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E-Book

Praxis Entwicklungsneurologie

Untersuchung auf Milde Neurologische Dysfunktion (MND)

AutorMijna Hadders-Algra
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783170238701
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis44,99 EUR
Das Standardwerk ('Der Touwen') für die Untersuchung von Kindern mit minimen neurologischen Dysfunktionen (MND) wird jetzt in einer aktualisierten deutschen Übersetzung vorgelegt. Das Buch bietet sowohl die genaue Beschreibung des klinischen Zugangs (Fotos und Videos über ContentPLUS) als auch den konzeptuellen Rahmen. Mit dem Konzept der Minor Neurological Dysfunction (MND) wird der klinische Alltag strukturiert. Es gibt kein entwicklungsneurologisch traditionsreicheres und gleichzeitig moderneres Buch.

Prof. Dr. Mijna Hadders-Algra aus Groningen, Niederlande, ist die führende europäische Entwicklungsneurologin. Das interdisziplinäre Übersetzerteam um Prof. Dr. med. Florian Heinen, München, präsentiert die leserfreundliche und praxisorientierte deutsche Ausgabe.

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Leseprobe

2 Untersuchung auf Milde Neurologische Dysfunktion (MND)


2.1 Geschichtlicher Hintergrund: milde Hirnfunktionsstörung und Milde Neurologische Dysfunktion


In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam Interesse an den neurologischen Grundlagen kindlicher Lern- und Verhaltensauffälligkeiten auf. Die Vorstellung, dass bestimmte Verhaltensweisen als Folge kindlicher Hirnläsionen angesehen werden könnten, ging auf eine Beobachtung in den 1920er Jahren zurück, wonach Kinder, die eine Encephalitis durchgemacht hatten, später mit Hyperaktivität, dissozialem Verhalten und emotionaler Instabilität (Kessler 1980) auffielen. Später haben Strauss und Lehtinen (1947) die Ansicht vertreten, bestimmte Verhaltensweisen, besonders hyperkinetische Störungen, seien mit Hirnläsionen assoziiert. Sie postulierten, dass Hyperaktivität, Impulsivität und Ablenkbarkeit bei Kindern mit Lernproblemen Zeichen einer Hirnschädigung seien. Ein weiterer Aspekt wurde von Pasamanick und Kollegen in die Diskussion gebracht. Sie sahen einen Zusammenhang zwischen Lern- und Verhaltensstörungen einerseits und Hirnfunktionsstörungen andererseits, die ähnlich wie die Cerebralparesen auf pränatale und perinatale Auffälligkeiten zurückgingen (Konzept der »continuum of reproductive casuality«; Pasamanick et al. 1956; Kawi und Pasamanick 1958).

Damals bot die neurologische Untersuchung die beste Möglichkeit, das kindliche Gehirn auf Unversehrheit zu untersuchen. Natürlich zeigten die meisten Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen keine eindeutigen neurologischen Auffälligkeiten, sodass sich das Interesse auf die Milde Neurologische Dysfunktion (MND) und deren Bedeutung ausdehnte. Hierfür wurden verschiedene Untersuchungstechniken entwickelt, wie z. B. PANESS (Physical and Neurological Examination for Soft Signs; Close 1973; Denckla 1985) und die Untersuchung der geringen neurologischen Funktionsstörungen (Groningen Assessment; Touwen und Prechtl 1970; Touwen 1979).

In den 1960er und 1970er Jahren ging die Diskussion um die Konzepte der »minimalen Hirnläsionen« oder »minimalen Hirnfunktionsstörungen« weiter (Kalverboer et al. 1978; Rie und Rie 1980; Nichols und Chen 1981). Aber schon 1962 empfahl eine internationale Studiengruppe, das Konzept der minimalen Hirnfunktionsstörung aufzugeben, da es sich auf eine sehr heterogene Gruppe von Kindern bezog (Bax und Mac Keith 1963). Allmählich wurden Kinder, bei denen man früher eine »minimale Hirnfunktionsstörung« diagnostizierte, genauer beurteilt. Sie erhielten nun die Diagnosen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), tiefgreifende Entwicklungsstörung (pervasive developmental disorder, not other specified: PDD-NOS), umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) oder Leseschwäche. Die spezifische diagnostische Zuordnung wurde durch das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (American Psychiatric Association 2000) erleichtert.

