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Politische Zeiten

Beobachtungen von der Seitenlinie

AutorClaus Leggewie
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641142315
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Politische Autobiografie und deutsche Zeitgeschichte
In Claus Leggewies Autobiografie spiegelt sich der Lebenslauf vieler Altersgenossen: kosmopolitisch, ökologisch engagiert, querdenkend haben sie Deutschland entscheidend mitgeprägt. In der Schilderung von Schlüsselszenen setzt sich etwas zusammen, das im Rückblick gern Entwicklung genannt wird, das er allerdings auch von Zufällen, Brüchen und Gefährdungen geprägt sieht. Da spürt der Kölner Junge plötzlich die Nähe der NS-Vergangenheit und begreift durch einen Blumenstrauß im Rinnstein eines Pariser Nobelviertels die Gewalt der Macht. 1968 betrachtet er von der Seitenlinie, seither macht er als Beobachter und Berater gelegentlich selbst Politik. Reisen führen in alle Kontinente, Begegnungen mit Menschen, Ideen, Weltanschauungen werden aufgeschrieben. Leggewie vergewissert sich der Erinnerungsspuren des eigenen Lebens und einer Generation, mit der sich fast alles änderte. So sind diese Erinnerungen auch ein spannendes Stück gelebte Zeitgeschichte.

Claus Leggewie, geboren 1950, lehrt Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen. Er beschäftigt sich wissenschaftlich und publizistisch mit dem Nachleben der Geschichte in der kollektiven Erinnerung, mit den Grundlagen kooperativen Verhaltens in multikulturellen Gesellschaften und mit den Chancen der Demokratie in aktuellen Herausforderungen wie dem Klimawandel.

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Leseprobe

1. Weihnachten ’59:
Wie Politik in mein Leben trat

Mein Vater war ein viel beschäftigter Mann, ebenso angesehener wie gefürchteter Gymnasialdirektor mit Leib und Seele, ein Schwarzseher, der im Grunde seines Herzens jedoch ein fröhlicher Mensch war, der gern mit seiner Familie lachte, um die er sich andererseits dauernd sorgte. Mit 1,89 Metern war er für mich ein Riese, dessen Nachkriegsmagerkeit allmählich schwand. Der linke Arm war von einer Kriegsverletzung versteift. Hin und wieder nahm er mich an die andere Hand, und wir spazierten »in die Stadt«, wie wir das Zentrum Kölns zwischen Neumarkt und Dom nannten. Den Weg säumten gähnend leere oder schon hastig gefüllte Trümmergrundstücke. Krönender Abschluss unseres Fußmarschs war meist die Hohenzollernbrücke, unter deren wiederaufgerichteten Eisenfachwerkbögen schwere Dampfloks über den Rhein rumpelten. Ich liebte diese Spaziergänge, sie stehen für eine glückliche, unbesorgte Kindheit und ein Grundvertrauen in die Eltern.

Auch am Weihnachtstag 1959 spazierten wir früh los, wohlgestimmt durch die am Vorabend ausgetauschten Geschenke – für mich die Märklin-Bahn, Kalle-Blomquist-Krimis, Marzipankartoffeln. Als wir den Rathenauplatz überquerten, schien die Hand des Vaters zu erstarren. Ruckartig blieb er stehen und blickte stumm auf akkurat gepinselte Hakenkreuze an den Wänden der Synagoge, vor der Polizeiwagen parkten. Mit neundreiviertel Jahren konnte ich das Menetekel nicht deuten, doch schoss mir eine Art elektrischer Schock durch Mark und Bein und deutete den Ernst der Lage an: Zwei Jahrzehnte nach der »Reichskristallnacht« hatte es jemand für gut gehalten, ein jüdisches Gotteshaus zu schänden.

Kölner Synagoge, Hakenkreuzschmierereien an Weihnachten 1959

© Ullstein Bild, Berlin (Nini & Carry Hess)

Was ich nicht wissen konnte: Die Kölner Synagoge, eingeweiht zur Jahrhundertwende, war 1938 durch den nationalsozialistischen Mob verwüstet und später in einer Bombennacht des Zweiten Weltkriegs völlig zerstört worden. Bundeskanzler Konrad Adenauer, der vormalige Oberbürgermeister der Stadt, trieb die von der Mehrheit der Deutschen abgelehnte Wiedergutmachung eher still und leise voran, auf seine Initiative hin war auch die neuromanische Synagoge, die durch ihren Tuffstein unserer Nikolauskirche in Sülz ähnelte, originalgetreu wiederaufgebaut und im September 1959 feierlich eingeweiht worden. Der Architekt Helmut Goldschmidt hatte Auschwitz und Buchenwald überlebt, nur wenige Wochen später prangten an seinem Bau die Swastika und der böse Spruch »Juden raus«.

