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'Plötzlich und unerwartet ...'

Selbstmorde nach Wende und Einheit

AutorKlaus Behling
VerlagEdition Berolina
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783958415089
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Der Mauerfall und die deutsche Vereinigung waren überwiegend von Euphorie und Aufbruchstimmung begleitet. Wenig Raum blieb für die Sorgen all jener Menschen, auf die die Ereignisse bedrohlich wirkten: Verlustängste, existenzielle Nöte, Verbitterung über die »Niederlage« im Wettbewerb der Systeme, Verzweiflung ob der öffentlichen Diskreditierung der eigenen Lebensleistung - Motive dafür, keine Wege in eine lebenswerte Zukunft mehr zu sehen und zum Äußersten zu greifen, gab es zuhauf. Sorgfältig recherchiert und ohne Voyeurismus untersucht Klaus Behling erstmals dieses bis heute nicht abgeschlossene Kapitel der Wende. Er greift eine Reihe von spektakulär diskutierten Suizidfällen auf und entwirft eine Typisierung. Gab es eine Selbstmordwelle nach dem Mauerfall? Gab es überhaupt einen signifikanten Anstieg der Freitode im Osten Deutschlands nach 1989/90? Welche Motive waren es, die Menschen freiwillig aus dem Leben scheiden ließen? Und wie wurden die individuellen Schicksale medial vermittelt? Ein berührendes Buch, in Distanz und zurückhaltend verfasst, mit unbequemen Ergebnissen.

Klaus Behling, geboren 1949, ist Asienwissenschaftler und war Diplomat in Laos, Kambodscha und Rumänien. Bis zur Wendezeit arbeitete er am Institut für Internationale Beziehungen, bevor er von 1991 bis zu seiner Pensionierung als Journalist für den Springer Verlag tätig war. Er ist Autor zahlreicher Publikationen, u. a. zur DDR-Spionage und kriminellen Aktivitäten des MfS; zuletzt 111 Fragen an die DDR (2012).

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Leseprobe

1. Signal und Fanal

Es war die makaberste der ohnehin nicht gerade zimperlichen Boulevard-Geschichten über den Kampf um Grundstücke und Häuser im Osten nach der Einheit. Am 3. Mai 1991 verkündete die Schlagzeile des extra für die ehemaligen DDR-Bürger gegründeten Blattes »SUPER!« mit einem Bild des Opfers und großen Buchstaben: »Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen«, Unterzeile: »Ganz Bernau ist glücklich, dass er tot ist«.

Es ging um ein Haus des derweil aufgelösten »Freien Deutschen Gewerkschaftsbund« (FDGB) in der Siedlung »Waldfrieden«, zwei Kilometer außerhalb von Bernau, Richtung Wandlitz. Von dort aus wollte Dieter B., angeblich ein Geschäftsmann aus West-Berlin, das große Geschäft mit den nahe gelegenen, biederen Häusern in bester Lage machen, die vormals die Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der SED in ihrem abgeschotteten Ghetto in Wandlitz bewohnten.

Der damalige Bernauer Bürgermeister Ulrich Gerber erinnert sich an Dieter B., der bereits vor seinem Dienstantritt am 1. Juni 1990 schon Fäden zum Liegenschaftsamt gesponnen hatte: »Ein alter klappriger BMW, der merkwürdigerweise ein Diplomatenkennzeichen hatte, stand vor dem Rathaus, B. ging dort ein und aus, war laut, aufdringlich und interessierte sich vor allem für Grundstücke.«

Es waren Monate im gefühlten rechtsfreien Raum. Die früheren Verantwortlichen trauten sich nicht mehr, Entscheidungen zu treffen und die »Leihbeamten« aus dem Westen wurden als Besatzer empfunden, die auch noch »Buschzulage« kassierten. Für Dieter B. reichte die scheinbar goldene Rolex am Handgelenk als Ausweis, um mit dem Geld der Einheimischen eine Reihe von unübersichtlich verflochtenen Immobilienfirmen zu gründen. Als wenig später durchsickerte, dass der 49-jährige in Frankfurt am Main und West-Berlin bereits Ärger wegen Betrugs, versuchter Erpressung und Nötigung hatte, wuchs das Misstrauen. Argwöhnisch wurden die wilden Partys in »Waldfrieden« beobachtet. B.’s rund 20 Jahre jüngerer, homosexueller Freund Jürgen K. war dort inzwischen mit eingezogen. Dessen vorherige Aktivitäten im Frankfurter Drogen- und Rotlichtmilieu waren ebenfalls kein Hinweis auf seriöse Geschäfte.