Zeitgleich mit dem Konzept der Milden Neurologischen Dysfunktion (MND) wurde auch deren klinische Bedeutung diskutiert. Dies lässt sich an den zahlreichen Bezeichnungen für MND ablesen. Man nannte sie z. B. »equivocal signs« (Kenrad 1960), »soft signs« (Hertzig 1981), »nichtfokale neurologische Zeichen« (Hertzig 1987) und »subtle signs« (Denckla 1985).

Dabei wurden zwei Arten von Befunden unterschieden:

  1. sogenannte »harte« neurologische Befunde, nur in milderer Ausprägung, wie z. B. die milde Hypertonie, Reflexasymmetrien oder eine choreatiforme Dyskinesie
  2. entwicklungsneurologische Befunde wie nicht altersadäquate Leistungen bei der Diadochokinese oder dem Finger-Oppositionstest oder ausgeprägte assoziierte Bewegungen (Tupper 1987)

Diese Zweiteilung blieb umstritten und wurde als wenig hilfreich angesehen, da sie auf Befunden basiere, die häufig nur passager und mit zunehmendem Alter gar nicht mehr nachweisbar seien. Darüber hinaus wurde deren Ätiologie als höchst spekulativ angesehen (Schmitt 1975). Dennoch zeigten viele Studien, dass sich bei Kindern mit psychiatrischen Störungen, vor allem mit Hyperaktivitäts-Aufmerksamkeitsstörungen und bestimmten Lernstörungen, häufiger Hinweise auf eine MND ergaben als bei unauffällig entwickelten Kontrollkindern (z. B. Lucas et al. 1965; Stine et al. 1975; Denckla und Rudel 1978; Nichols und Chen 1981; Hadders-Algra et al. 1988 a). Andere Studien konnten einen Zusammenhang zwischen prä- und perinatalen Auffälligkeiten, vor allem Frühgeburtlichkeit oder intrauterine Wachstumsretardierung, und der Entwicklung einer MND belegen (Nichols und Chen 1981; Hadders-Algra et al. 1988 b, 1988 c; Largo et al. 1989). Diese Studien ergaben jedoch, dass auch sehr viele sonst unauffällig entwickelte Kinder Symptome einer MND zeigen (Nichols et al. Chen 1981; Hadders-Algra et al. 1988 b). So kam man zu dem Schluss, dass es zwar einen statistischen Zusammenhang zwischen MND und 1) prä- und perinatalen Risikofaktoren und/oder 2) Lern- und Verhaltensauffälligkeiten gebe, dieser jedoch klinisch irrelevant sei (z. B. Capute et al. 1981; Berninger und Colwell 1985).

Zwischenzeitlich konnten Rutter und Kollegen in mehreren Studien belegen, dass Kinder mit einer bekannten Encephalopathie wie Cerebralparese, Epilepsie oder einem Zustand nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma häufiger Lern- und Verhaltensprobleme zeigten als normal entwickelte Gleichaltrige (Rutter et al. 1970, 1980; Brown et al. 1981; Chadwick et al. 1981). Rutter (1982) schloss daraus, dass eine milde oder subklinische Schädigung des sich entwickelnden Gehirns zu kognitiven Beeinträchtigungen und Verhaltensstörungen führen könne. Er vertrat die Auffassung, dass nach einer Hirnläsion das Risiko für Verhaltensstörungen geringer sei als das Risiko für kognitive Störungen, da bei Verhaltensstörungen den Umweltfaktoren eine größere Rolle zukomme als bei kognitiven Störungen. Abschließend konstatierte er einen unspezifischen Zusammenhang zwischen milder Hirnschädigung sowie Intelligenz- und Verhaltensstörungen, wonach eine frühe Hirnläsion nicht eine spezifische Verhaltensstörung oder eine spezifische kognitive Störung verursache. Sei die Kognition betroffen, komme es zu einer globalen kognitiven Beeinträchtigung.