Verwirrt schaute ich hoch, der Vater schüttelte nur leicht den Kopf. Auch heute kann ich nur spekulieren, was sich darin abgespielt haben könnte, nie haben wir später über dieses Ereignis gesprochen. Wie ich nach seinem Tod anhand der Entnazifizierungsurkunde herausfand, war mein Vater im November 1937 mit vielen Volksgenossen in die NSDAP eingetreten, er wohl, um nach Referendariat und Wehrdienst seiner Lebensaufgabe als Studienrat für Latein und Griechisch nachgehen zu können. Das von den Nazis ein Jahr später inszenierte Pogrom hatte er als 28-Jähriger erlebt und die Synagoge verwüstet gesehen. Am nahen Rudolfplatz, im Terrassenpavillon des Opernhauses, hatten sich meine damals frisch verlobten Eltern zum Rendezvous verabredet. In der Manier des damaligen Bildungsbürgertums wurden Nazis ob ihres schlechten Benehmens als »Proleten« missbilligt. Die Schändung eines Gotteshauses dürfte sie dem gläubigen Katholiken noch suspekter gemacht haben. Dass ihm beim Vorbeimarsch einer SA-Kolonne der Hut vom Kopf geschlagen wurde, weil er den Braunen den Respekt versagte, hatte er öfter erzählt. Auch dass jeder in Verruf geriet, der an Fronleichnam bei der Prozession mitging – was ich als Messdiener gerade einmal jährlich tat und nicht im Mindesten zu beanstanden fand.

So wie für spätere Leser Hitler der war, der das rosa Kaninchen stahl, waren die Nazis für mich Antichristen, die meinen Vater bedrohten und Gotteshäuser anzündeten. Intuitiv teilte ich sein Erschrecken – oder hatte er eher ein Schuldgefühl? Und konnte man ihm vertrauen? Das Familienalbum und eine braune Tüte unsortierter Fotos waren voll von unerklärten Bildern eines militärischen Zeremoniells aus dieser Zeit, und zwar unter erkennbar führender, kaum abgeneigt wirkender Beteiligung meines Wehrdienst leistenden Vaters – unter ebenjenem Hakenkreuz, das da so unfromm an der Synagoge aufgemalt war. Dass Hitler 1936 das von Frankreich kontrollierte Rheinland hatte »wiederbesetzen« lassen und damit eine wesentliche Bestimmung (und Kränkung) des Versailler Vertrags einseitig revidierte, war ganz im Sinne des rheinisch-borussischen Staatsdieners gewesen. Mit diesem Gewaltakt, den Europa hinnahm, fing Hitler das ihm weniger freundlich gesinnte Bürgertum ein. Bei »Ausbruch« des Krieges im September 1939 soll mein Vater sogar verärgert gewesen sein, als Reserveoffizier der Wehrmacht nicht gleich eingezogen worden zu sein, um im Feldzug gegen Polen seine vaterländische Pflicht zu erfüllen.

Mein Vater meinte sich nazifizieren zu müssen, um den erwünschten Beruf zu ergreifen, und musste sich nach dem Krieg entnazifizieren lassen, um ihn ausüben zu können. Dazwischen lagen, woran auch immer er sich dabei selbst schuldig gemacht haben mag, fünf lange Soldatenjahre mit schrecklichen Erfahrungen. Dachte mein Vater jetzt daran? Er zog mich wortlos an der Synagoge vorbei und tat so, als wäre nichts geschehen. Zu Hause redete er über einen »Dummejungenstreich« und darüber, wie ungehörig es sei, Häuserwände vollzuschmieren.