Anette Bargenda, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) erinnert sich: »B. wurde am 15. April 1991 im Haus gefunden. Getötet mit mindestens neun Bier- oder anderen Spirituosenflaschen, die der Täter auf seinem Kopf zerschlagen hatte.« Unter dringendem Tatverdacht: Der derweil verschwundene Jürgen K. Befragt werden konnte er nicht mehr, denn am 5. Mai 1991 fand man seine Leiche in Frankfurt am Main. Eine Spritze mit dem »Goldenen Schuss« steckte noch in seinem Arm. Die Akten wurden geschlossen.

Was blieb, waren die Gerüchte, die durch Bernau zogen. Natürlich fehlte auch der »Stasi-Auftragsmord« dabei nicht. Staatsanwältin Bargenda dazu: »Es gab und gibt bis heute keinerlei Hinweise darauf, dass Jürgen K. kein Einzeltäter war.«

Der Mord blieb unaufgeklärt. Das war bei einem anderen Todesfall, bei dem es ebenfalls um Haus und Hof in der märkischen Kleinstadt ging, nicht der Fall.

Am 4. März 1992 nahm sich Dr. Detlef Dalk das Leben. Mit dem Aufbruch in der DDR war er in dem Örtchen Zepernick bei Bernau Gemeindevertreter für »Bündnis 90« und Kreistagsabgeordneter geworden. Als ein »Alteigentümer« aus dem Westen Ansprüche auf sein Haus anmeldete und damit Recht bekam, begann Detlef Dalk seinen Kampf, der mit seinem angekündigten Selbstmord endete, als öffentliches Fanal.

Abschiedsbrief an Helmut Kohl

Der im Einigungsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik vereinbarte Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung« bedrohte Anfang der 90er Jahre viele ostdeutsche »Neu-Bundesbürger« in ihrer Existenz, weil nach DDR-Recht bis zur Wende Grund und Boden, der enteignet worden war, nur »Volkseigentum« sein konnte, auch wenn darauf mit offizieller Genehmigung der Behörden ein privates Haus gebaut worden war. Nun fühlten sich deren Besitzer von Vertreibung bedroht. Übergangsregelungen, wie etwa der nachträgliche Kauf des Grundstücks zu einem bevorzugten Preis, kamen oft wegen Kapitalmangels nicht in Frage. Die Nichtberücksichtigung der meist über Jahre oder gar Jahrzehnte ins Haus gesteckten Arbeit wurde als ungerecht empfunden.

Die »Regelung offener Vermögensfragen« betraf das gesamte Gebiet der vormaligen DDR und führte besonders in den Gemeinden rings um Berlin nach und nach zum Wechsel erheblicher Teile der Bevölkerung. In Orten wie zum Beispiel Kleinmachnow lag er am Ende bei weit mehr als drei Vierteln der früheren Bewohner. Die Hamburger »Zeit« kommentierte im März 1992: »Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass nicht wenige Ostdeutsche heute zumindest das Gefühl haben, sie hätten es im alten Unrechtsregime besser ausgehalten als in der neuen Demokratie.« Insgesamt bearbeitete das zuständige Bundesamt für Offene Vermögensfragen nach der Einheit rund 2,3 Millionen Anträge.

Detlef Dalk entschied sich als Betroffener, mit einem von ihm selbst als Opfer empfundenen Suizid, auf diese Problematik aufmerksam zu machen.

