Homiletischer Essay
Johann Hinrich Claussen
Ach, die ›politische Predigt‹!
Die ›politische Predigt‹ ist ein Thema, bei dem sich viele sehr gern aufregen, heftig dafür oder dagegen sind. Dabei gibt es wenig, was so überschätzt wird – und zwar von Anhängern wie Gegnern gleichermaßen. Die Anlässe wechseln, der Effekt bleibt derselbe: Eine Predigerin oder ein Prediger verkündet eine Meinung zu einer aktuellen politischen Frage, die Leute schäumen oder jubeln – je nachdem, wie es in ihren Meinungshaushalt passt. In der vergangenen Saison hat der Tweet eines Journalisten über eine Predigt an Heiligabend, die er nicht zu Unrecht misslungen fand, den Anstoß zu allerlei Bewegungen im Internet gegeben. Eine Politikerin hängte sich dran und diktierte einer Boulevard-Zeitung Populistisches in die Feder, um in der nachrichtenarmen Zeit auch einmal vorzukommen. So war es wie jedes Jahr zu Weihnachten bei Loriots Hoppenstedt-Familie: ›Und dann gibt es ein großes Hallo!‹
Man wundert sich. Denn im Vergleich zu früher erscheinen die evangelische und katholische Kirche heute fast schon entpolitisiert. Die katholische Kirche hat ihre enge Verbindung mit dem politischen Konservatismus längst gelöst, und die evangelische ist überhaupt nicht mehr so protestbewegt wie etwa in den Siebzigerjahren. Die heftigen Pendelbewegungen des vergangenen Jahrhunderts – zunächst schroff antidemokratisch, dann forciert antiautoritär – sind einem vagen Zittern gewichen. Kaum jemand tritt mehr mit dem Völlegefühl auf eine Kanzel, die einzig mögliche Wahrheit zu verkünden, oder spricht den Anhängern anderer Meinungen mal eben ab, auch Christen zu sein. Wenn Predigende heute an etwas leiden, dann ist es weniger ein Übermaß an Selbstgewissheit als eine tiefe Verzagtheit. Darin sind sie ein Spiegel der deutschen Gesellschaft. Noch geht es uns sehr gut. Aber wie lange noch? Radikale Veränderungen kündigen sich an. Nur, was sollen wir tun? Wir haben viele Ängste. Doch was dürfen wir hoffen, können wir glauben? So genau weiß das niemand zu sagen. Da Unsicherheit schwer auszuhalten ist, wird sie gern aggressiv abreagiert – in Meinungskundgaben. Aber wenig ist so langweilig wie Meinungen, so vorhersehbar, so abhängig von Alter, Schicht, Bildungsstand und Milieu. Wenig ist so wirkungslos. Kleine Testfrage: Welche politische Entscheidung der vergangenen dreißig Jahre wurde aufgrund einer kirchlichen Meinungsäußerung getroffen?
Gleichwohl bleibt die Predigt eine bedeutsame Einrichtung. Dass häufig so schlecht über sie geredet wird, kann man als Zeichen dafür nehmen, dass etwas von ihr erwartet wird, nämlich dass sie aus der christlichen Botschaft etwas gewinnt, das den Hörern dabei hilft, zur Besinnung zu kommen, ihr Leben zu deuten und auszurichten, das eigene Urteil im Wortsinne zu ›bilden‹. Das kann durchaus eine politische Bedeutung annehmen. Doch welche genau? Bei denen, die heftig dafür oder erbittert dagegen sind, dass Prediger sich politisch äußern, bleibt genau dies unklar. In Deutschland sind Staat und Religion getrennt. Die Kirchen sind keine Parteien und haben keine Macht. Zugleich aber sind sie Teil der Polis, gehören zur Gesellschaft. Hier, in diesem öffentlichen Raum zwischen dem Staat und dem Privaten, wird über die drängenden Grundfragen dieses Landes diskutiert. Es ist ein Charakteristikum deutscher Religionskultur, dass die Kirchen – wie alle Religionsgemeinschaften – dabei als zivilgesellschaftliche Akteure neben anderen mitwirken. Sie erhalten die Chance, gut hörbar ihre Anliegen zu vertreten, müssen sich aber geltenden zivilisatorischen Standards fügen. Obwohl dies von ganz links und neuerdings von ganz rechts bekämpft wird – da sind sich Teile der LINKEN und der AfD erstaunlich einig –, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass diese liberale Religionskultur sinnvoller ist als ein doktrinärer Laizismus.
Für die Kirchen heißt dies, dass sie die Chance und die Aufgabe haben, für Humanität einzutreten – gerade zu Weihnachten. Denn an Heiligabend sind die Predigten öffentliche Reden. In der Kirche sind nicht nur die Hochverbundenen versammelt, sondern sehr viele und sehr unterschiedliche Menschen. Sie machen aus dem sakralen einen öffentlichen Raum. Als Prediger sieht man sich mit hohen, sehr widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert: Stimmungsvoll soll es sein, aber auch anspruchsvoll, nachdenklich und besinnlich, grundsätzlich und aktuell, zu Lachen soll es etwas geben, doch nicht zu viel. Es grenzt an ein Wunder, dass überhaupt einige Weihnachtspredigten gelingen. Als öffentliche Rede hat die Weihnachtspredigt nun die Aufgabe, christliche Humanität zu bezeugen. Denn dieses Fest hat keine seligen Ausnahmezustände zum Kern, sondern die Menschwerdung Gottes. Deshalb stellt es die Frage, wie die Botschaft des himmlischen Friedens auf dieser Erde Heimat findet – oder nicht. Das hat natürlich auch eine grundsätzlich politische Dimension.
