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Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken

Vom Nutzen einer Theoriedifferenz

VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl357 Seiten
ISBN9783593436197
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Die Körperlichkeit des Handelns, die soziale Herstellung handelnder 'Subjekte ', die Unzulänglichkeit von Theorien rationalen Entscheidens: Diesen Problemen widmen sich pragmatistische Theorien wie auch Theorien sozialer Praktiken. Trotzdem standen sich diese Positionen lange indifferent bis feindselig gegenüber. Eine wirkliche Debatte über ihre oft sehr unterschiedlichen Problemlösungen kommt erst seit Kurzem in Gang. Der Band führt diese Debatte erstmals systematisch. Dabei zielt er nicht nur auf einen Theorievergleich, sondern auch darauf, Antworten aus beiden Diskussionssträngen sozialtheoretisch weiterzuentwickeln.

Hella Dietz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Göttingen. Frithjof Nungesser ist Universitätsassistent am Institut für Soziologie der Universität Graz. Andreas Pettenkofer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max- Weber-Kolleg der Universität Erfurt.

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Leseprobe
Der Nutzen einer Theoriedifferenz. Zum Verhältnis von Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken Hella Dietz, Frithjof Nungesser und Andreas Pettenkofer 1.Gemeinsame Probleme, unterschiedliche Schlüsse Plausible soziologische Erklärungen erfordern Prozessbeschreibungen, die nicht allein den Fall des ?rationalen? Akteurs in den Blick nehmen, der - in souveräner Distanz zur Situation - kalkulierend seine Zwecke verfolgt. Doch so umfassend inzwischen Kritik an Theorien der rationalen Wahl formuliert worden ist, so ungeklärt bleibt weiterhin, worin die tragfähige Alternative zu einer solchen verengten Perspektive besteht. Entscheidende Versuche, diese Frage zu beantworten, werden von pragmatistischen Theorien wie auch von Theorien sozialer Praktiken formuliert, hier vor allem in jener französischen Debatte, die im deutschsprachigen Raum oft unter dem Stichwort ?Praxistheorie? verhandelt wird. Diese Theoriefamilien standen einander bis vor kurzem indifferent bis feindselig gegenüber - obwohl sie von ganz ähnlichen Diagnosen ausgehen: Beide zielen darauf, den cartesia-nischen Dualismus zu überwinden, auf dem Theorien rationaler Wahl aufbauen; beide betonen, dass die an sozialen Prozessen beteiligten ?Subjekte? ihrerseits sozial konstituiert werden; beide unterstreichen die Bedeutung, die der Körperlichkeit des Handelns und der Materialität der Dingwelt in Prozessen sozialer Ordnungsbildung zukommt. Nicht nur die explizit ?posthumanistischen? Versionen einer Theorie sozialer Praktiken, auch die klassischen pragmatistischen Positionen lehnen einfache Formen von ?Handlungstheorie? ab - wie Joas (1992b: 214) betont, ist aus pragmatistischer Sicht bereits der Begriff ?Handlung? als solcher problematisch, schließlich 'löst schon allein der Begriff der Handlung die Einzelhandlung in einer durchaus nicht selbstverständlichen Weise aus ihrem Kontext heraus'. Auch der Begriff des Akteurs wird damit diskussionsbedürftig; tatsächlich wird er in beiden Theoriefamilien weitgehend vermieden. In der lange Zeit eher kursorischen Auseinandersetzung zwischen den Theoriefamilien blieben diese Gemeinsamkeiten jedoch meist im Hintergrund; teils wurden sie wohl auch aus theoriepolitischen Gründen be-schwiegen. So oder so werden in beiden Theoriefamilien unterschiedliche Schlüsse aus der geteilten Diagnose gezogen. Das betrifft bereits die Beschreibung von Handlungsabläufen: In wesentlichen Hinsichten an Durkheim und Mauss anknüpfend, rücken Theorien sozialer Praktiken meist - gegen Theorien rationalen