Homiletischer Essay
Albrecht Grözinger
Predigt und Gefühl. Eine homiletische Erkundungsreise1
Wie verschieden die homiletischen Konzeptionen und das Verständnis der Predigt im Verlauf der Christentumsgeschichte sich auch darstellen mögen, in einem sind sie sich einig: Die Predigt richtet sich an den ganzen Menschen mit seinem Denkvermögen wie mit seiner Gefühlswelt. Hier enden allerdings schon die Gemeinsamkeiten. Wie das Verhältnis von Rationalität und Emotionalität bestimmt wird und welche Konsequenzen dies für die konkrete Gestalt der Predigt hat, darauf geben die homiletischen Theorien sehr verschiedene Antworten. Ich möchte im Folgenden diese Vielheit der Perspektiven an einigen exemplarischen Stationen homiletischer Theoriebildung zeigen.
I.
Aurelius Augustinus steht mit seinem Verständnis der Predigt und der homiletischen Aufgabe, die sich mit der Predigt stellt, an einem entscheidenden Punkt homiletischer Theoriebildung. Augustin gelingt es, das System der antiken Rhetorik einer genuin christlichen Interpretation der homiletischen Redesituation gleichsam anzuverwandeln.
Augustins homiletische Rhetorik ist dabei mit seiner Anthropologie eng verzahnt. Die Alternative von Rede über Gott oder Rede über den Menschen, wie sie die frühe Dialektische Theologie bis ins Extreme strapaziert hat, wird von Augustin grundsätzlich theologisch unterlaufen. Dazu finden sich in den Anfangskapiteln seiner Confessiones eindrückliche Sätze: »Ich will Dich suchen, Herr, mit meinem Rufen, und ich will Dich rufen, indem ich an Dich glaube.« (Augustinus, 15) Wo aber muss sich der Mensch hinwenden mit seinem Rufen? Für Augustin ist der Mensch gerade in seiner Orientierung an Gott an sich selbst verwiesen: »Wie aber soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und meinen Herrn, da ich doch, wann ich ihn rufe, in mich herein ihn rufe? Und welches ist der Ort in mir, wohin er kommen soll, mein Gott? Wohin soll Gott in mir denn kommen?« (Augustinus, 15)
Gott ist bei Augustin allerdings keine bloße Verdoppelung oder Spiegelung des Menschen, sondern die Gotteserfahrung setzt im Menschen eine Differenz, die es ohne diese Erfahrung so nicht geben würde. Erst in dieser Differenz erkennt der Mensch sich selbst. Der Mensch kommt sich nahe, weil Gott ihm vorlaufend schon nahegekommen ist: »Du [sc. Gott] warst noch innerer als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.« (Augustinus, 60)
Predigt hat für Augustin die grundsätzliche Aufgabe, diese Differenz im Menschen darzustellen. Diese Differenz jedoch umfasst nicht nur einen Teilbereich des Menschen, sondern den ganzen Menschen. Und deshalb richtet sich die Predigt gerade auch an die Gefühlswelt des Menschen.
II.
Martin Luther bewegt sich in seinem Verständnis der Predigt durchaus in einer gewissen Nähe zu Augustin, radikalisiert jedoch dessen homiletischen Ansatz – sowohl in anthropologischer wie in homiletischer Hinsicht. War Augustinus in seinen homiletischen Überlegungen primär an der Person des Predigers orientiert, so gewinnen bei Luther die Hörerinnen und Hörer der Predigt an theologischem Gewicht. »Ich kann nicht weiter kommen als zu den Ohren« – so oder ähnlich äußert sich Luther immer wieder (vgl. Nembach, 60). Man kann Luthers Homiletik deshalb mit einem gewissen Recht als eine gewichtige Vorläuferin der Rezeptionsästhetik interpretieren (vgl. Gehring).
Analysiert Augustin das Predigtgeschehen primär unter dem Aspekt der Rhetorik, so gewichtet Luther dies – durchaus unter Aufnahme rhetorischer Tradition – unter genuin theologischer Perspektive. Das Verhältnis von Predigerin, Predigt und Hörer dient Luther dazu, die Eigenschaft der Predigt als Wort Gottes differenziert zu beschreiben. In der Predigt sind für Luther Gottes Wort und menschliches Reden miteinander verschränkt und gleichwohl klar unterschieden. Die menschliche Zunge des Predigers wird in der rechten Predigt zum »›Griffel‹, mit dem Christus in das Herz der Menschen schreibt« (WA 27; 155,1–3). In seinem Wort ist Gott ganz präsent: »… da ist seyn wortt yhm ßo ebengleych, das die gottheit gantz drynnen ist, unnd wer das wort hatt, der hatt die gantze gottheyt.« (WA 27; 188,6–8) Diese Präsenz Gottes in seinem Wort zielt für Luther jedoch auf das Herz des einzelnen Menschen: »… wo das mündliche wort gehöret wird und yns hertz fellet, folget damit eine solche gewalt, die tod, sund, helle und alle unglück erseuffet und vertylget.« (WA 17,2; 315,33–35) Luther hat damit eine differenzierte Verhältnisbestimmung von Gotteswort und Menschenwort vollzogen. Der Prediger, die Predigerin auf der Kanzel senden nicht einfach göttliches Wort aus, sondern das menschliche Wort von der Kanzel wird im Herzen des einzelnen Menschen zum göttlichen Wort, indem es Glauben weckt und stärkt. Das Hören wird damit zum entscheidenden Kriterium der Wirkung von Predigt.