Deshalb schrieb er einen »Offenen Brief« an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU): »Ich bin soweit. Ich werde mein Leben opfern, damit meine Familie und andere Familien in den so genannten Beitrittsgebieten ihr Leben friedlich dort verbringen können, wo sie heute leben. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Ich hänge am Leben, einem Leben in Wahrheit, in Selbstachtung und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten … Ich bin Fraktionsvorsitzender des Neuen Forum/Bündnis 90 der Gemeinde Zepernick und Mitglied des Kreistages Bernau. Was ich in diesen Parlamenten erlebte, ist das Aufgeben jeder eigenständigen Politik. Ich erlebte nur Anpassungsvorgänge an die Strukturen der alten Bundesrepublik, eine einfache Umschichtung ist im Gange … Das ist nach meiner Auffassung auch der Kern in den so genannten ›offenen Vermögensfragen‹. Ein Vermögensabfluss von Ost nach West größten Ausmaßes wurde von Ihrer Partei, den hinter dieser Partei stehenden Kräften und Ihnen persönlich eingeleitet … Wir werden gar nicht mehr gefragt. Aus diesem Grunde, Herr Bundeskanzler, opfere ich mein Leben. Alle anderen Wege des Wachrüttelns bin ich gegangen. Als Familienvater habe ich die Pflicht, meine Familie vor Unheil zu schützen …«

Dalk hatte sein Grundstück im August 1988 nach DDR-Recht redlich gekauft. Im Juli 1991 meldete sich der Alteigentümer und beschuldigte ihn per Brief, Haus und Grund »wissentlich zu Unrecht erworben« zu haben. Acht Monate später erhängte sich Detlef Dalk am Balkon seines Hauses. Nicht um sein eigenes Schicksal sei es ihm bei seinem öffentlichen Freitod gegangen, sondern darum, die »Überstülpungspolitik« des Westens zu verhindern, berichtete seine Witwe.

Eine Antwort auf den »Offenen Brief« des 48-jährigen Mannes gab es nicht. Kanzleramtschef Friedrich Bohl wiegelte ab. Der Selbstmord sei »nicht symptomatisch« für die Lage im Osten, ließ er nebenbei verlauten.

War Detlef Dalk typisch für den Osten? Er selbst bezeichnete sich einmal als »verunsicherten Marxisten«, der 1989 in der Evangelischen Studentengemeinde in Berlin nach Wegen für eine demokratische Veränderung der DDR suchte. Das führte ihn in die Politik, in der er sich selbst als »Politiker mit hohen moralischen Ansprüchen« sah. Über Moral in der Politik wurde nach Herstellung der Einheit kaum diskutiert. Auch die Frage, welche Hintergründe der Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung« eigentlich hatte, blieb ausgespart. Über viele Betroffene kam er nun wie ein Gottesurteil.

Ausgangspunkt der »offenen Vermögensfragen« war der politische Neuanfang im Osten nach dem Krieg. Er ging mit einer Neuordnung der Eigentumsverhältnisse einher, Voraussetzung dafür bildeten umfangreiche Enteignungen. Sie begannen unter der sowjetischen Besatzungsmacht und setzten sich nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 fort.

Diese Enteignungen erfolgten nicht als reine Willkürakte, sondern auf der Grundlage von in der DDR geschaffenen Gesetzen und Verordnungen. Die wichtigsten dabei waren die »Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten« vom 17. Juli 1952, die »Verordnung vom 6. September 1951 über die Verwaltung und den Schutz ausländischen Eigentums in der Deutschen Demokratischen Republik« und die »Anordnung Nr. 2 vom 20. August 1958 über die Behandlung des Vermögens von Personen, die die Deutsche Demokratische Republik nach dem 10. Juni 1953 verlassen«.

Enteignungen von DDR-Bürgern zur »Schaffung des Volkseigentums« waren in der Regel mit einer Entschädigung verbunden. Betrafen sie jedoch Bürger der Bundesrepublik, erfolgten sie zunächst entschädigungslos, dann zu Ausgleichszahlungen, die unter denen für DDR-Bürger lagen.

Nach DDR-Verständnis, das die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger teilte und als »gerecht« empfand, wurde deren Eigentum »in den Schutz des Volkseigentums überführt«.

Ab dem 11. Juni 1953 setzte die DDR bei verlassenen Grundstücken und Häusern staatliche Verwalter ein, formal blieben die Rechte am Eigentum bestehen. Auch dafür gab es bei den Zurückgebliebenen Verständnis: Wer Haus und Hof bei Nacht und Nebel verließ, gab es freiwillig auf, war die vorherrschende Meinung.

Zu den Aufgaben der Verwalter gehörte eine planmäßige Überschuldung des fremden Eigentums, um es dann ohne weitere...

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