Um auf die beiden Formen der Variation, Variantenbildung und Modifikation, besser eingehen zu können, lohnt sich ein genauerer Blick auf eine weitere semantische Eigenschaft von Phraseologismen, nämlich auf die Motivation.
Idiomatische Ausdrücke sind semantisch motiviert. Zwar sind, wie bereits gesehen, nicht alle Phraseologismen idiomatisch; sie stellen jedoch „prototypische“ Phraseologismen dar und sind für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse.
Motivation meint die Beziehung zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung. Der spanische Ausdruck ser como uña y carne bedeutet wörtlich ,wie Fingernagel und Fleisch sein‘, idiomatisch bedeutet er , unzertrennlich sein‘. Während die idiomatische Bedeutung lexikalisiert ist, ist dies bei der wörtlichen nicht der Fall. Der Sprecher kann die Bedeutung allerdings durch sein „Weltwissen“ verstehen: Der Fingernagel und das Fleisch im Bett sind zusammengewachsen und somit unzertrennlich.
Um die Motivation besser nachvollziehen zu können, soll im Folgenden Bezug auf ein etwas anderes Feld genommen werden, nämlich auf den Bedeutungswandel. Dass es sich im Folgenden um Komposita handelt und nicht um Phraseologismen (Polylexikalität!), soll nicht weiter stören, da die dort gewonnenen Erkenntnisse sehr gut auf den Bereich der Phraseologie angewendet werden können, wie später gezeigt werden soll.
In Punkt II. 1.1 sollen zunächst die drei Mechanismen des Bedeutungswandels erläutert werden, die für diese Arbeit von besonderer Relevanz sind: Metapher, Metonymie und taxonomische Inklusion. Es existieren allerdings weitaus mehr Mechanismen, auf die jedoch nicht weiter eingegangen werden soll.
1.1.1 Metapher
Bei der Metapher werden zwei Designate oder Sachverhalte, die in keinem sachlichen Verhältnis zueinander stehen, aufgrund gemeinsamer Eigenschaften miteinander verglichen, wodurch eine ,künstliche‘ Ähnlichkeit erzeugt wird. Ein Referent wird also durch ein Zeichen bezeichnet, dessen Detonat in einer Ähnlichkeitsrelation zum Referenten steht. Dieser rhetorische Tropus ist demnach durch Similaritätsassoziationen motiviert.[63] Metaphorische Relationen drücken Sätze des Typs ,ein X ist so ähnlich wie ein Y‘ aus.
Viele Metaphern folgen einem kognitiven Prinzip, nach dem sie in zwei Teile gegliedert werden: in den Quellbereich und in den Zielbereich. Während der Quellbereich das Naheliegende, Bekannte und leicht Konzeptualisierbare darstellt, beinhaltet der Zielbereich das Entfernte, Unbekannte und schwer Konzeptualisierbare. So kommt es, dass aus dem Quellbereich bildliche Strukturen und Bedeutungen in den Zielbereich übertragen werden.
(9) afr. chief ,Kopf fr. chef ,Anführer‘
Augenscheinlich existiert hier kein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Quell- und dem Zielkonzept, vielmehr wird hier eine Ähnlichkeit der beiden Konzepte durch einen Vergleich gesehen. So wie sich der KOPF oberhalb des KÖRPERS befindet, befindet sich der Anführer sozusagen oberhalb der Gruppe.[64]
1.1.2 Metonymie
Bei der Metonymie wird die Basis der Verbindung zwischen Quell- und Zielkonzept durch Kontiguitätsrelationen gebildet. Die Konzepte stehen also, im Gegensatz zur Metapher, in direktem Zusammenhang zueinander.[65] Die Metonymie drückt Sätze des Typs ,ein X hat mit einem Y etwas zu tun‘ aus und wird generell vor dem Hintergrund von Frames und Scripts betrachtet.[66] Während es sich bei der Metapher um die Verschiebung eines Designates zwischen zwei distanten Frames handelt, kommt es bei der Metonymie zu einer Verschiebung eines Designates innerhalb eines gemeinsamen kognitiven Frames.
Es existieren verschiedene Möglichkeiten, durch die sich eine Kontiguität zwischen den jeweiligen Konzepten manifestieren kann, bspw. durch Teil-Ganzes- Beziehungen (sp. cabeza ,Kopf > ,Person‘), BEHÄLTER-INHALT-Beziehungen (fr. bouteille ,Behälter für Flüssigkeiten‘ > ,bestimmte Menge dieser Flüssigkeit selbst‘) oder FOLGE-URSACHE-Beziehung (asp. pagar ,zufrieden stellen‘ > sp. pagar ,bezahlen‘).[67] Die Bedingung für das Gelingen dieses Effektes ist, dass beide Konzepte im Weltwissen der Sprecher bereits durch Kontiguität verbunden sind, d. h. dass in ihrem Bewusstsein eine assoziative Beziehung zwischen den Konzepten existiert.[68]
1.1.3 Taxonomische Innovationen: taxonomische Inklusion
Die taxonomischen Innovationen umfassen zwei Bereiche: die kohyponymische Übertragung sowie die hyponymischen Relationen. Kohyponymische Übertragung bedeutet, dass der Bedeutungswandel zwischen zwei Unterbegriffen (Kohyponymen) eines gemeinsamen Oberbegriffs stattfindet; dieser Bereich ist für die vorliegende Arbeit jedoch weniger relevant und wird infolge dessen vernachlässigt.