Handelns - das Moment des nichtreflektierten Handelns in den Vordergrund. Dagegen gehen pragmatistische Theorien von einem Wechselspiel zwischen Routinen und reflektiertem Handeln aus und zielen darauf, auch Zwischenstufen zwischen beiden Modi zu erfassen. Diese Theoriedifferenz wurde bislang vor allem in der französischen Soziologie genutzt. Auslöser war eine 'pragmatische Wende' (Dosse 1995: 12 f.), deren wichtigsten Ausgangspunkt die Arbeit von Boltanski und Thé-venot (2007 [1991]) bildet. Um über die Schwierigkeiten einer an Bourdieu anknüpfenden Theorie sozialer Praktiken - die zugespitzten Annahmen über Stabilität und Homogenität sozialer Ordnungen, die verkürzte Handlungstheorie - hinauszugelangen, wurden hier zunächst Motive der linguistischen Pragmatik aufgenommen. Inzwischen werden in dieser Debatte immer stärker auch pragmatistische Konzepte herangezogen (vgl. Boltanski 2010, Latour 2014). Seit einigen Jahren wird in beiden Theoriefamilien auf instruktive Übereinstimmungen hinge-wiesen. Allerdings steht der Dialog zwischen Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken noch ganz am Anfang. Insbesondere zeigt sich in der pragmatistisch inspirierten Soziologie keine Wende, die der in die Gegen-richtung laufenden französischen Rezeptionsbewegung vergleichbar wäre. Aber gerade auch für die pragma-tistische Soziologie scheint diese Auseinandersetzung vielversprechend. Ein Dialog zwischen beiden Positionen kann - so jedenfalls eine diesem Band zugrunde liegende Hoffnung - bei der Ausarbeitung einer Sozialtheorie helfen, die Alternativen zu dem rationalistischen Individualismus bietet, der das Fach zur Zeit dominiert. In diesem Sinne wollen die Beiträge des vorliegenden Bandes diese Diskussion vorantreiben. Sie zielen darauf, Unterschiede und Gemeinsamkeiten weiter auszuloten und Antworten aus beiden Diskussionssträngen sozialtheoretisch weiterzuentwickeln: Welche Möglichkeiten und welche Grenzen der jewei-ligen Theorieperspektive zeigen sich, wenn sie mit der jeweils anderen konfrontiert wird? Wo zeigen sich Theorieoptionen, die einander ausschließen, deren Kenntnis aber jeweils zur Klärung der eigenen Begriffe bei-trägt? An welchen Punkten bieten diese Perspektiven Konzepte an, die einander ergänzen und sich verknüpfen lassen? Bevor wir die hier versammelten Beiträge vorstellen, diskutieren wir knapp, worin für beide Seiten der Nutzen dieses Theoriedialogs bestehen kann, und zeigen in einem kurzen theoriegeschichtlichen Abriss, wie wenig dieser Austausch bisher stattgefunden hat, und wie wenig dies auf reflektierte Theorieentscheidungen zurückgeht. 2.Der Nutzen des Theoriedialogs 2.1Vom Nutzen des Pragmatismus für Theorien sozialer Praktiken Es könnte den Theorien sozialer Praktiken nützen, den klassischen Pragmatismus genauer zur Kenntnis zu nehmen, weil er erstens eine andere Antwort auf die gängigen sozialtheoretischen Rationalismen bietet: Er ver-meidet den in der Forschung über ?soziale Praktiken? regelmäßig zu beobachtenden Versuch, Beschreibungen zu entwickeln, die das Auftreten von Reflexivität schlicht bestreiten (was sich selten plausibel durchhalten lässt). An deren Stelle tritt hier eine nichtindividualistische und - wenigstens im Grundsatz - nicht auf rationalistische Prämissen angewiesene Erklärung dafür, dass Reflexivität in bestimmten Situationen tatsächlich in Gang kommt. Davon ausgehend bietet der klassische Pragmatismus zweitens eine andere Alternative zum dominierenden Individualismus. Entscheidend ist hier das Konzept eines sozial vermittelten Selbst, das Mead (1964a [1913], 1964b [1925]) entwickelt - und das in der Debatte über ?soziale Praktiken? bisher besonders wenig rezipiert wurde. Im Vergleich zu den an Foucault anschließenden Konzepten der Subjektivierung bietet Mead ein genauer