Sowohl das Auftreten unerwünschter oder gar schädlicher Wirkungen von Psychotherapie als auch eine Differenzierung ihrer verschiedenen Ausdrucksformen wurde von der Psychotherapieforschung über lange Zeit nur wenig beachtet. Stattdessen widmete sich die Forschung dem Nachweis der Effektivität und der positiven Wirkungen psychotherapeutischer Behandlungen (Kaczmarek & Strauß, 2013). Ein Beleg, der auch umfassend gelang, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde.
Haupt et al. (2013) führen einige mögliche Gründe auf, die erklären könnten, weshalb Negativwirkungen in der Psychotherapie bisher kaum untersucht und diskutiert wurden. So sehen die Autoren die Ursachen bei den Therapeuten, die negative Folgen des eigenen Handelns möglicherweise übersehen oder sogar in positive Folgen umattribuieren, da sie eine Mitverantwortung an negativen Therapieverläufen ablehnen und der grundsätzlichen Schwierigkeit, negative Wirkungen theoretisch und praktisch zu erfassen. So besteht nach Haupt et al. (2013) die Schwierigkeit, Nebenwirkungen zu erkennen oder sie gar von Hauptwirkungen oder auch Kunstfehlerfolgen zu unterscheiden. Zumal kaum Methoden zur Erfassung, Früherkennung oder Überwachung von Psychotherapienebenwirkungen vorhanden sind. Ein weiteres Hindernis für die Erforschung von Nebenwirkungen in der Psychotherapie ist laut den Autoren aber auch, dass es bisher an einer verbindlichen Begriffsdefinition und Klassifikation mangelt und es schwierig ist, verbindlich festzulegen, was eine adäquate Therapie und was eine Fehlbehandlung ist.
In den letzten Jahren ist allerdings zu beobachten, dass die Forschung sich verstärkt mit negativen Effekten auseinandersetzt. Das folgende Kapitel hat das Ziel den aktuellen Forschungsstand zu negativen Effekten der Psychotherapie aufzuzeigen.
Dass Psychotherapie negative Wirkungen auslösen und Schäden anrichten kann, ist mittlerweile in der Fachwelt allgemein akzeptiert (Haupt et al., 2013; Lambert & Ogles, 2013; Hoffmann, Rudolf & Strauß, 2008); Märtens & Petzold, 2002). Uneindeutig dagegen ist die Einschätzung, wie häufig Verschlechterungen durch Psychotherapie auftreten.
Übersichtsarbeiten beziffern die Raten für Verschlechterungen (deterioration) in der Psychotherapie mit 5–15% und für ausbleibende Verbesserungen (nonresponse) mit 10–50% (Jacobi, Hoyer & Uhmann, 2011). Diese doch recht unpräzisen Werte machen eine Einschätzung, in welchem Ausmaß Verschlechterungen im therapeutischen Alltag auftreten schwierig. Drei neuere Studien, die nun kurz vorgestellt werden, verdeutlichen dieses Dilemma:
1. Das Modellvorhaben: „Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie“ (MVPT) der Technikerkrankenkasse (TK) wurde im Jahr 2011 abgeschlossen. An dieser Studie nahmen insgesamt 1.708 Patienten und 400 Therapeuten teil. Bei den Abschlussmessungen (E) und Katamnesen (K) war bei ca. 65% der dokumentierten Fälle eine Abnahme der Problematik sichtbar, bei 28% keine signifikante Veränderung, bei 7% eine Verstärkung. (Wittmann et al., 2011).
2. Die Online Patientenbefragung (N=2056) des Forschungsprojektes der Donau-Universität Krems „Psychotherapie: Risiken, Nebenwirkungen und Schäden“ kurz RISK, kommt zu folgendem Ergebnis, dass 10-20% der Therapieverläufe von negativen Entwicklungen gekennzeichnet sind (Leitner et al., 2012).
3. In einer Dresdner verhaltenstherapeutischen Institutsambulanz für Psychotherapie (IAP) wurde im Zeitraum 2004-2010 eine Studie durchgeführt (N=1776), bei der die Häufigkeit für Nonresponse, für Verschlechterungen und unbefriedigende Therapieergebnisse ermittelt wurden. Verschlechterungen werden mit 0.8–4.3% angegeben. Misserfolg, der Verschlechterungen und hoch-symptomatische Abschlusswerte zusammenfasst, wird mit 11.2% angegeben. Nonresponse bewegt sich zwischen 27.1 und 48.6%. Die Therapieabbrecher liegen bei 19,2%, wobei 11,9% als problematisch angesehen werden (Jacobi, Hoyer, Uhmann, 2011).
Bei einem Vergleich der drei Studien fällt auf, dass die Raten für Verschlechterungen, ähnlich wie die eingangs erwähnten Raten (5–15%), erheblich schwanken, nämlich zwischen 0,8% - einen fast schon zu vernachlässigenden Wert - und zwischen 20%, einem besorgniserregend hohen Wert. Das gleiche gilt für Nonresponse.
