern das Einstehen des Jugendlichen für sein Tun fordern und auf die richtige Sanktionsform hinwirken. Durch die Änderungen wollte man die Einordnung in die Volksgemeinschaft als oberstes pädagogisches Ziel erreichen.[33]
In der Reform von 1953 wurde das RJGG in das Jugendgerichtsgesetz (JGG) umbenannt und von einigen nationalsozialistischen Elementen befreit; jedoch wurde die nach 1933 durchgesetzte „Wandlung des Erziehungsgedankens im Jugendrecht von einer rein pädagogischen zu einer strafrechtlichen Konzeption“[34] beibehalten. Der Prinzipienwandel zur „Erziehung durch Strafe“ wurde in der Fortführung der Zuchtmittel, der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer bzw. aufgrund von schädlichen Neigungen und des Arrestes[35] ausgeprägt[36]. Neu war, dass unter einigen Ausnahmen nun auch Heranwachsende in das JGG mit einbezogen werden konnten.[37] Obwohl der Grundstein zu Schaffung von Erziehungsmaßregeln, Verfahrenseinstellung und neuen Sanktionsformen gelegt war, sanktionierten die Jugendrichter nach wie vor hauptsächlich mit Arrest und Geldbuße.[38]
In den 80er Jahren entstanden dann die ersten neuen Reformbewegungen, vor allem durch die Arbeiterwohlfahrt, welche die Reformgedanken aus den 20er Jahren wieder aufgriff und eine Vereinheitlichung von Jugendwohlfahrtsgesetz (Jugendhilfe) und JGG forderte[39]. Die Erziehungsberechtigten sowie die Jugendlichen selbst sollten mehr in die Gestaltung der Sanktionsmaßnahmen hineingezogen werden. Ebenso spielte die auf kriminologischen Einsichten basierende „Ubiquität“ der Delikte eine Rolle (dies bedeutet, „dass delinquentes Verhalten im Bereich von Bagatelldelikten normal ist, es aber nicht normal ist, dabei erwischt und strafrechtlich verfolgt zu werden“[40]). Im Zuge dieser Reformgedanken entstanden ab 1975 bis Mitte der 90er Jahre immer mehr Projekte und ambulante Maßnahmen (soziale Trainingskurse (STK), pädagogisch begleitete Arbeitsprojekte, Täter-Opfer-Ausgleich (TOA), etc.), die dann 1990 in das Erste Gesetz zur Änderung des JGG mündeten.[41]
Im Folgenden gehe ich auf die Änderungen und damit auch auf die Ziele des JGG seit der Änderung von 1990 ein. Das Allgemeine Ziel des JGG ist es, Jugendliche und Heranwachsende, die eine Straftat nach dem Allgemeinen Strafrecht begangen haben durch pädagogisch geeignete Sanktionen zu erziehen. Mittelpunkt des JGG sind die verschiedenen Sanktionsmaßnahmen. „Mit Hilfe dieser Normen sollen den Entstehungszusammenhängen von Jugendkriminalität Rechnung getragen und Reaktion- und Sanktionsformen angeboten werden, die die biologische, psychologische und soziologische Übergangssituation junger Menschen berücksichtigen.“[42] Als Mittel zur Berücksichtigung dieser Übergangssituation junger Menschen wurden neue Maßnahmen (bzw. einige Änderungen des bisherigen Rechts) in das JGG[43] aufgenommen. Die wesentlichen und für meine Arbeit am relevantesten Maßnahmen sind:[44],[45]
Ausbau der informellen Erledigungsmöglichkeiten (Diversion)
Einführung der „Neuen ambulanten Maßnahmen“, wie Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs und Täter-Opfer-Ausgleich
Einführung der Auflage, Arbeitsleistungen zu erbringen[46]
Beschränkung des Freizeitarrestes von vier auf zwei Wochen
Ausdehnung der Strafaussetzung zur Bewährung bis zu zwei Jahren
Abschaffung der unbestimmten Jugendstrafe
Die Definition des Erziehungsgedanken des JGG ist wahrscheinlich eine der schwierigsten und kaum lösbaren Aufgaben, mit denen die heutige JGH – aber auch Justiz – konfrontiert wird.[47] Zwar ist die JGH laut JGG die pädagogische Instanz des Jugendgerichtsverfahrens, jedoch wird an keiner Stelle im JGG definiert, was unter dem Begriff „Erziehung“ zu verstehen ist. Pieplow spricht deshalb von „Erziehung als Chiffre“[48], um damit die vielen Interpretationsmöglichkeiten...