ausgearbeitetes Konzept der sozialen Formung von Individuen, das auch helfen kann, entsprechende Machteffekte präziser zu erfassen (vgl. Pettenkofer 2013). Dieses Konzept ist anthropologisch plausibler und kann gut an aktuelle Forschungen der Humanbiologie anschließen (vgl. Nungesser 2016a, 2016b). Zudem nötigt Meads Konzept nicht zu dem Versuch, wie Luhmann (1984) eine Grenze zwischen ?sozialen? und ?psychischen? Systemen zu ziehen - Mead begreift, wenn man so reden will, ?psychische Systeme? ihrerseits als ?soziale Systeme?. Und Meads Konzept nötigt auch nicht zu dem in der Debatte über ?soziale Praktiken? prominenten Versuch, alle sozialen Abläufe auf körperliche Abläufe zu reduzieren und sich methodologisch auf eine entsprechende Außenperspektive zu beschränken - Meads Theorie zielt gerade darauf ab, diese Innen-Außen-Grenze aufzulö-sen. Diese Theorieentscheidungen erleichtern es wiederum, die Wandelbarkeit der Strukturen, denen sich die Theorien sozialer Praktiken widmen - die 'Instabilität der Praxis' (Schäfer 2013) - genauer zu erfassen. Auch die Körperlichkeit des Handelns lässt sich nun nicht nur in ihren stabilisierenden, sondern auch in ihren destabilisierenden Wirkungen betrachten. Zugleich hilft die pragmatistische Perspektive, die Beschreibungsprobleme zu reflektieren, die auftreten, wenn man diesen Prozesscharakter des Sozialen ernst nehmen will (vgl. Dietz 2015). 2.2Vom Nutzen der Theorien sozialer Praktiken für pragmatistische Theorien Umgekehrt machen Theorien sozialer Praktiken auf diverse Aspekte aufmerksam, die pragmatistisch inspirierte Soziologien meist vernachlässigen. Sie schaffen erstens eine empirisch gut begründete Sensibilität dafür, wie auch scheinbar unvermittelte Face-to-face-Interaktionen durch weit ausgedehnte Machtstrukturen geformt werden. Darum helfen diese Theorien, jenen Reduktionismus der Interaktionssituation zu vermeiden, der soziologischen Übersetzungen der pragmatistischen Tradition regelmäßig droht, und auch der machttheoretischen Abstinenz zu entgehen, zu der pragmatistisch inspirierte Mikrosoziologien oft neigen. Eine solche Korrektur ist bereits nötig, um Meads Einsicht auszuarbeiten, dass die Kommunikationskontexte, aus denen soziale Selbste entstehen, auf komplexen Koordinationsstrukturen aufbauen können (vgl. Mead 1964b [1925]). Durch die Aufmerksamkeit für sozial erzeugte Reflexionsgrenzen hilft die Praktiken-Debatte zweitens, eine rationalistische Lesart des klassischen Pragmatismus zu überwinden, auf die - entgegen den intern angelegten Theorieoptionen und meist gegen ihren eigenen Anspruch - pragmatistisch inspirierte Soziologien oft zurückfallen, wenn sie - wie im Symbolischen Interaktionismus - Prozesse reflektierten 'Aushandelns', planvolle alignments und 'unternehmerische' Aktivitäten ins Zentrum rücken, oder - wie in der dominierenden Frankfurter Lesart - den Pragmatismus nur als Element einer Theorie rationaler Diskurse behandeln (siehe dazu auch Ab-schnitt 3.2). Hilfreich ist drittens, dass Theorien sozialer Praktiken jenen Optimismus der Verständigung nicht teilen, der pragmatistischen Theorien zunächst eingeschrieben bleibt und auch in Meads Analyse der Perspektivübernahme vorausgesetzt scheint. So verwirft Bourdieu (1982 [1979]: 585 f.) - in einer für die phänomenologische Tradition, an die er anknüpft, typischen Weise - die Unterstellung eines unproblematischen Fremdverstehens und fragt: Ist das, was Beteiligte und Beobachter für eine Perspektivübernahme halten, nicht bloß ein Fall von Selbsttäuschung? Sein heute in die historische Distanz gerücktes, als Extremfall aber weiterhin aufschlussreiches Beispiel ist der studentenbewegte Linke, der in die Fabrik geht, um die gleiche Erfahrung zu machen wie ?die Arbeiter?, und der meint, dass er - weil er sich im gleichen