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E-Book

Perspektivismus

Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik

VerlagFelix Meiner Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl287 Seiten
ISBN9783787336890
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Dass alles eine Frage der Perspektive sei, scheint selbst kaum mehr eine Frage der Perspektive zu sein. Die Vorschussplausibilität dieser Position verdeckt jedoch die Differenzen innerhalb des Perspektivismus. Zum einen kann damit die Gebundenheit unserer Sichtweisen gemeint sein, die je nach Standort wechseln; zum anderen kann zum Ausdruck gebracht werden, dass unterschiedliche Annahmen, Interessen oder Ziele dazu führen, 'denselben' Gegenstand unterschiedlich zu betrachten; zudem haben wir es mit oft divergenten, ja unvereinbaren Überzeugungen zu tun, wie in einer bestimmten Situation zu handeln ist. Es lassen sich demnach verschiedene Versionen des Perspektivismus unterscheiden: eine epistemische, die die Unhintergehbarkeit der Perspektive verdeutlicht, zumal ohne sie gar nichts zu erkennen wäre; eine hermeneutische, die unterstreicht, dass ein Gegenstand nicht selbst bestimmt, wie er verstanden werden könnte; und eine moralische, die den Konflikt zwischen Überzeugungen und Werten verarbeitet. Lässt sich trotz dieser Differenzen eine einheitliche Position formulieren, die das Etikett des Perspektivischen verdient? Liegen hierin womöglich Chancen, die Alternative zwischen relativistischen und realistischen Positionen zu unterlaufen? Und diese Alternative ließe sich selbst noch einmal auf den Perspektivismus anwenden: Ist das Perspektivische eine Eigenschaft der betrachteten Gegenstände oder verdankt es sich unseres Zugriffs auf sie? Und wie steht es um die Grenzen des Perspektivismus: Wo und wann beendet das uns ganz Gewisse den Pluralismus perspektivischer Offenheit? Könnte man nicht zuletzt gar der Perspektivlosigkeit etwas abgewinnen? Mit Beiträgen von Christine Abbt, Johanna Breidenbach, Lisa Heller, Andreas Mauz, David Lauer, Anton Leist, Hartmut von Sass, Niko Strobach, Jakob Tanner, Holm Tetens, Dieter Thomä, David Weberman, Markus Wild und Véronique Zanetti.

Hartmut von Sass, geb. 1980, Studium der Evangelischen Theologie und Philosophie in Göttingen, Edinburgh und Berlin; Assistentur, Promotion und Habilitation in Zürich; Forschungsaufenthalte in Claremont, Oxford, Pasadena und Berkeley; Titularprofessor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie sowie stellv. Direktor des Collegium Helveticum, eines interdisziplinären Forschungsinstituts von ETH und Universität Zürich sowie der Zürcher Hochschule der Künste.

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Leseprobe

Markus Wild

Nietzsches Perspektivismus


»Man erwäge, ob Jemand einen guten Willen zur Erkenntniss der moralischen Dinge hat, der von vornherein durch den Glauben an die Unbegreiflichkeit dieser Dinge sich beseligt fühlt! Einer, der noch ehrlich an Erleuchtungen von Oben, an Magie und Geistererscheinungen und die metaphysische Hässlichkeit der Kröte glaubt!«

(Nietzsche, Morgenröthe § 142)

Friedrich Nietzsches sogenannter Perspektivismus wird häufig als zentraler Bestandteil seiner Philosophie betrachtet. Dabei wird der Perspektivismus vorwiegend als eine epistemologische, d. h. Erkenntnis, Wissen und Wahrheit betreffende These angesehen. Dieser die Diskussion dominierenden epistemologischen Deutung des Perspektivismus bei Nietzsche soll eine psychobiologische Deutung entgegengesetzt werden.1 Für Nietzsche, so möchte ich zeigen, sind nicht die Erkenntnis oder gar die Wahrheit perspektivisch, vielmehr gibt es perspektivische Bewertungen, Bewegungen und Repräsentationen, die Lebewesen für das Erkennen nutzbar machen.2

