Auftakt
Klassenhass ist überall
Schwungvoll kracht mein kleiner Kinderkörper gegen die Wohnzimmerwand. Auf allen vieren krieche ich zum Stahlofen in der hinteren Ecke des Raums. Ich spüre Tränen auf meiner Wange und wische sie weg. Während ich aufstehe, sehe ich den Behälter mit dem zum Verfeuern zurechtgeschnittenen Holz. Blitzartig reift ein Entschluss in mir. Ich packe mir eines der Stücke. Noch immer der Wand zugeneigt, stemme ich es mit beiden Händen weit über meinen Kopf. Langsam drehe ich mich um. Auf der Couch sitzt der Mann, der mich gerade gegen den Gips geklatscht hat, weil ich einem seiner Befehle nicht folgen wollte. Mit aufgedunsenem Gesicht sieht er mich teilnahmslos an. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. Ich bleibe stehen. Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu. Als ich direkt vor ihm stehe, ziehen sich seine Augenbrauen zusammen. Er duckt sich, löst aber nicht die Umklammerung seiner Bierflasche. Er hat wirklich Angst vor mir. Angst. Vor mir. Der Möbelpacker mit den mächtigen Muskeln fürchtet sich vor seinem achtjährigen, asthmakranken Sohn. Mein Blick muss schrecklich anmuten: entstellt, irre und hässlich. Jetzt entscheiden Bruchteile von Sekunden über Selbstbeherrschung oder Irrenanstalt.
17 Jahre später, im März 2010, sitze ich in einem großen Büro zwei Männern gegenüber, einer mit und einer ohne Bart. Gemeinsam stellen sie mir unablässig Fragen. Mit manchen meiner Antworten scheinen sie zufrieden. Ich bin aufgeregt wie am ersten Schultag und denke an den Schweiß auf meiner Stirn. Ich hoffe, die Herren Professoren sehen ihn nicht, und weiß, wie vergeblich diese Hoffnung ist. Ich sehe die strengen Blicke der Männer und wünschte, ich wäre irgendwo ganz weit weg. Als die beiden endlich genug haben, werde ich nach draußen geschickt. Dort sitzen mir zwei Frauen in meinem Alter gegenüber. Sie starren an mir vorbei. Sie wirken verkrampft und versuchen, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Minutenlang lausche ich der Stille. Dann werde ich wieder hineingerufen. Wie ich es denn gefunden hätte, das Gespräch, fragt der Mann mit Bart. Hätte besser laufen können, sage ich, aber sicher auch schlechter. Typische Fußballerantwort, bellt der Mann ohne Bart und verzieht dabei keine Miene. War ein guter Auftritt, säuselt der Mann mit Bart, und der ohne Bart fängt plötzlich an zu grinsen. Es dauert einige Sekunden, bis bei mir der Groschen fällt: Ich habe es tatsächlich geschafft. Von diesem Tag an bin ich Akademiker. Ich. Akademiker. Mein sozialwissenschaftliches Studium ist abgeschlossen. Endlich. Und: Erfolgreich.
Meinem Vater habe ich damals nicht das Holzscheit über den Schädel gezogen. Manchmal denke ich darüber nach, was heute anders wäre, wenn ich es doch getan hätte. Wahrscheinlich wäre ich nicht an der Universität, sondern dauerhaft in der Psychiatrie gelandet. Dafür würde meine Mutter vielleicht noch leben. Als der Krebs begann, sie zu zerfressen, hatte die Aggressivität meines Vaters ihren Höhepunkt erreicht. Er trägt einen immensen Anteil daran, dass sie kaum Kraft in ihre Genesung investieren konnte. Das wenige Geld, das er verdiente, ging zuverlässig für Alkohol und Zockerei drauf. Wenn er denn mal zu Hause war, setzte es häufig Schläge. Meine Mutter hatte frühzeitig die Schule geschmissen und keinen Beruf erlernt. Jetzt saß sie mit Anfang 30 schwer depressiv und todkrank in einer verwahrlosten Wohnung mit ihren vier Kindern und einem unberechenbaren Typen, von dem sie abhängig war und glaubte, sich nicht lösen zu können. Als ich neun Jahre alt war, erfuhr sie, dass es bald mit ihr zu Ende gehen würde. Viel zu spät warf sie ihn schließlich doch noch raus.
Natürlich gab er keine Ruhe. Eines Nachts trat er unsere Tür ein, randalierte, legte sich auf die Couch und schlief seinen Rausch aus, bis die Polizei ihn mitnahm. Es war tiefster Winter, aber für eine Reparatur der Haustür fehlten uns die Mittel. Den meisten unserer Nachbarn, die selbst nicht eben wohlhabend waren, galten wir nur als »die Asozialen«. Ein halbes Jahr lang kämpfte meine Mutter noch gegen ihr ärztlich angekündigtes Ableben an. Sie reichte die Scheidung ein, musste die Pflege ihres langsam sterbenden Körpers und die Erziehung der schnell reifenden Kinder ihrer jüngeren Schwester überlassen.
Ich ahne, welche Gedanken einem beim Lesen dieser Geschichte in den Sinn kommen können. Warum hat meine Mutter diesen Kerl nicht viel früher verlassen? Weshalb hat sie keine Berufsausbildung abgeschlossen? Wir leben doch in einer liberalen Demokratie! Wer es wirklich will, kann sich nach oben kämpfen! Bin nicht ich mit meinem Uni-Abschluss das beste Beispiel dafür? Auch wenn auf den ersten Blick alles dafür spricht: Das bin ich nicht. Im deutschen Bildungssystem gibt es soziale Klassenschranken. Nur denjenigen, deren Eltern studiert haben oder zumindest eine solide bürgerliche Existenz führen, öffnet diese Gesellschaft den Schlagbaum. Wenn zu Hause nicht nur das Geld für Nachhilfestunden fehlt, sondern auch die Erziehungsberechtigten schon ab der achten Klasse außerstande sind, bei Hausaufgaben zu helfen, dann schmeißt man schnell demotiviert die Flinte ins Korn, sobald es in der Schule mal nicht mehr so gut läuft. Es entwickelt sich ein Teufelskreis, aus dem es aus eigener Kraft kein Entrinnen gibt.