Raum aufhält - auch deren Perspektive übernimmt. Dagegen macht Bourdieu an diesem Beispiel auf die Effekte einer sozialen Distanz aufmerksam, die bloße Projektionen fördert und damit die Illusion einer Perspektivübernahme erzeugen kann. Insofern ergeben sich aus den Theorien sozialer Praktiken nicht nur unverzichtbare Klärungsaufforderungen an eine pragmatistische Soziologie; sie stellen auch konkrete soziologische Modelle bereit, um deren Re-konstruktion eine pragmatistische Soziologie sich bemühen müsste, wenn sie soziale Strukturen ernst nehmen will. 3.Zur Geschichte eines verspäteten Dialogs Bevor die einzelnen Beiträge dieses Bandes kurz präsentiert werden, skizzieren wir im Folgenden - knapp, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und unter Inkaufnahme der dabei unvermeidlichen Zuspitzungen - einige Phasen der wechselseitigen Nichtrezeption von Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken. Gezeigt werden soll, dass die wechselseitige Nichtwahrnehmung beider Theorieströmungen eher auf äußere Umstände und auf die Prägewirkung lokaler Vorverständnisse zurückgeht als auf reflektierte Theorieentscheidungen; dass diese Rezeptionsgrenzen noch dort fortwirken, wo seit einiger Zeit eine intensivere Rezeption der jeweils anderen Strömung in Gang kommt; und dass dabei diverse interessante theoretische Möglichkeiten ungenutzt bleiben. 3.1Zur Ausblendung des Pragmatismus in den Theorien sozialer Praktiken Das erste Motiv der Nichtrezeption zeigt sich schon in der Vorgeschichte der Theorien sozialer Praktiken, nämlich in der Durkheim-Schule. Der Pragmatismus wird hier - vor allem ausgehend von den Schriften von William James - als ein subjektivistischer Individualismus gedeutet, der die Realität sozialer Strukturen leugnet. Diese Rezeption vollzieht sich teils im Gestus polemischer Ablehnung, wie in Marcel Mauss' Rezension (2012 [1904]) der Varieties of Religious Experience (James 1982 [1902]); teils ist sie mit der Idee verbunden, die Einsichten des Pragmatismus ließen sich durch eine soziologische Übersetzung retten - wie sie Durkheim in seinem Religionsbuch (1981 [1912]) unternimmt, das in wichtigen Hinsichten an James anknüpft. Die Grundeinschätzung des Pragmatismus bleibt dabei letztlich die gleiche. Das zeigt sich auch in Durkheims späten Pragmatismus-Vorlesungen (1955); dort lässt sich auch besonders deutlich erkennen, wie sehr diese Rezeption von einem disziplinpolitischen Abgrenzungsprogramm überformt wurde. Zwar schlagen prominente Durkheimianer einige Jahre später eine andere Richtung ein - zunächst Mauss selbst, der 1930 in einem offiziellen Dokument schreibt, Durkheim und er stünden mit der 'klassische[n] Doktrin von Mead über die symbolische Aktivität des Geistes völlig im Einklang' (Mauss 2006 [1930]: 357 f.). Auch im Werk von Maurice Halbwachs zeigt sich eine substantielle Nähe (auch wenn nicht leicht zu sagen ist, ob sie auf einer eigenen Lektüre von Meads Schriften beruht): In der Einleitung seines Buchs über die 'sozialen Rahmen des Gedächtnisses' schreibt er, dass 'das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt' (Halbwachs 1985 [1925]: 13); im Original wird das ausdrücklich als Perspektivübernahme beschrieben: 'l'individu se souvient en se plaçant au point de vue du groupe' (Halbwachs 1994 [1925] : VIII). Diese Idee, dass ein ?mentales? Geschehen, das sich scheinbar rein intern vollzieht, tatsächlich sozial ermöglicht wird, und zwar durch eine Perspektivübernahme, die wiederum nicht die Perspektive eines anderen Individuums zum Gegenstand hat, sondern die eines sozialen Gebildes, ähnelt - bis in Halbwachs' Formulierung hinein - Meads Konzept des generalisierten Anderen (vgl. z.B. Mead 1964b [1925]: 285). Aber weder Mauss noch Halbwachs hat dieses Motiv weiter verfolgt. Der