2.2 Aktuelle Anwendungsmöglichkeiten der Untersuchung auf MND


Mittlerweile ist es möglich, durch neue bildgebende Verfahren, wie die funktionelle MRT, die volumetrische MRT und die diffusionsgewichtete MRT, das kindliche Gehirn genauer zu untersuchen. Diese neuen Verfahren haben zu einem besseren Verständnis der neurobiologischen Grundlagen bestimmter Entwicklungsstörungen geführt. Die Ergebnisse der Bildgebung bestärken die klinische Beobachtung, dass Entwicklungsstörungen wie ADHS und Dyslexie keine einheitlichen Entitäten sind, sondern aus ganz unterschiedlichen Störungsbildern bestehen (Pernet et al. 2009; Steinhausen 2009). Beispielsweise können Kinder mit ADHS ein primär hyperaktiv-impulsives oder ein primär unaufmerksames Verhalten oder eine Kombination aus beidem zeigen. In Bildgebungsstudien konnten ebenfalls verschiedene Subtypen der ADHS differenziert werden, z. B. eine ADHS mit Störungen im präfrontalen Cortex und den Basalganglien oder eine ADHS, die mit cerebellären Funktionsstörungen assoziiert ist (Krain und Castallanos 2006). Es bleibt jedoch ungeklärt, ob und wie die klinischen Subtypen der ADHS und die Befunde der Bildgebung zusammenhängen.

Mit der Zeit wurde immer deutlicher, dass auf Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten wie ADHS oft auch weitere Diagnosen zutreffen (Angold et al. 1999; De Jing et al. 2009). ADHS kann beispielsweise mit oppositionellem Trotzverhalten, Depression, Angststörungen oder DCD (Gillberg und Kadesjö 2003; Elia et al. 2008) einhergehen. Interessanterweise zeigten Batstra et al. (2006), dass das Vorliegen mehrerer psychiatrischer Auffälligkeiten eher mit pränatalen und perinatalen Auffälligkeiten assoziiert ist als das Vorliegen nur einer psychiatrischen Auffälligkeit. Dies entspricht den Ergebnissen von Sprich-Buckminster et al. (1993), wonach eine isolierte ADHS eher genetisch bedingt ist und eine ADHS mit mehreren psychiatrischen Komorbiditäten häufiger auf fetale und neonatale Risikofaktoren zurückgeführt werden kann.

Es ist nicht länger umstritten, dass das Gehirn eines Kindes mit Entwicklungsstörungen atypisch funktioniert. Allerdings sind im Einzelfall Ätiologie und Pathogenese der atypischen Funktion alles andere als klar. Für den Kliniker kann die Untersuchung der MND ein Werkzeug sein, mit dem er die neurologische Integrität des kindlichen Gehirns beurteilen kann. Die Ergebnisse können zum Verständnis der Ätiologie beitragen und so Fördermaßnahmen definieren, die für das Kind und seine Situation adäquat sind. Derzeit gehören der »Züricher Neuromotoriktest«, die »Neurological Examination of Subtle Signs« und die Untersuchung der MND (die Groninger Untersuchung) zu den am weitesten verbreiteten Methoden, eine MND zu erfassen. Die Methoden unterscheiden sich vor allem darin, inwieweit sie entwicklungsabhängige Befunde berücksichtigen.

2.2.1 Der »Züricher Neuromotoriktest«


Mit dem Züricher Neuromotoriktest (Zurich Neuromotor Assessment, ZNA; Largo et al. 2001 a, 2001 b; Schmidhauser et al. 2006; Rousson et al. 2008) werden ausschließlich altersabhängige Befunde erhoben. Der Test erfasst jeweils die Zeit, die für spezifische motorische Aufgaben, wie repetitives Bewegen der Finger, alternierende Bewegungen einschließlich Diadochokinese, Seitwärtshüpfen und Fersengang, benötigt wird. Neben der Zeit wird auch das Ausmaß der Mitbewegungen registriert. Ein großer Vorteil dieses Tests ist, dass der...

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