Dieses »Hören« beschreibt dann Luther allerdings unter substanzieller Aufnahme der rhetorischen Tradition. Dabei steht für ihn das Moment des Rhetorischen primär für die Inanspruchnahme der menschlichen Gefühlswelt. Dies wenigstens legt Luthers pointierte Unterscheidung nahe: »Dialectica docet; rhetorica movet.« (WATR 2, 2199) Damit wird die menschliche Gefühlswelt zu einem Agens des homiletischen Geschehens, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Dies gilt nicht nur für das homiletische Rezeptionsgeschehen, sondern auch für das homiletische Produktionsgeschehen. Gute Predigt entsteht mit aus der Wahrnehmung der Gefühlswelt der Predigenden. Luther nennt dafür ein eindrückliches Exemplum: »Wenn ich in meiner krankheit hett predigen kunnen, wolt ich manche schone predigt und lektion gethan haben, denn da verstand ich den Psalter und sein trost ein wenig.« (WATR 3, 412)
Was für die Person des/der Predigers/Predigerin gilt, gilt noch mehr für die Hörerinnen und Hörer der Predigt. Dass die Predigt zum Wort Gottes im Herzen der Hörenden werden kann, dazu bedarf es der Orientierung an ihren lebensweltlichen Gefühlen. Predigt ist für Luther ein Leib-Geschehen, das sich nicht an irgendwelche abstrakte Personen richtet, sondern an konkrete Menschen mit ihrer Intellektualität und Emotionalität.
III.
Friedrich Niebergall als prominenter Homiletiker der Liberalen Theologie formuliert seine Überlegungen zur Predigt angesichts der sozial-lebensweltlichen Veränderungen, die die industrielle Moderne mit sich brachte. Ganze Schichten der Bevölkerung drohten sich der religiös-kirchlichen Überlieferung und Tradition zu entfremden. Dabei sieht Niebergall durchaus, dass diese Entfremdung nicht nur externe Gründe hat, sondern durch Theologie und gängige Predigt mit hervorgerufen sind. Die Krise von Religion und Kirche ist für ihn auch eine Krise der zeitgenössischen Predigt.
Die Antwort, die Niebergall auf die Krise von Religion und Kirche gibt, lautet: Modernisierung der religiösen Praxis (und damit auch der Predigt) unter Hinzuziehung der sich neu herausbildenden Humanwissenschaften. Dabei entdeckt Niebergall die Gefühlsdimension der Predigt aufs Neue.
Diese erneuerte Entdeckung der Gefühlsdimension der Sprache geschieht im praktisch-homiletischen Interesse. Wenn die Predigt die Menschen wieder für sich gewinnen möchte, dann müssen die Predigerinnen und Prediger die konkrete Lebensrealität der Menschen vor Augen haben. Für Niebergall ist diese Lebensrealität in zweifacher Hinsicht zu erforschen: »… einmal müssen wir den Menschen, und dann müssen wir die Menschen kennen zu lernen suchen. Den Menschen, nämlich die psychologische Grundorganisation, so weit sie für uns Interesse hat, das ganze Getriebe der Seele, sofern es sich um das Wollen herumbewegt. Und dann müssen wir ein paar Streifzüge in die Leute hinein machen, soweit sie uns interessieren. Das eine ist eine psychologische, das andere eine volkskundliche Aufgabe.« (Niebergall, 1902, 64) Psychologie und Soziologie werden somit zu unverzichtbaren Bezugswissenschaften der Homiletik.
Eine Predigt, die auf die konkrete Lebenswelt der Menschen ausgerichtet ist – und darin besteht die Predigtkonzeption Niebergalls –, kommt also nicht umhin, auf die Gefühle als wesentliches Moment im Menschen zu reflektieren. Dieser Bezug der Predigt auf die Gefühlswelt hat für Niebergall direkte Konsequenzen für die Predigt: Predigt muss zum einen einladende Predigt sein, denn Gefühle lassen sich nicht befehlen. Gefühle »kommen und gehen, aber sie haben einen eigenen Willen. Sie kommen, wenn sie durch eine entsprechende Veranlassung verursacht, und sie gehen, wenn sie durch einen anderen Grund geschwächt oder verdrängt werden. Befehlen lassen sie sich nicht. Niemand kann auf den Wunsch ›Fühle‹ sofort fühlen.« (Niebergall, 1906, 76) Zum anderen muss die Predigt eine respektvolle Predigt sein. Gefühle sind das Individuellste im Menschen. Sie dürfen weder durch Suggestion noch durch rhetorische Gewalt beeinflusst werden – und sie können dies zum Glück auch nicht. Wie so oft findet Niebergall auch dafür ein eindrückliches Bild: »Gefühle können wir zu erwecken suchen durch Darbietung ihrer Ziel- und Ausgangspunkte und ihrer Träger; ob sie nach dem Willen des Ich hinüberflammen, steht nicht in unserer Macht (…) Man häufe das Holz auf und überlasse es dem Blitzstrahl des Himmels, dem Heiligen Geiste, es in Flammen zu setzen, wie Elias auf dem Karmel tat.« (Niebergall, 1906, 82)
IV.
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