Vorwurf, diese amerikanische Theorietradition betreibe eine subjektivistische Ausblendung sozialer Stabilisierungsprozesse, bleibt ein dominantes Motiv der Rezeption. Gerade in Bourdieus Werk zeigt sich eine vehemente Ablehnung interaktionistischer Ansätze; darin sieht Aboulafia (1999: 163) auch einen wesentlichen Grund für Bourdieus Desinteresse an Meads Theorie. Zwar erwähnt Bourdieu Mead deutlich früher als die ande-ren Pragmatisten; bereits im Entwurf einer Theorie der Praxis bezieht er sich kurz und zustimmend auf seine Analyse des Schlagabtauschs zweier Boxer, die - laut Bourdieu - den habituellen, körperlichen und vorreflexiven Cha-rakter von Interaktionen belegt (Bourdieu 1979 [1972]: 146; 1987 [1980]: 148). Zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit Meads Theorie kommt es aber nicht. Loïc Wacquant berichtet: '[F]or Bourdieu, Mead was one more subjectivist sociologist, alert to the importance of language and symbols but one that Cassirer surpassed by a million miles'. Noch ein zweites Theoriemotiv trägt dazu bei, dass Bourdieu Meads Theorie nicht näher rezipiert: Bourdieu nutzt bereits ein Konzept, das dem der Perspektivübernahme ähnelt, aber von vornherein einen spezifisch kriti-schen Sinn hat. So schreibt er in den Feinen Unterschieden: 'Die elementarsten Grundlagen der Identität und Einheit der Klasse, die im Unbewussten verankert sind, würden [...] in Mitleidenschaft gezogen, wenn an diesem entscheidenden Punkt, nämlich der Beziehung zum Körper, die Unterdrückten sich selbst als Klasse nur noch mit den Augen der Herrschenden [par le regard des dominants] wahrnähmen.' (Bourdieu 1982 [1979]: 601) Um die soziale Vermitteltheit individueller Selbstverhältnisse zu erfassen, greift Bourdieu also - trotz seiner andernorts erklärten Skepsis - auf Sartres Theorie der Subjektivität zurück, genauer: auf das Konzept des 'Blicks des Anderen' (regard de l'autre), das dem der Perspektivenübernahme verwandt ist, aber fundamental sozialitätsskeptisch bleibt: Das Selbstverhältnis, das über die Perspektiven der anderen Beteiligten vermittelt ist, erscheint aus dieser Sicht als freiheitsbegrenzende Fixierung (vgl. Sartre 1952 [1943]: 192 ff.). Entsprechend deutet Bourdieu (1987 [1980]: 134) auch die Sozialisierung der Körper als einen Entfremdungsprozess, in dessen Verlauf 'alle Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata, in denen eine Gruppe ihre Grundstrukturen und ihre Äußerungsschemata festlegt, [...] sich von Anbeginn zwischen das Individuum und seinen Leib schalten'. Zusätzlich wurde diese soziologische Nichtrezeption des Pragmatismus durch ein Beobachtungsproblem befördert, das aus der allgemeinen Rezeptionsgeschichte des Pragmatismus entsteht. Vom Ende des 19. Jahrhun-derts bis zum Zweiten Weltkrieg war der Pragmatismus in den USA eine der dominanten intellektuellen Strömungen, in den folgenden Jahrzehnten wurde er jedoch marginalisiert. In den für Bourdieu prägenden 1950er Jahren war das Interesse am Pragmatismus selbst in den USA 'at an all-time low' (Bernstein 2010: x). Der Pragmatismus war darum nicht mehr ohne weiteres als allgemeine Theorieposition wahrnehmbar; damit wurde es schwieriger, soziologische Verweise auf diesen allgemeinen Theoriezusammenhang überhaupt als solche zu erkennen. Besonders deutlich zeigt sich das in der Rezeption des Werks von Erving Goffman. Vor allem Asylums (1961) - das 1968, mit einem Vorwort von Robert Castel, in einer von Bourdieu herausgegebenen Reihe in fran-zösischer Übersetzung erschien - fand in der französischen Debatte durchaus große Resonanz (dazu auch Castel 1990). Gerade in diesem Buch unternimmt Goffman eine machttheoretische Erweiterung von Meads Konzept sozial vermittelter Selbstverhältnisse; auf diese Weise will er zeigen, wie Machtstrukturen