1. Sehen als vieldeutiges Paradigma für EDP3

Eine häufig angeführte Stelle zur Unterstützung der EDP findet sich im zwölften Aphorismus der dritten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral (1887): »Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹.«4 Nimmt man diese Passage beim Wort, so argumentiert Nietzsche in etwa folgendermaßen: Sehen ist das korrekte Modell für Erkennen; alles Sehen ist perspektivisch; alles Erkennen ist perspektivisch. Der Ausdruck ›sehen‹ ist freilich zweideutig, weil man ihn sowohl transitiv als auch intransitiv benutzen kann. So kann man einfach feststellen, dass man in der Lage ist zu sehen, auch wenn es stockdunkel und nichts sichtbar ist; demgegenüber kann man auch darauf hinweisen, dass man etwas sieht. Gemeint ist offenbar der transitive Gebrauch von Sehen, das reine Vermögen des Sehens – der intransitive Gebrauch – scheint an dieser Stelle (noch) nicht relevant zu sein. Deshalb lautet das Argument für den Perspektivismus wie folgt:

(1)Sehen ist das korrekte Modell für Erkennen.

(2)Alles Sehen von Etwas ist perspektivisch.

(3)Alles Erkennen von Etwas ist perspektivisch.

Offensichtlich wird das Sehen als das passende Paradigma für das Erkennen vorgeschlagen.

Dem ersten Schritt könnte man entgegenhalten, dass mit diesem Paradigma ein traditionelles Beobachtermodell der Erkenntnis fortgesetzt und gegenüber einem eher pragmatischen Handlungsmodell bevorzugt wird. Der Pragmatismus etwa fordert eine Ablösung der »Zuschauertheorie« der Erkenntnis durch eine an der Praxis ausgerichtete Auffassung.5 Die Bevorzugung des Sehsinns führe zu einem falschen Modell der Erkenntnis als akkurates Abbilden der Realität.6 Nietzsche fordert ebenfalls eine Ablösung von der statischen Zuschauertheorie und ist gegenüber der Idee des Repräsentationalismus in der Erkenntnistheorie ausgesprochen kritisch. Aus diesem Grund scheint es fraglich, Nietzsche ein solches Paradigma der Erkenntnis zu unterstellen.

Der zweite Schritt enthält ebenfalls eine Zweideutigkeit, weil sowohl das Subjekt als auch das Objekt perspektivierende Eigenschaften haben können. Einerseits können Subjekte im Fall des Sehens über unterschiedliche Sinnesorgane verfügen, unterschiedliche Standpunkte einnehmen oder in unterschiedlicher psychischer Verfassung sein. Dies alles beeinflusst die Perspektive auf ein Objekt. Andererseits können sich Objekte der visuellen Wahrnehmung durch Formen, Farben, Schattenwürfe, Belichtung, Relation zu anderen Gegenständen usw. unterscheiden, was seitens der Wahrnehmungsobjekte zu Unterschieden in perspektivischen Eigenschaften führt. Die Wahrnehmung einer grell beleuchteten Straße unterscheidet sich auf der Subjektseite beispielsweise danach, ob ein Betrachter unter dem Einfluss schwer halluzinogener Drogen steht oder nicht. Nehmen zwei Personen in normaler Verfassung entweder eine ruhende Kugel oder eine flatternde Fledermaus wahr, ergeben sich unterschiedliche perspektivierende Effekte auf der Objektseite.

Darüber hinaus – und dieser Aspekt wird im Hinblick auf BDP von besonderer Bedeutung sein – können sich Subjekte und Standpunkte individuell und artspezifisch stark unterscheiden. Hier ein fiktionales und drastisches Beispiel. M. Night Shyamalans Science-Fiction-Film After Earth (2013) zeigt eine Menschheit, die sich nach der Zerstörung der Erde auf dem Planeten Nova Prime eine neue Lebensgrundlage erschaffen hat. Allerdings ist Nova Prime nicht besonders lebensfreundlich, insbesondere die Ursas machen den Menschen zu schaffen. Ursas sind große, sechsbeinige, echsenartige, furchterregende Raubtiere, die in der Lage sind, Menschen wahrzunehmen, indem sie die biochemische und physiologische Signatur der menschlichen Angst aufspüren, ansonsten verfügt ein Ursa über keine ausgeprägten sensorischen Systeme. Nachdem der Ranger Cypher Raige (Will Smith) die Technik entdeckt hat, die Angst vor den Ursas vollständig zu unterdrücken, werden Ranger in dieser Technik des »Ghosting« ausgebildet. Das »Ghosting« macht Menschen gleichsam unsichtbar für Ursas. Offenbar unterscheidet sich die Perspektive der Ursas grundsätzlich von der Perspektive von Menschen und zwar aufgrund der Tatsache, dass es sich um zwei völlig verschiedene biologische Arten handelt und dass Exemplare beider Arten über sehr unterschiedliche Sinnessysteme verfügen.

