Über den Nutzen oder den Unsinn von Zitaten in der Predigt
Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Klaus Eulenberger und Johann Hinrich Claussen
Lieber Klaus,
gestern bin ich im Gottesdienst gewesen, aber ich habe weder geweint noch gelacht. Nur eine Frage habe ich mit nach Hause genommen, auch weil ich mich ertappt gefühlt habe. Der junge Kollege hat in seiner Predigt etwas gemacht, was mich – nicht geärgert, aber doch enttäuscht hat. Er hat sehr gut angefangen, hatte einen feinen Aufhänger, wusste auch etwas daran aufzuhängen. Aber am Ende, als es darum ging, eine Aussage zu wagen, die einem im Sinn bleibt und ins Herz trifft, ging ihm erkennbar die Luft aus, und er hat – ein Gedicht zitiert. Es war keines von den ganz schlechten, doch es war etwas Fremdes, eine bloß herbeizitierte Bedeutsamkeit. Doch, da habe ich mich schon geärgert, mich aber auch ertappt gefühlt. Auf dem Weg nach Hause fiel mir ein, wie oft ich es ähnlich gemacht habe. Sollten wir nicht lieber auf diese Zitate, besonders von Gedichten, ganz verzichten?
Dein Johann
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Lieber Johann,
ich habe eine Vermutung. Nämlich diese: Es macht einen Unterschied, ob jemand sich bemüht, ein ›passendes Zitat‹ zu finden – etwa, um den eigenen Gedanken eine höhere Autorität zu verleihen –, oder ob ihm auf dem Weg von der Einleitung zum Ende der Predigt etwas einfällt (ja: ein-fällt), was im gegebenen Kontext einfach unabweisbar ist. Nein, kein Sahnehäubchen, keine nette Verpackung für etwas, das eigentlich schon gesagt ist. Sondern: vielleicht eine kleine Passage aus einer Kurzgeschichte oder ein Gedicht, das ›es‹ einfach besser, genauer, inspirierter sagt, als ich es mit meinen eigenen Worten sagen könnte. Ich wäre nie darauf gekommen, eine Entsprechung zwischen den romanischen Bögen einer Kirche und dem Inneren ihrer touristischen Betrachter zu sehen. Der schwedische Poet Tomas Tranströmer hat sie entdeckt, und für mich (und Dich?) gleich mit:
In der gewaltigen romanischen Kirche drängten sich die Touristen im Halbdunkel.
Gewölbe klaffend um Gewölbe und kein Überblick.
Kerzenflammen flackerten.
Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich
und flüsterte durch den ganzen Körper:
»Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz!
In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.
Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll.«
Ich war blind vor Tränen
und wurde auf die sonnensiedende Piazza hinausgeschoben
zusammen mit Mr. und Mrs. Jones, Herrn Tanaka und Signora Sabatini,
und in ihnen allen öffnete sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.
(Tranströmer, 216)
Dieses Gedicht in einer Predigt zu hören, würde mich froh machen.
Dein Klaus
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Lieber Klaus,
das kann ich nachvollziehen. Man kann in einer Predigt nicht bloß sagen, was man selbst halt so sagen kann. Deshalb greifen wir ja auch zu den biblischen Worten, weil sie etwas aussagen, das uns unerschwinglich ist. Aber es muss doch durch uns hindurchgegangen sein. Wir sollten es nicht nur aufgelesen, sondern uns auch einverleibt haben. Wenn wir etwas Literarisches finden oder legitimerweise stehlen – der Heilige Geist kennt ja kein Copyright –, dann muss es bis zum Gang auf die Kanzel irgendwie unser Eigenes geworden sein. Oder ist das ein zu hoher Anspruch?
Doch wenn wir es nicht so halten, dann setzen wir die Verbindung zu unserer Gemeinde aufs Spiel. Um mich gleich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch zu setzen, sage ich das, was ich hier meine, mit einem Zitat, und zwar aus den unerschöpflichen »Notizheften« von Henning Ritter: »Warum so viele Zitate? Der Leser soll auch dann noch einen Gewinn haben, wenn der Autor ihm nichts von sich selbst gibt. Er ruht sich auf den schönen Zitaten aus. In gebildeten Zeiten bringt das Bildungszitat ein Wiedererkennen, stiftet Einverständnis, nähert Autor und Leser einander an. Das Gegenteil ist heute der Fall. Das Zitat vergrößert den Abstand zum Leser, gibt dem Autor weder Prestige noch Autorität – vielmehr zeigt es, dass er sich in anderen Kreisen bewegt und der Zuwendung des Lesers nicht bedarf.« (Ritter, 216)
Dein Johann
P.S.: Über Tranströmers Kirchen-Gedicht habe ich mich sehr gefreut. Von diesem schwedischen Meister stammt eins meiner ewigen Lieblingsgedichte, mit dem ich aber in einer Predigt Schiffbruch erlitten habe. Es beschreibt ein Orgelkonzert, besser gesagt, einen Moment der Stille mitten in diesem Konzert, der eine Epiphanie auslöst. Ich habe es wieder und wieder gelesen. Als ich es jedoch der Gemeinde vorgetragen habe, war es wohl zu kompliziert, ungewohnt, unvorbereitet – es flog über die Köpfe hinweg.