Subjektivitäten verändern (vgl. Pettenkofer 2014). Allerdings stellt er die pragmatistischen Theoriebezüge nicht überdeutlich heraus, sondern rechnet mit Lesern, denen sie ohnehin vertraut sind. In der französischen Rezeption spielen diese theoretischen Möglichkeiten dann kaum eine Rolle; Goffmans Buch wird hier als ein Produkt einer Forschungspraxis gelesen, die der in Frankreich zu dieser Zeit betriebenen im Grundsatz ähnelt (vgl. z.B. Hen-nion 1989: 430), nicht als ein Text, der neue Möglichkeiten eröffnet. Diese Motive der Nichtrezeption wirken auch bei Sozialtheoretikern weiter, die eine Alternative zu Bourdieus Version einer Theorie sozialer Praktiken entwickeln wollen. Das betrifft einerseits die Ablehnung interak-tionistischer Argumente: Latour bleibt, trotz aller sonstigen Kritik an Bourdieu, bei der Zurückweisung des Interaktionismus und bringt sie auf die polemische Formel: Der Interaktionismus ist eine hervorragende Theorie - wenn man über Paviane forschen will. Denn nur in solchen nichtmenschlichen Sozialordnungen herrsche jene permanente Instabilität, durch die eine strikt interaktive Ordnungsbildung möglich und notwendig werde (vgl. Callon/Latour 1981:281 ff.; Latour 2001 [1994]). Boltanski wiederum liest Mead als Vertreter eines Marktmodells gesellschaftlicher Ordnung (Boltanski/Thévenot 2007 [1991]: 91), dessen Werk eine Ideologie der ?sozialen Netzwerke?, mit ihrer Überschätzung der Fluidität sozialer Strukturen, bereits vorwegnehme (Boltanski/Chiapello 2003 [1999]: 199). Die Kontinuität zeigt sich auch im Hinblick auf das sozialitätsskeptische Moment: Boltanski macht ebenfalls die soziale Formung von Selbstverhältnissen höchstens dort zum Thema, wo sie den Charakter einer Beschädigung von Individuen hat (vgl. Boltanski 1990b [1982]: 279). Darum hält diese Nichtrezeption des Pragmatismus in der französischen Soziologie länger an, als es zunächst scheinen mag. Auch die wesentlich von Boltanski und Thévenot (2007[1991]) angestoßene Wende hin zu einer ?pragmatischen? Soziologie nimmt ihren Ausgang nicht beim amerikanischen Pragmatismus (so dass die manchmal zu hörende Rede vom 'französischen Neopragmatismus' zumindest missverständlich ist). Um das Moment des situativen Handelns aufzuwerten, nutzen Boltanski und Thévenot theoretische Ressourcen, die bereits in der Bourdieu-Schule eine wichtige Rolle spielten; sie entwickeln ihr Konzept zunächst im Anschluss an die linguistische Pragmatik (vgl. Kreplak/Lavergne 2008). Der Begriff ?pragmatisch? verweist also zunächst allein auf das Motiv der kompetenten situativen Anwendung. Auch das Ergebnis ist theoriekonstruktiv in manchen Aspekten noch nahe an Bourdieu: Der Verweis auf eine unterstellte feste Disposition aller Beteiligten - hier kein Habitus, aber eine stabile Reflexionskompetenz - ist auch für den Entwurf von Boltanski und Thévenot entscheidend (Bogusz 2013: 322). Soweit sich die Protagonisten dieses Theoriewandels um ein flexibleres Konzept der Körperlichkeit des Handelns bemühen, greifen sie auch dafür nicht auf pragmatistische Konzepte zurück, sondern arbeiten an einer Neuaneignung des Werks von Merleau-Ponty (vgl. v.a. 1965 [1945]), das ebenfalls bereits für Bourdieus Theoriebildung eine zentrale Rolle spielte (vgl. z.B. Thévenot 1994; Bessy/ Cha-teauraynaud 1995, v.a. 259 ff.; Hammoudi 2009). Eine intensive Pragmatismus-Rezeption - und zwar gerade als Rezeption des Werks von Mead - geschieht in diesem Zusammenhang vor allem bei Autoren, die sich eine Lösung der lokalen Theorieprobleme zunächst über den Umweg einer Rezeption der Ethnomethodologie versprechen, insbesondere bei Louis Quéré. Das führt zu einer sehr spezifischen Aneignung, in der Mead von Garfinkel her gelesen wird (vgl. z.B. Quéré 2011). Zwar kommt es im Umfeld der Theorien sozialer Praktiken kurze