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E-Book

Priscilla

Von Liebe und Überleben in stürmischen Zeiten

AutorNicholas Shakespeare
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783455851182
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Als Nicholas Shakespeare eine Kiste mit Briefen und Tagebüchern seiner verstorbenen Tante findet, wird er erstmals mit ihrer geheimen Vergangenheit konfrontiert. Die Priscilla, an die er sich erinnert, ist ganz anders als die junge, von Verehrern umschwärmte, zerbrechliche Frau, die in die Wirren des Zweiten Weltkriegs gerät. Nicholas Shakespeare, bekannt durch seinen Erfolgsroman 'Sturm', lüftet in diesem Buch ein spannendes Familiengeheimnis.

Nicholas Shakespeare, 1957 in Worcester/England geboren, wuchs als Sohn eines Diplomaten in Asien und Lateinamerika auf. Heute lebt er im englischen Wiltshire und in Swansea/Tasmanien. Er veröffentlichte mehrere Romane, darunter Sturm und Der Obrist und die Tänzerin, verfilmt unter der Regie von John Malkovich, und eine große Bruce-Chatwin-Biographie. Bei Hoffmann und Campe erschienen bisher u.a. das Sachbuch Priscilla. Von Liebe und Überleben in stürmischen Zeiten (2014)und der Erzählband Geschichten von anderswo (2018).

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Leseprobe

Church Farm: 195766


Tante Priscilla, die Schwester meiner Mutter, war eine besonders glamouröse und geheimnisvolle Erscheinung in meiner Kindheit. Sie lebte an der Küste von Sussex mit ihrem zweiten Ehemann Raymond, der dort einen Pilzzuchtbetrieb führte. Ein eifersüchtiger Mensch, der sie kaum aus den Augen ließ.

Priscilla lud uns manchmal übers Wochenende zu sich nach East Wittering ein, und jedes Mal, wenn auf der Fahrt von London ihr Name fiel, spitzte ich auf dem Rücksitz des Wagens meiner Eltern die Ohren. Ich hatte schon früh begriffen, dass meine Tante zu jenen Frauen gehörte, die den Männern den Kopf verdrehten. Meine Eltern verstanden sich bestens mit ihr, aber wie Priscilla sich mit dem unnahbaren Raymond hatte einlassen können, blieb ihnen zeitlebens ein Rätsel.

Wenn unser Wagen, ein blassblauer Singer Gazelle, in den Feldweg einbog, der nach Church Farm führte, herrschte jedes Mal Aufregung: Waren wir womöglich zu spät? Und würde Raymond – der Pünktlichkeitsfanatiker – uns wohl diesmal Champignons servieren? Dass Pilze etwas Verheißungsvolles waren, lässt sich heute in Zeiten ihrer Massenproduktion nur noch schwer nachvollziehen. Doch für einen Siebenjährigen, der vor allem den Geschmack von Dorschrogen kannte (laut meiner Mutter »das billigste Lebensmittel, das es damals zu kaufen gab«), waren Champignons Anfang der sechziger Jahre ein Traum. Sie waren auf ihre Weise fast so exotisch wie meine Tante.

Priscilla wohnte in einem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert aus rotem Backstein, das neben einer Kirche aus dem zwölften Jahrhundert stand. Es gab einen Hof mit einer verkümmerten Pappel und stapelweise leere Fischkisten für die Pilzzucht. Als »Zuchträume« dienten finster wirkende, lange, niedrige Nissenhütten mit runden Asbestdächern, dreißig Stück nebeneinander. Ich hatte strikte Anweisung, keine davon zu betreten. Sonst würden meine Schuhe mit einem gefährlichen Virus der sogenannten »Absterbekrankheit« infiziert werden, das Raymonds Ernte vernichten konnte, wenn man es verbreitete. Also sah ich nie eine Hütte von innen. Aber ich kann mich gut an Eimer mit Desinfektionsmittel und den feuchten, modrigen Geruch von Kompost erinnern.