Die hyponymischen Relationen, also die Beziehungen zwischen Ober- und Unterbegriff, auch taxonomische Inklusion genannt, teilt sich wiederum in zwei Bereiche: die Generalisierung (Bedeutungserweiterung) und die Spezialisierung (Bedeutungsverengung). Sie drücken Sätze des Typs ,ein X ist eine Art (von) Y‘ (oder umgekehrt: ,ein Y ist eine Art (von) X‘) aus, wobei bei der Generalisierung der Vorgänger das erste Argument ist, bei der Spezialisierung der Nachfolger.
Nach dem Modell ,ein X ist eine Art (von) Y‘ (bzw. umgekehrt) ist also ein Sperling eine Art von Vogel und Fleisch eine Art Lebensmittel.[69]
Gévaudan (1999) trennt hinsichtlich der Wortbildungsverfahren strikt zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite. Die Ausdrucksseite beinhaltet erstens, dass sich Wortkombinationen in zwei verschiedenen Typen manifestieren können, nämlich in Kompositionen (ein Wort, z. B. dt. Rotwein) einerseits und Syntagmen (z. B. fr. vin rouge, sp. vino rojo) andererseits, zweitens, dass Kompositionen und Syntagmen lexikalisiert sind (z. B. ist vin rouge ,Rotwein‘ lexikalisiert, vin frais ,kühler Wein‘ hingegen nicht) und drittens die äußere und innere Grammatik, auf die an dieser Stelle allerdings nicht eingegangen werden soll.
Die Inhaltsseite von Wortbildungsverfahren umfasst zum einen die semantischen Relationen (z. B. Metapher, Metonymie und taxonomische Relationen), zum anderen den semantischen „Übertragungsweg[70]“, also den Weg vom Inhalt der Konstituenten zum Inhalt der Wortkombination. Dieser soll im Folgenden anhand der Wortkombination Feuerleiter dargestellt werden.
Während bei der semantischen Grundstruktur die einzelnen Inhalte im Vordergrund stehen, bspw. bei
drückt die doppelte semantische Übertragung die Beziehung der einzelnen Komponenten einer Wortkombination aus, die diese zueinander haben und die mitsymbolisiert wird. Es wird demnach gefragt, in welcher Beziehung a zu c und b zu c stehen, also:
Anhand dieses Modells wird ersichtlich, dass es sich bei der Beziehung von Feuer zu Feuerleiter um eine Kontiguitätsrelation handelt, bei Leiter zu Feuerleiter um eine taxonomische Inklusion, genauer um eine Spezialisierung.[71]
Bei den subordinierenden Wortkombinationen stellt das grammatisch subordinierte Element das Determinans dar, das superordinierte Element das Determinatum.[72]
Im Folgenden sollen nach Gévaudan (1999) drei Fälle subordinierender Wortkombinationen herausgegriffen und vorgestellt werden, die für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz sind.
Fall 1: Spezialisierung durch Kontiguität
Die Spezialisierung durch Kontiguität soll anhand des Beispiels engl. lemon tree ,Zitronenbaum‘ < tree ,Baum‘ + lemon ,Zitrone‘ verdeutlicht werden:
Abb. 1: Taxonomische Inklusion + Kontiguität
Die Spezialisierung des Oberbegriffs Baum zu Zitronenbaum wird von der Zitrone als Teilkonzept des Frames Zitronenbaum bewirkt. lemon tree ,Zitronenbaum‘ stellt also eine Spezialisierung von tree ,Baum‘ dar (,ein Zitronenbaum ist eine Art Baum‘) und lemon ,Zitrone‘ steht in einer metonymischen Relation zu lemon tree ,Zitronenbaum‘.
Fall 2: Spezialisierung durch Similarität
Die Spezialisierung kann auch durch einen metaphorischen Inhalt erreicht werden. Dies soll folgende Graphik verdeutlichen:
Abb. 2: Taxonomische Inklusion + Similarität
Während pesce ,Fisch‘ einen Oberbegriff von pescecane ,Hai‘ (wörtl. ,Hundfisch‘) darstellt (pescecane ,Hai‘ stellt demnach eine Spezialisierung von pesce ,Fisch‘ dar), handelt es sich bei der Relation zwischen cane ,Hund‘ und pescecane ,Hai‘ um eine Ähnlichkeitsbeziehung.
Fall 3: Verschachtelte...