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Lieber Johann,
ist es möglich, dass Du die Gemeinde einfach durch die Textmenge strapaziert und entmutigt hast? Das Gedicht besteht aus zwölf Strophen zu je vier Zeilen. Ich hätte es – selbst vorausgesetzt, es zählte zu meinen Lieblingstexten – in einem Gottesdienst nicht zitiert.
Etwas Literarisches, schreibst Du, muss »einverleibt« sein, ehe es von der Kanzel aus weitergegeben wird. Ich bin völlig einverstanden. Wenn ich in einer Predigt etwas höre, das der Prediger ›irgendwo‹ gefunden hat, vielleicht in den ehemals beliebten »Zitate(n) zum Kirchenjahr« (Vandenhoeck & Ruprecht) oder in einer Textsammlung, einem Lesebuch, spüre ich die Mühe des Suchens und die halbherzige Erleichterung: Ach, das könnte doch ungefähr passen. So herum geht es nicht. Ein literarischer Einfall kommt, oder er kommt nicht. Kommt er nicht, muss man es hinnehmen. Sonst – um es wiederum an einem Beispiel aus der Literatur zu verdeutlichen – wird man zu jenem Prediger, den Michael Krüger in seinem Gedicht »Brief« (Krüger, 43) beschreibt:
… Vorne pickte der alte Pfarrer,
ohne eine Lösung zu fordern,
wie ein schwarzer Vogel lustlos
im Evangelium, schien aber nichts
zu finden, uns zu verführen.
Kein Leitfaden, kein Trost …
Kommt der Einfall aber – und besteht er vor dem kritischen Blick –, gehört das zu den glücklichsten Begebenheiten. Was er mit sich führt, tut dem biblischen Text keine Gewalt an, es verbiegt ihn nicht, unterwirft ihn sich nicht. Aber es taucht ihn in ein überraschendes Licht, in dem die Konturen klarer werden und die Tiefenschärfe zunimmt. Und er kann dazu beitragen, dass eine Predigt entsteht, die nicht nur das in der Regel kleine Kirchenvolk erreicht, sondern auch diejenigen, »die draußen sind« (Kol 4,5). Und das gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Predigtkunst heute. Finde ich.
Dein Klaus
Lieber Klaus,
vielleicht muss man sich nur klarer entscheiden. Also, entweder ist einem nichts zugefallen, dann arbeitet man mit dem, was man hat: Bibel, Kirchenjahr, eigenen Empfindungen und Gedanken, dem, was man selbst sagen kann oder nicht. Dazu kann – aber bitte nicht jeden Sonntag – gehören, Lücken, Offenes, Ratlosigkeiten zu benennen.
Oder einem ist etwas eingefallen, ohne dass man mühsam gesucht hätte. Dann nimmt man es und macht es sich so zu eigen, dass es am Ende kein Zitat mehr ist – wie ein Jazzmusiker, der eine Standard-Melodie aufnimmt und in ein eigenes Spiel verwandelt. Ich habe das einmal mit einem Rilke-Text so versucht: seinen Ton, seine Motive, auch einzelne Wendungen aufgenommen, aber daraus eine eigene Meditation-Improvisation gemacht. Nachher habe ich denen, die gefragt haben, natürlich gesagt, dass ich mich von Rilke habe inspirieren lassen, aber in der Predigt fiel der Name nicht. Es war ja meins geworden.
Oder man hat einen literarischen Text, der für sich stehen bleibt. Also nimmt man ihn wie einen fremden Gast mit auf die Kanzel für eine Dialogpredigt. Er ist ein Gegenüber, kein Vehikel meiner Botschaft, spricht und streitet mit mir. Doch manchmal findet man am Ende zu einem überraschenden Zusammenklang. Zum Beispiel das von dir nicht zitierte, sondern aufgerufene »Brief«-Gedicht von Krüger: Da geht einer in den Gottesdienst, alles ist totes Ritual, dem alten Pfarrer fällt nichts ein, »nach einer Stunde war alles vorbei« (Krüger, 43). Aber dann, beim Gang aus der Kirche, hinaus und zurück in die Welt, geschieht plötzlich dies:
Draußen lag ein unerwartet helles Licht
über dem See, und ein Wind kam auf,
der mich die Unterseite der Blätter
sehen ließ.
Vielleicht also geht es gar nicht um ›Zitat oder Nicht-Zitat‹, sondern viel grundsätzlicher darum, wie wir so leben und lesen, dass uns so etwas zufällt.
Dein Johann
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Lieber Johann,
gleich muss ich etwas zitieren, was mir durch Deinen letzten Beitrag in Erinnerung gekommen ist. Wolfdietrich Schnurre hat diese Notiz in seinem fast vergessenen, gleichwohl großartigen Buch »Der Schattenfotograf« gebracht (Schnurre, 75): »Faulkner, auf dem Campus befragt, was man als angehender Schriftsteller tun müsse, um das Leben kennenzulernen: ›Lesen, lesen, lesen.‹ Deprimierende Antwort. (Jedoch nur für Kolumbus, nicht für den Mönch.)« Was bleibt, wenn man Schnurres absolute Fixierung auf Geschriebenes für sich selbst relativiert? Vielleicht dies: Natürlich kann man das Leben kennenlernen auch auf andere Weisen: als Autofahrerin, Teilnehmer an Demonstrationen, als Mutter oder Seelsorger. Ohne Lesen wird es aber auch dann nicht gehen. Weil die Bücher einen prinzipiellen Überschuss meiner eigenen Erfahrung...