Church Farm war kein Haus für ein kleines Kind. Ich erinnere mich an ausländische Haushälterinnen, an kalte Steinböden mit Bleileitungen zwischen den Fliesen, an aggressive Hündchen – mit gelben Pfoten von Raymonds Natriumspray – und an ein Schwimmbecken, in dem dunkelgrüne Algen trieben, sodass ich nie darin baden konnte. Das Wasser aus dem Becken diente zum Kühlen der Nissenhütten. Alles drehte sich um die verbotene kleine weiße Frucht der Spezies Agaricus bisporus, auch bekannt als »Champignon de Paris«. Unter direkter Sonneneinstrahlung verlor der Champignon seine weiße Farbe – noch ein Grund für Raymond, mich nicht in die Schuppen zu lassen. Er machte nur Licht, wenn er die Pilze wässerte oder erntete. Ansonsten wuchsen sie bei einer Temperatur von 18 Grad Celsius in völliger Dunkelheit und wurden mit Pferdemist und Gips ernährt. »Kein Licht reinlassen und mit Scheiße füttern«, das war seine Formel für eine ertragreiche Ernte.

Raymond sah mit seiner Adlernase und der schwarzen Hornbrille ziemlich furchterregend aus. Im Wohnhaus hatte er das gesamte Erdgeschoss als Büro okkupiert. Sitzungen fanden am Esszimmertisch statt, wo Raymond gern in abgeschnittenen Gummistiefeln thronte und seine Angestellten überwachte. Er besaß eine Kuhglocke, die er heftig läutete, wenn Priscilla ans Telefon gehen oder zu den Mahlzeiten kommen sollte. Ein förmliches, von ihm zubereitetes Mittagessen gab es um ein Uhr – um Punkt ein Uhr. Einmal rief seine Tochter Tracy an, um Bescheid zu sagen, dass sie eine Reifenpanne hatte. Er befahl: »Bring das in Ordnung, aber komm nicht zu spät zum Essen!«

Kochen hatte Raymond von seinem »Fuchs« auf der Harrow School gelernt. Er hatte eine Vorliebe für Soßen und war stolz auf sein Kalbsragout – das einzige Gericht, das bei ihm Pilze enthielt. Er empfand es als geschäftsschädigend, sie zu verschenken oder Gästen vorzusetzen, was auch für Verwandte galt. Priscilla hatte uns gewarnt, dass Raymond den vollen Marktpreis von fünf Shilling das Körbchen berechnen würde, falls wir welche ernten wollten. Die schlechten verkaufte er draußen an der Straße.

Raymond übernahm gern die Führung und kümmerte sich um alles. Wenn Priscilla hin und wieder eine Mahlzeit zubereiten durfte, gab es Rindfleisch-Nieren-Pastete, Risotto oder gefüllte Paprika – Gerichte, die ich schon von zu Hause kannte. Nachdem meine Mutter geheiratet hatte, gab Priscilla ihr diese Rezepte, und viel Neues kam später nicht mehr hinzu. Obwohl es mir nie gelang, bei meinen Besuchen auf Church Farm einen Champignon zu kosten, wuchs ich in gewisser Hinsicht also mit Priscillas Kochkünsten auf.

Mein Vater verdiente damals als armer Journalist 500 Pfund im Jahr, und ihn schauderte jedes Mal, wenn er Priscillas Haus betrat mit der Aussicht, dort auf ihre schicken, weltgewandten Freunde wie die Sutros zu treffen. Die Besuche in noblen Restaurants, zu denen Raymond einlud, behagten ihm ebenso wenig.

Raymond war vor dem Krieg auf der Brooklands-Rennstrecke Bugatti gefahren. Er prahlte damit, dass auch Priscilla gut fahren konnte. Ich kann mich zwar nicht erinnern, meine Tante je am Steuer gesehen zu haben, staunte aber, dass Raymond sie jedes Mal in einem anderen Sportwagen chauffierte: in einem schwarzen Aston Martin, einem roten Ferrari aus zweiter Hand, einem grünen Hotchkiss – und einmal in einem Facel Vega, der angeblich rückwärts wie vorwärts hundertsechzig fuhr. Mit uns raste Raymond gern über die Birdham Straight, ein langes, ebenes Stück Landstraße zwischen Wittering und Chichester.

Neben den Autos besaß Raymond mehrere Jachten. Jedes Jahr schipperte er mit Priscilla nach Frankreich, und einmal war mein Vater sogar als Besatzungsmitglied dabei. Pferderennen waren eine weitere Leidenschaft. Raymond verpasste nie das Rennen in Goodwood, und als er gestorben war, begrub seine Tochter Tracy seine Asche unter einem Baum am Veuve-Clicquot-Stand.

