Von der Judeninsel durchs existenzialistische Paris
Nicht nur ihren Bewohnern, auch der Stadt Paris selbst wurde ein gewisses Selbstbewusstsein in die Wiege gelegt. Fluctuat nec mergitur – Von den Wogen gebeutelt, geht sie doch nicht unter, lautet seit Baron Haussmann die offizielle Devise der Stadt, die seit dem 12. Jahrhundert ein Schiff im Wappen trägt. Das Motto scheint selbst in den Stadtplan eingeschrieben zu sein: Mit ein klein wenig Fantasie erkennt man in der Île de la Cité, der Wiege von Paris, die Form eines Schiffs. Kein Wunder, dass den Parisern ihr alter Wahlspruch heute noch wichtig ist und sie ihn immer wieder – egal ob nach den Terroranschlägen von 2015 oder dem Hochwasser von 2016 – mit trotzigem Stolz vor sich hertragen.
Man sollte es sich nicht entgehen lassen, wenigstens einmal während eines Aufenthalts in Paris ganz vorn an der Inselspitze zu stehen, durch die Zweige der großen Trauerweide auf den Pont des Arts zu blicken, den Square du Vert-Galant im Rücken, und sich wie die Galionsfigur des Pariser Schiffes inmitten der Seine zu fühlen. Zur Hochsaison und an Wochenenden ist hier relativ viel los, an Abenden herrscht oft Partystimmung, doch während der Woche hat man diesen traumhaften Platz am frühen Vormittag meist ganz für sich allein. Ursprünglich lag an seiner Stelle eine kleine, der Île de la Cité vorgelagerte Insel, die erst durch die Bauarbeiten des Pont Neuf im frühen 17. Jahrhundert mit der Hauptinsel vereinigt wurde. Ihr alter Name – „Île aux juifs“, Judeninsel – ist eine makabre Erinnerung daran, dass auf der Insel im Mittelalter Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Auch Jacques de Molay, der letzte Großmeister des Templer-Ordens, starb auf der Judeninsel den Flammentod: König Philipp der Schöne, der die Macht der Kreuzritter brechen und ihre Besitztümer für sich haben wollte, ließ die führenden Templer verleumden und in den Kerker werfen, wo sie unter der Folter alles gestanden, was für Schauprozess, Hinrichtung und Beschlagnahmung ihres Vermögens nötig war. Von der düsteren Geschichte des bezaubernden Ortes offenbar recht wenig beeindruckt sind die unzähligen Liebespaare, die den Weg vom Pont Neuf hinunter zum kleinen Park im Pariser Schiffsbug mit Lovelocks zugepflastert haben, sodass die einst schön anzusehenden Eisengitter, die den Blick auf den Square du Vert-Galant freigaben, heute eine blickdichte Mauer aus Messingschlössern bilden. Absurd, dass diese unzähligen Denkmäler spießiger Instant-Romantik ausgerechnet rund um die Statue von König Henri IV. hängen, den notorisch untreuen Schürzenjäger, der mit acht Frauen sechzehn Kinder zeugte und sicher auch den einen oder anderen folgenlosen Seitensprung auf dem Kerbholz hatte.
Sein Denkmal hat eine kuriose Geschichte: Das 1614 aufgestellte Original der Statue wurde während der Revolution gestürzt und eingeschmolzen, doch während der Restauration unter Ludwig XVIII. rekonstruiert. Das Metall für den Neuguss stammte zum Teil von der ihrerseits gestürzten Napoleon-Statue, die auf der Spitze der Colonne Vendôme gestanden war. Dass man den Kaiser der Franzosen als Material für einen König von Frankreich und Navarra benützte, missfiel offenbar einem der an der Errichtung der neuen Statue beteiligten Arbeiter: Bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 2004 entdeckte man eine kleine Napoleon-Statue im rechten Arm des wieder aufgestellten Königs.
Ungerührt starrt dieser in Richtung Place Dauphine, die wie die Brücke aus seiner Regierungszeit stammt. Seit ich gelesen habe, dass André Breton diesen Platz als „Geschlecht von Paris“ bezeichnet hat, geht es mir damit wie mit dem berühmten rosa Elefanten: Es ist mir unmöglich, nicht an Bretons Vergleich zu denken, wenn ich den ruhigen, harmonischen, dreieckigen Platz im Zentrum der Stadt betrete. Bis vor Kurzem gab es hier mit dem Henri IV eines der besten Billighotels der Stadt, mit Gangtoiletten und Blick auf Notre-Dame. Immerhin ist noch das eine oder andere günstige Bistro übrig geblieben, in dem die Antiquitätenhändler des Platzes verkehren, wie zum Beispiel das freundliche und unkomplizierte Ma salle à Manger, in dem man zu – für die Gegend – vernünftigen Preisen hervorragende Gerichte aus dem französischen Südwesten isst, oft mit baskischem Einschlag, stets mit Charme und Humor serviert. Die bekomme ich auch zu meinem Kaffee an der Bar, wo ich für einen kurzen Augenblick die Atmosphäre des Platzes auf mich wirken lasse.