Schließlich wirft auch der dritte Schritt – gleichsam die Konklusion des Arguments – einige Fragen auf. Meint Nietzsche mit »Es giebt … nur ein perspektivisches ›Erkennen‹« alle möglichen Formen der Erkenntnis oder nur die menschlichen Formen der Erkenntnis? Denkbar ist die Möglichkeit einer göttlichen und absoluten Form der Erkenntnis, die wesentlich nicht perspektivisch wäre. Folglich kann Nietzsche nicht alle möglichen Formen der Erkenntnis meinen. Eine Beschränkung auf die menschliche Erkenntnis erscheint willkürlich. Wenn wir davon ausgehen, dass Ursas in der Lage sind, Menschen an den Wirkungen ihrer Angst zu erkennen, und Fledermäuse Insekten mittels Echolokation, so scheint es auch andere biologische Grundlagen für Erkenntnisse zu geben. Aber selbst wenn wir annehmen, dass Nietzsche allein über die menschlichen Formen der Erkenntnis spricht, bleibt die Frage offen, ob das Argument sich wirklich auf alle menschlichen Erkenntnisformen und nicht nur auf empirische Erkenntnisse bezieht. Es fällt einem zumindest schwer, mithilfe des Paradigmas des Sehens zu verstehen, inwiefern die Erkenntnis, die sich im Satz des Pythagoras ausdrückt, perspektivisch sein sollte.

Nach dem Gesagten könnte die Konklusion nun beispielsweise so verstanden werden: Alle empirischen Erkenntnisse von Menschen sind mit Blick auf die Beschaffenheit der individuellen Subjekte perspektivisch. Dies wäre eine schwache Variante der EDP, weil sie beispielsweise lediglich auf den Unterschied hinausläuft, dass grüne und rote Dinge für einen normalsichtigen Menschen anders aussehen als für einen farbenblinden Menschen. Die Konklusion könnte jedoch auch wie folgt verstanden werden: Alle Erkenntnisse von Lebewesen gleich welcher Art sind mit Blick auf die Beschaffenheit sowohl der Subjekte als auch der Objekte perspektivisch. Dies ist eine weit dramatischere These, die bereits in die Richtung der BDP zeigt. Für Ursas werden Menschen aufgrund der biologischen Verfassung ihrer Spezies auf ganz und gar andere Weise vorgestellt als beispielsweise für Hunde.

2. Die Formulierung der EDP

Trotz der aufgeführten offenen Fragen und der unterschiedlichen Optionen, die Konklusion des Arguments zu verstehen, haben eine ganze Reihe von Interpretinnen und Interpreten Nietzsches Äußerungen eine starke epistemologische Lesart zuteilwerden lassen. Arthur Danto gibt Nietzsches Perspektivismus folgende Formulierung: »The doctrine that there are no facts, but only interpretations was termed Perspectivism7 In vergleichbarer Weise formuliert 30 Jahre später Peter Poellner: »[Nietzsche] declares that ›there are only interpretations‹, none of which can be said to be objectively better or to be more ›fitting‹ than any other, since it is not coherent to suppose that there is anything for any interpretation to fit to in the required way.«8

Danto, Poeller und viele andere verstehen Nietzsches Perspektivismus als eine Form von Interpretationismus.9 In einer schwachen Lesart läuft ein Interpretationismus entweder auf einen Fallibilismus, dem zufolge Interpretationen stets falsch sein können, oder auf einen lokalen Interpretationismus hinaus, dem zufolge in gewissen Bereichen Erkenntnisse möglich sind (etwa in den Bereichen der Physik oder der Geometrie), während in anderen Bereichen nur Interpretationen zu haben sind (etwa in den Bereichen der Moral oder der Kunst)....

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