Als leidenschaftlicher Spieler trug Raymond sämtliche Wetten in ein Notizbuch ein – was nicht heißt, dass er besonders erfolgreich war. 1957, in dem Jahr, als meine Eltern zum ersten Mal mit mir nach Church Farm fuhren, rechnete sein junger Neffe aus, dass der Onkel 210000 Pfund (mindestens vier Millionen Pfund nach heutigem Maßstab) für Pferdewetten ausgegeben hatte. Gewonnen hatte er 211000 Pfund. Wenn ihm das Glück lachte, konnte es passieren, dass er alle, die gerade um ihn herum waren, zum Essen einlud, oder er kaufte Priscilla einen mit den Namen früherer Derbygewinner bestickten Seidenschal. Wenn er verlor, sah die Sache schon anders aus. Sein Neffe erinnert sich, wie er zitternd hinter dem Sofa kauerte, »weil der Onkel dann immer die alte Küchentür hinter sich zuknallte, wenn er hereinkam, und dann tobte und schimpfte er und warf mit Büchern um sich und griff zur Whiskyflasche«.

Beim Lauschen im Auto schnappte ich auf, dass mein Onkel zwar Anfälle von Verschwendungssucht hatte, seine Frau aber an der kurzen Leine hielt. Nur wenn sie in Frankreich waren, konnte Priscilla hoffen, dass sie das Geld seiner Gewinne bekam – worauf sie einmal sofort zu Hermès geeilt war und für eine astronomische Summe eine Handtasche aus Krokodilleder erworben hatte.

Raymond war stolz darauf, dass er und Priscilla in sechzehn Jahren Ehe keine einzige Nacht getrennt voneinander verbracht hatten. Wenn er geschäftlich unterwegs war, sorgte er dafür, dass er am selben Abend nach Hause kam. Dennoch war selbst für mich offensichtlich, wie sehr Raymond Priscilla kontrollierte, und ich erinnere mich an das Gefühl, dass meine Tante auf Church Farm ein Fremdkörper war, eine Gefangene geradezu – die gleichwohl alles ergeben hinnahm. Wenn man ein Zimmer betritt, in dem sich alle angeregt unterhalten, fühlt man sich wohl automatisch zu der Person hingezogen, die schweigt. Obwohl ich noch ein Kind und Priscilla eine Frau Ende vierzig war, meinte ich sie beschützen zu müssen.

»Sie war extrem zurückhaltend«, sagte mein Vater. »Man spürte, dass sie etwas verbarg.«

 

Weil das wichtigste Zimmer im Haus als Raymonds Büro diente und alles tadellos aussehen musste, hatte ich zu verschwinden, sobald Geschäftskunden auftauchten. An heißen Tagen ging Priscilla nach draußen und nahm in einer geschützten Ecke des ummauerten Gartens nackt ein Sonnenbad. Ich durfte nicht zu ihr, es sei denn, ich kündigte mich an, damit sie sich rasch bedecken konnte. Ich erinnere mich, wie sie mit gerunzelter Stirn ein Buch las oder Kreuzworträtsel löste, die Zigarette zwischen den Fingern – sie rauchte viel. Und immer stand in Reichweite ein Glas, das ein Getränk mit Zitronenscheibe enthielt. Meistens war sie jedoch im Obergeschoss und blieb unsichtbar.

Das Obergeschoss war Priscillas Reich. Sie verbrachte viel Zeit damit, auf ihrem Bett zu lesen, Karten zu spielen oder zu schlafen. Sie war berühmt für ihren gesegneten Schlaf, und Raymond behauptete, dass sie oft nicht vor Mittag aufstand.

Vom Fenster des über der Küche gelegenen Schlafzimmers aus sah man auf den Hof und die Gasse, die zur Kirche führte. Emaillierte Haarbürsten, Kämme und Spiegel lagen ordentlich nebeneinander auf der Frisierkommode. Dort saß sie dann in einem Nachthemd mit passendem Morgenmantel und bürstete ihr langes blondes Haar. »Für sie galt die alte Regel: Schönes Haar braucht hundert...

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