Zeit später - seit den 1990er Jahren - auch zu einer direkten Pragmatismusrezeption. Aber diese Rezeption bemüht sich weithin eher darum, im Ande-ren das Eigene wiederzufinden. Bisher zielen die Pragmatismus-Verweise vor allem auf die Rechtfertigung und (manchmal) weitere Ausarbeitung bereits zuvor getroffener Theorieentscheidungen. Entsprechend nehmen diese Arbeiten vor allem diejenigen pragmatistischen Theorieelemente in den Blick, die zu diesen Vorentscheidungen passen und ohne größere Irritationen in die eigene laufende Forschungspraxis eingefügt werden können. Das führt auch dazu, dass der Pragmatismus jeweils nur von bestimmten klassischen Theoretikern (und bestimmten Segmenten des jeweiligen Werks) her gelesen wird. In dieser Rezeptionslinie bleibt gerade Mead meist außen vor. Auch dieser Rezeptionsmodus zeigt sich besonders deutlich bei Bourdieu und in der Bourdieu-Schule. In dem 1992 erschienenen Band Reflexive Anthropologie sagt Bourdieu zum Pragmatismus, er habe 'von diesen Arbeiten gehört', und dies habe ihn 'vor nicht allzu langer Zeit bewogen', sich mit Deweys Werk auseinanderzusetzen (Bourdieu und Wacquant 2009 [1992]: 155). Er betont, dass 'die Theorie des Habitus und des Praxis-Sinns viele Ähnlichkeiten mit Theorien aufweist, bei denen wie bei Dewey der Begriff habit, verstanden als aktives, schöpferisches Verhältnis zur Welt und nicht als eine mechanisch-repetitive Gewohnheit, an zentraler Stelle steht, und die all jene Begriffsdualismen ablehnen, auf denen so gut wie alle post-cartesianischen Philosophien aufbauen: Subjekt und Objekt, Innen und Außen, materiell und geistig, individuell und gesellschaftlich usw.' (Bourdieu/Wacquant 2009 [1992]: 155). Vor allem in den Meditationen bezieht sich Bourdieu dann wiederholt zustimmend auf Dewey (vgl. Bourdieu 2004 [1997]: 44 f., 66 f., 103, 283). Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus folgt allerdings nicht; in den vorliegenden Äußerungen betont Bourdieu nur die Ähnlichkeit zwischen dem, was Dewey unter dem Stichwort habits entwickelt, und dem eigenen Habituskonzept. Diese Suche nach dem Nahestehenden scheint bereits die Auswahl des Referenz-Pragmatisten anzuleiten: Dass Bourdieu - obwohl er Peirce und, wie oben gesehen, Mead viel früher gelesen hat - den Pragmatismus vor allem mit Dewey identifiziert, kann nur daran liegen, dass ihm Dewey - mit seinem starken Fokus auf habits - als der dem eigenen Ansatz nächstverwandter Pragmatist erscheint.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Der Nutzen einer Theoriedifferenz. Zum Verhältnis von Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken8
I. Pragmatistische Rekonstruktionen40
Where is the Meat/d? Pragmatismus und Praxistheorien als reziprokes Ergänzungsverhältnis42
Meaditations bourdieusiennes. Pragmatistische Überlegungen zur symbolischen Herrschaft78
Beweissituationen. Zur Rekonstruktion des Konzepts sozialer Praktiken120
II. Die feinen Unterschiede zweier Theoriefamilien162
Habitus oder habits? Die feinen Unterschiede zwischen Bourdieus Praxistheorie und Deweys Pragmatismus164
Die unterschiedlichen Wirklichkeiten von Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken. Eine narratologische Analyse194
Das naturwissenschaftliche Experiment als »Ereignis«: Zur Objekt- und Naturkonzeption bei Dewey und Latour224
III. Methodologische Konsequenzen260
Forschung als Praxis262
Kritik oder Experimentalismus? STS als pragmatistische Soziologie kritischer Öffentlichkeiten284
Störungen und Improvisation. Über techno-korporale Instabilitäten in der technisierten Medizin302
Jenseits des Dualismus zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹. Eine pragmatistische Perspektive auf soziale Praktiken328
Autorinnen und Autoren358

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