Mit Episoden wie diesen sind die Vergangenheitsbewältigungen in unserem Hause schon aufgezählt, bis auf eine ganz unpassende. In unserer Straße stand ein Kiosk, in Köln »Büdchen« genannt, wo wir für ein paar Pfennige Kamellen und Lakritze kaufen durften (und ausdrücklich keine Donald-Duck-Heftchen, die als amerikanischer Schund galten). Auf der schmalen Ablage der einfachen, aus abblätternden Holzbalken gezimmerten Bude (sie steht heute noch fast unverändert da) waren Einmachgläser mit diesen Köstlichkeiten aufgereiht, und wenn wir uns daraus bedient hatten, tauchte hinterm Schiebefenster eine mürrisch blickende Frau mit wirrgrauem Haar auf, um die Pfennigbeträge in Empfang zu nehmen. Tommy Engel, der prominenteste Sohn des Stadtviertels und als Gründer der Band Bläck Fööss heute noch der ungekrönte König von Sülz, erinnert sich daran, dass sie Kroeber hieß und ihm ebenfalls etwas unheimlich war.

Warum? Wenn meine Eltern über sie redeten, fiel bisweilen der mit gesenkter Stimme gewisperte Satz: »Die ist jüdisch«. Ein mir bis dahin unbekanntes Eigenschaftswort, weshalb ich der ersten Jüdin meines Lebens vorsichtshalber aus dem Weg ging. War sie überhaupt eine? Vielleicht entsprach sie in einem noch unverblümt antisemitischen Klima nur den geläufigen Vorstellungen von einer solchen Person: Kauffrau, Hakennase, Knoblauchfahne. Dann muss es der bedauernswürdigen Frau schlecht gegangen sein, wenn sie wie eine Hexe beäugt und betuschelt wurde. Aber noch schlechter, sollte sie tatsächlich Jüdin gewesen sein, was nach Lage der Dinge ja hieß, eine überlebende Displaced Person aus den Camps, die nun im Land der Täter ihr Leben fristete, indem sie blonden Rotznasen Bonbons verkaufte und sich verspotten lassen musste.

Am Weihnachtstag 1959 ist die Politik mit einer, so der Fachterminus, »transgenerationellen Affektübertragung« heftig in mein Leben getreten und hat meine bis dahin wohlbehütete Existenz aufgescheucht. Der Tag, an dem ich gewissermaßen die Unschuld verlor, ist auch als markante Zäsur in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen. Die rasch gefassten Hakenkreuzschmierer waren zwei 25 Jahre alte Mitglieder der rechtsradikalen Deutschen Reichspartei (DRP), wegen Sachbeschädigung wurden sie zu einigen Monaten Haft verurteilt. Dutzende Nachahmungstaten folgten, die nun auch Bundeskanzler Adenauer als »Dummejungenstreiche« verharmloste, während Franz Josef Strauß, damals Verteidigungsminister, das in rechten Kreisen bis heute am Leben gehaltene Gerücht in die Welt setzte, Anstifter seien das DDR-Ministerium für Staatssicherheit oder der sowjetische KGB gewesen. (Armin Mohler, der bekennende Faschist und Strauß-Getreue, wollte mir später weismachen, die Burschen seien vom tschechoslowakischen Geheimdienst gedungen worden.)

Des Öfteren schon hatten Rechtsradikale am 9. November antisemitische Fanale setzen wollen, um den Mythos von den »Novemberverbrechern« am Leben zu halten. Nicht zufällig fielen ja der Hitlerputsch 1923 und die »Reichskristallnacht« auf das Datum der deutschen Revolution von 1918. Nicht nur ich war nun gegen diesen Versuch, die Geschichte zurückzudrehen, geimpft. Mit der gleichen Aversion reagierte auch die westdeutsche Demokratie, die sich dem Aufschrei der liberalen Presse und der Drohung eines Ansehensverlusts im Ausland ausgesetzt sah, in Form eines Gesetzes gegen Volksverhetzung. Die 1958 gegründete Ludwigsburger Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen erfasste bis dahin unbehelligt gebliebene NS-Täter, solitäre Staatsanwälte wie Fritz Bauer stellten sie vor Gericht, und eine gut ausgestattete politische Bildung leistet seither eine systematische »Aufarbeitung der Vergangenheit«.

Die hatte Theodor W. Adorno in einem programmatischen Vortrag gefordert, durchaus im Zweifel, »wie weit es geraten sei, bei Versuchen zu öffentlicher Aufklärung aufs Vergangene einzugehen, und ob nicht gerade die Insistenz darauf trotzigen...

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