Mich zieht es zum Pont des Arts, auf dem ich den Spaziergang durchs existenzialistische Paris eigentlich beginnen wollte. Der Grund dafür ist ein Foto von Henri Cartier-Bresson, das Sartre auf der berühmten Fußgängerbrücke zeigt. Allerdings war die Versuchung, zuvor noch einen Abstecher auf die Île de la Cité zu machen, doch zu groß. Den Quai de Conti entlang spaziere ich an zahlreichen Bouquinistenständen vorbei, die das Seine-Ufer bevölkern, eine passende Einstimmung auf das bibliophile Saint-Germain-des-Près. Die Bouquinisten verdanken ihren Namen der Tatsache, dass es im Französischen zwei Wörter für Bücher gibt, neben dem neutralen „livre“ eben auch das Wort „bouquin“, das über das Niederländische ins Französische eingewandert ist. In der Umgangssprache wird es oft als Synonym für „livre“ verwendet, doch der Stand eines „Bouquiniste“ ist etwas völlig anderes als eine vom „livre“ abgeleitete „Librairie“. Während Letztere eine ganz normale Buchhandlung ist, handelt ein „Bouquiniste“, ob an der freien Luft am Seine-Ufer oder in einem fixen Verkaufslokal, ausschließlich mit alten Büchern. Ich genieße es jedes Mal aufs Neue, dass dieser Markt in Paris nicht im gleichen Ausmaß zusammengebrochen ist wie in Wien, wo es kaum noch Antiquariate gibt, weil deren Kunden – die auch immer weniger werden – auf den Online-Handel ausgewichen sind.
Place Dauphine
Exakt 217 Bouquinisten machen rund drei Kilometer des Seine-Ufers zu einer Fundgrube für Bibliophile. Die Holzkisten müssen einheitlich in „Waggon-Grün“ gestrichen werden, im selben Farbton wie Litfaßsäulen, eiserne Brunnen und anderes Pariser Stadtmobiliar. Im Jahr 2011 wurden sie zum Teil des Weltkulturerbes Seine-Ufer. Seit 1859 vergibt die Stadt Paris die Konzessionen für die Kleinunternehmer, die maximal vier Kisten mit einer Gesamtlänge von 8,6 Metern benützen dürfen. Auch wenn viele Bouquinisten Souvenirs und billige Drucke ins Programm genommen haben, zählt ein Bouquinisten-Spaziergang zu den Genüssen, die nun einmal nur Paris bietet. Man muss nicht lang in ein Antiquariat gehen, in dem man womöglich erklären müsste, was man will – dabei weiß man das meistens ja gar nicht! –, sondern kann sich von einem schönen Cover oder einem vielversprechenden Titel verlocken lassen, in alten Stichen blättern und Dinge finden, von denen man noch nicht wusste, dass man sie eigentlich schon seit Langem sucht.
Beim Stand Nummer 33 bleibe ich unwillkürlich stehen. „André Breton“ und „La position politique du surréalisme“ steht in großen Lettern auf dem Titelblatt einer alten Zeitschrift. Daneben liegt nicht etwa ein rosa Elefant, sondern ein Buch von Colette, das den Titel „La Chatte“ trägt. Ich dürfte einen Moment vor dem Anblick verharrt sein, plötzlich steht die Bouquinistin neben mir und drückt mir das Buch in die Hand. „Eine Originalausgabe“, erklärt sie mir und empfiehlt mir das etwas muffig riechende, schön vergilbte und außerdem billige Buch, das ich wohl ohnehin gekauft hätte, dringend wegen seiner eleganten Sprache. Sie beginnt mit mir über den Jugendstil zu plaudern, da sie mich zunächst für einen Belgier hält und ich offenkundig zu wenig über Colette weiß, um mich mit ihr über die schillernde Autorin zu unterhalten. Wien passt da thematisch zwar auch gut, doch meine Gesprächspartnerin hat mit dieser Stadt ihre Schwierigkeiten: „Sehen Sie, ich bin Jüdin, uns wollte man dort eines Tages nicht mehr.“ Wir unterhalten uns noch über Françoise Frenkel, eine polnische Jüdin, die in der Zwischenkriegszeit die einzige französische Buchhandlung Berlins betrieben hat und deren Bericht über ihre Flucht durch Frankreich in die Schweiz im letzten Jahr eines der Ereignisse der literarischen Saison war, doch ich vergesse dabei beinahe, dass die gerade angesagten Bücher eben nicht unbedingt Madame Nordmanns Priorität sind. Das Schöne an den Bouquinisten ist ja schließlich, dass man sich nicht um Trends und Moden kümmern muss, sondern von Büchern umgeben ist, die eine viel längere Halbwertszeit haben als das, was gerade die Feuilletonseiten füllt – Colette und Breton werden auch in ein paar Jahren ihre Leser finden. Sorgen macht sich die Bouquinistin keine. Freilich sind die guten Kunden weniger geworden, doch für sie gibt es keinen Grund zu jammern: Für ihren Beruf braucht es zwar Zeit und Geduld, doch sie liebt ihren Arbeitsplatz...