Wer in die Mittelschicht hineingeboren wurde, mag sich die Dimension einer Herkunft von ganz unten schwer vorstellen können. Genau daran will dieses Buch etwas ändern. Es geht nicht darum, Mitleid mit mir, meiner Familie oder dem Rest der drolligen Unterschichtenbande einzuheimsen. Denn, das dürfte jedem einleuchten, die Armen wünschen sich vieles in ihrem Leben, aber ganz sicher nicht Mitleid durch die, denen es besser geht. Weil die Mittel- und die Unterschicht, diese beiden objektiven Teile der Arbeiterklasse, sich in den vergangenen Jahrzehnten so weit voneinander entfernt haben, braucht es Vermittler, die den »einfachen Leuten« zeigen, dass sie gar nicht so schlimm sind, diese Akademiker; und die vor allem den Studierten klar machen, wie viel ihnen mehr Verständnis für »die da unten« einbringen kann.
Durch ein Buch allein, da mache ich mir gar nichts vor, kann idealerweise nur der zweite Weg gelingen. Und das funktioniert am besten, indem ein Eindringling in die Welt der Bücher auch von seiner eigenen Lebensgeschichte erzählt. Das »Ich« dient dabei als plastisches Beispiel, über das die ausgeschlossenen Armen, die perspektivlos Zurückgelassenen, eben »meine Leute«, endlich Gehör finden können bei denen, die eigentlich wissen müssten, welch ein Skandal die zunehmende soziale Ungleichheit ist; die sich aber bislang selbst nicht als Teil des Problems verstanden haben.
Wie und warum Linke dazu beitragen, dass der gesellschaftliche Klassenhass gegen materielle Arme und von bürgerlicher Bildung fern Gehaltene sich reproduziert, das will ich in diesem Buch zeigen. Natürlich kann ich hier nur über die linke Bewegung in Deutschland und speziell über Westdeutschland sprechen. Eine Analyse der Situation und geschichtlichen Entwicklung Ostdeutschlands bzw. der DDR wird dieses Buch nicht leisten können, weil das dem bewusst subjektiven Ansatz zuwiderlaufen würde. Dafür versuche ich aber, Eindrücke vieler Strömungen zu verarbeiten – vom anarchistischen Hausbesetzer bis zum staatstragenden Sozialdemokraten.
Warum sollte ich, so habe ich mich gefragt, weiterhin allein den Linken aus der Mittelschicht das Feld überlassen? Hauptberuflich arbeite ich seit einigen Jahren als Journalist. Kaum ein anderer Job ist in Deutschland für Leute mit einem Arbeiterhintergrund so schwer zugänglich. Ich möchte nicht mehr einfach hinnehmen, dass die saturierten Medienmacher zurückhaltende Menschen aus nicht-akademischem Umfeld mit ihrer Eloquenz und ihrer Überheblichkeit still halten.
Darum ist dieses Buch keine wissenschaftliche Abhandlung. Es formuliert keine »Wahrheiten« mit stilistisch angezogener Handbremse und penibler Begriffsstrenge, sondern will Gewissheiten hinterfragen, zur Diskussion anregen und Menschen zu Wort kommen lassen, die in der gesellschaftlichen Linken sonst stumm bleiben müssen – und zwar auf drei Ebenen: Mein eigenes (Er-)Leben setzt sich in Bezug zur gesellschaftlichen Produktion von sozialer Verachtung und fragt nach dem Anteil der Linken an der Stabilität dieses Klassenhasses. Deshalb kommen hier nicht nur sozial aufgestiegene Wirtschaftsbosse, Wissenschaftler oder hochrangige Politiker zu Wort, sondern überwiegend diejenigen, denen Spott und Hass von allen Seiten gilt.
Das Buch konfrontiert die Leserin und den Leser mit verzweifelten Menschen, die nicht wissen, wie sie mitten in diesem schwerreichen Land ihre Kinder sattkriegen sollen; deren letzter Stolz aber darauf gründet, dass sie sich dennoch selbst zur Mittelschicht zählen (Kapitel 1). Es vermittelt die Perspektive des Hilfsarbeiterkindes, das es an die Universität schafft und dort mit dem elitären Gehabe der Bürgerskinder fremdelt (Kapitel 2). Es wird um Leute gehen, die noch vor wenigen Jahren glaubten, bis zur Rente eine sichere Arbeitsstelle zu haben und nach einer Entlassung binnen kürzester Zeit von Wohnung, Auto und Familie bis hin zu Gesundheit und Selbstachtung alles verloren haben – und sich dafür von dieser Gesellschaft auch noch anhören müssen, selbst schuld zu sein an ihrer Lage (Kapitel 3). Das Buch handelt auch von Menschen, deren Ohnmacht in diffuser Fremdenfeindlichkeit mündet und deren real empfundene Ängste eine in Selbstgewissheit lebende Bildungselite einfach nicht zur Kenntnis nehmen will (Kapitel 4). Es ergründet, warum gerade linke Strömungen wie die Grün-Alternativen (Kapitel 5) und die postmodernen Moralisten (Kapitel 6) jegliche Solidarität mit den...