Psychotherapie führt wie die Studienlage zeigt, nicht nur zu Verbesserungen, sondern auch regelhaft zu Verschlechterungen, wie nachgewiesen werden konnte. Uneindeutig ist dagegen, wie häufig Verschlechterungen durch Psychotherapie auftreten. Es zeigt sich allerdings, dass Negativwirkungen kein Randphänomen darstellen, da teils ein erheblicher Anteil von Klienten durch Psychotherapie Verschlechterung erfährt.
Eine einheitliche Definition und Klassifikation von negativen Therapiewirkungen gibt es zum heutigen Zeitpunkt noch nicht. Diese konzeptionellen Schwierigkeiten ziehen sich laut Kaczmarek und Strauß (2013) durch die gesamte Literatur mit Unklarheiten bezüglich der Abgrenzung von:
Hauptwirkungen, Nebenwirkungen, mangelnder Therapiewirksamkeit, Spontanverläufen oder gar Kunstfehlern
unmittelbaren und mittelbaren Therapieerfolgen oder
verschiedenen Graden der Therapiekorrektheit oder -güte (ebd., S.16).
Auch Conrad (2009) kritisiert, dass die beschriebenen Phänomene nicht klar voneinander abzugrenzen sind und dass das Einsortieren negativer Effekte in z. B. Nebenwirkungen dazu führen kann, dass die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Akteuren abgelenkt wird. Und Caspar und Kächele (2008) schlagen aufgrund der schwierigen Abgrenzung der Begriffe den allgemeinen Begriff der „Fehlentwicklungen“ vor.
Trotz der Schwierigkeiten haben mehrere Autoren in den letzten Jahren versucht, negative Effekte von Psychotherapie zu klassifizieren (Haupt et al. 2013; Caspar & Kächele, 2008; Hoffmann et al. 2008; Wampold, 2010 ; Jacobi, 2002).
Tabelle 5 stellt eine Übersicht dar, welche die Klassifikationen der eben genannten Autoren in Oberkategorien zusammenfasst. Das Tabellenformat wurde von mir gewählt, da sich so nachvollziehbar eine Zusammenfassung der verschiedenen Begriffe vornehmen lässt. Da die hier aufgeführten Autoren ihre Schwerpunkte unterschiedlich setzen, verbinde ich mit dieser Zusammenfassung das Ziel, möglichst umfassend die Phänomene darzustellen, welche wahrscheinlich mit negativen Therapiewirkungen in Verbindung stehen. Da diese Arbeit Negativwirkungen und deren Ursachen thematisiert, sind die in der Tabelle 5 aufgeführten Faktoren nach Ursachen und Wirkungen sortiert.
Tabelle 5 Klassifikationen von Negativ-Wirkungen und verwandten Phänomenen unterschiedlicher Autoren.
Diese Tabelle wurde auf Grundlage einer umfassenden Literaturrecherche erstellt. Sie beinhaltet Klassifikationen unterschiedlicher Autoren, welche in Oberkategorien subsumiert wurden.
Tabelle 6 zeigt die aus der Tabelle 5 extrahierten Begriffe, welche in Oberkategorien zusammengefasst wurden.
Tabelle 6 Zusammenfassung negativer Phänomene die mit Psychotherapie in Verbindung gebracht werden, auf Grundlage der Literaturübersicht (Tabelle 5) und weiterer Ergänzungen.
Therapeutenvariablen und Klientenvariablen sind neu hinzugefügt worden. Diese beiden Variablen stellen explizit keine Klassifikationen unerwünschter und schädlicher Wirkungen von Psychotherapie dar, werden aber von mehreren Autoren als Ursache für negative Therapiewirkungen aufgeführt (Hoffmann et al., 2008; Conrad, 2009; Leitner et al., 2012; Clarkin & Levy, 2013; Beutler et al., 2013).
Den Ursachen wurde zudem die Kategorie Systemfehler hinzugefügt. Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, da dieses Thema wegen seiner Komplexität nicht leicht zu bearbeiten ist. Zudem kann man sicher nicht zu Unrecht anzweifeln, ob Systemfehler wirklich zum Thema dieser wissenschaftlichen Arbeit passen. Da ich aber denke, dass die therapeutische Arbeit nicht getrennt von gesellschaftspolitischen Einflüssen stattfindet, habe ich mich entschlossen diesem Thema einen Teil meiner Arbeit zu widmen.
Die in Tabelle 6 aufgeführten einzelnen Kategorien bilden die Gliederung dieses Kapitels. Von dieser Auswahl ausgehend werden nun die eingangs erwähnten Fragestellungen untersucht.
Im Folgenden werden die verschiedenen negativen Psychotherapie-Effekte aufgeführt. Außerdem wird dargelegt, wie diese sich für Klienten auswirken können. In diesem Zusammenhang werden unerwünschte Ereignisse,...