Für Predigerinnen und Prediger ist dies ein großartiger Moment, aber sie stehen auch vor zwei Versuchungen. Die erste besteht darin, sich im allgemein Besinnlichen zu verstecken. Aus Angst, die vielköpfige, so uneinheitliche Weihnachtsgemeinde zu verschrecken, spricht man dann über die Liebe im Allgemeinen, vermeidet jedoch eine Fokussierung. Die andere Versuchung besteht darin, dass man diese einmalige Chance ausnutzt, um all das loszuwerden, was man immer schon einmal sagen wollte. Dabei verliert man aber leicht aus den Augen, dass die öffentliche auch eine geistliche Rede sein soll. Da gilt es, das Profane auf eine höhere Ebene zu führen, es zu verwandeln, eine andere Perspektive zu eröffnen, als sie im sonstigen öffentlichen Gerede möglich ist. Das verlangt nicht nur Nachdenklichkeit, sondern auch Takt. Es ist auch eine Frage des Stils: Wie viel blanke Profanität, wie viel Meinungserregung lässt man in die Predigt? Der Heilige Abend ist eine sensible und verletzliche Stunde. Da verbietet es sich, so ›hässliche‹ Wörter wie zum Beispiel ›Trump‹ in den Raum zu stellen. Auch sollte man in einem Gottesdienst nicht über Leute reden, die nicht da sind, sondern zu denen sprechen, mit denen man gerade ein Fest feiert. Deshalb ist es auch wenig sinnvoll, Forderungen nach diesem oder jenem zu stellen. Denn die amtlich Zuständigen dürften kaum anwesend sein.
Leicht ist es nicht, eine Balance aus öffentlicher und geistlicher Weihnachtsrede zu finden. Aber zum Glück gibt es zwei erprobte Regeln: 1. Wenn man als Prediger am Heiligen Abend etwas unbedingt loswerden möchte, was man immer schon vor einem großen Publikum sagen wollte – dann sollte man sich auf die Zunge beißen. 2. Wenn man aber schon beim Predigtschreiben das Gefühl hat, für einen bestimmten Satz über ein konkretes Thema seinen Mut zusammennehmen zu müssen, dann sollte man es auch tun.
Was für den normalen Gemeindepastor gilt, betrifft das kirchliche Führungspersonal in gesteigerter Form. Denn dieses soll nicht nur zu einer Gottesdienstgemeinde sprechen, sondern zur Öffentlichkeit im Allgemeinen. Deshalb werden von Kardinälen und Bischöfen Weihnachtspredigten erwartet, die sich medial verwerten lassen. Das beschränkt sich leider zumeist darauf, dass ein oder höchstens zwei Sätze herausgeklaubt werden, die sich zitieren und über Presseagenturen verbreiten lassen – wie man es von Politikern halt so kennt. Dann wird von dem einen ein Miniatur-Statement zur Flüchtlingsfrage gebracht, von einem anderen ein ›Soundbite‹ zur Sozialgesetzgebung und von einem dritten eine Frömmigkeitsfloskel. Dabei weiß man doch, dass man von einer Predigt nur dann einen angemessenen Eindruck erhält, wenn man sie im Ganzen gehört und als Teil eines Gottesdienstes erlebt hat. Deshalb ist es so schwer erträglich, die alljährlichen ›Best-of‹-Zusammenstellungen von episkopalen Weihnachtsbotschaften zu lesen. Man sollte diese Artikel eigentlich gar nicht zur Kenntnis nehmen, sondern lieber selbst in einen Gottesdienst gehen.
Dennoch, eine öffentlich-geistliche Weihnachtspredigt kann gelingen – aber nur dann, wenn sie dem christlichen Freiheitsgedanken verpflichtet ist. Deshalb darf sie nie den Eindruck erwecken, als würde in ihr eine Institution höherer Ordnung eine unbestreitbare Wahrheit verkünden. Wer predigt, muss sich als Teil der Gesellschaft verstehen, zu der er spricht und die er kritisiert. Dabei sollte er am Widerspruch interessiert sein. Das Leben in der modernen Welt ist komplex. Deshalb kann man keinen Konsens dekretieren. Man muss ihn sich mit denen erarbeiten, die aus guten Gründen anderer Meinung sind. Deshalb sind die Predigenden gut beraten, selbstkritisch zu bleiben. Sie sollten die Grenzen des eigenen Wissens benennen und das Eindeutigkeitsgefuchtel von Politikern und Politikerinnen nicht nachahmen. Im Unterschied zu Parteien und Interessenverbänden sollten Predigende stets auch das relative Recht des anderen mit bedenken. Nur so können sie sich bei aller Entschiedenheit einen Rest an Bescheidenheit bewahren, der Christen im politischen Diskurs gut ansteht. Wenn man jedoch das betrübliche Niveau politischer Reden im heutigen Deutschland bedenkt, wenn man nachzählt, wie viele drängende Zukunftsfragen von gewählten Amtsträgern nicht zur Diskussion gestellt werden, dann wird man sich eher mehr Predigten wünschen, die die Polis unbedingt angehen, als weniger. Unser Hauptproblem ist ja nicht, dass in den Kirchen zu viel über Politik gesprochen, sondern dass in der Politik zu wenig grundsätzlich diskutiert wird.
Zum Schluss noch eine erbauliche Geschichte: Vor zwei Jahren saß ich mit Pastorenkollegen zusammen, und wir erzählten von unseren Weihnachtsgottesdiensten. Da sagte einer: ›Also,...