Hans-Werner Eroms
Wörter im Brennpunkt. Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ als Mittel der Fokussierung öffentlicher Diskurse (S. 245-246)
1. Wort-Wahlen
Die Aktionen „Wort des Jahres“ und „Unwort des Jahres“ lassen sich in ihren gesellschaftlich-politischen, historischen und linguistischen Implikationen auf die unterschiedlichste Weise verstehen. Zunächst sind sie medial wirksame Aktivierungen von metasprachlichen Fähigkeiten in der Bevölkerung, indem sie zur Beobachtung des aktuellen Sprachgebrauchs auffordern. In dieser Aufgabenstellung sind sie aber deutlich mehr: Die Beobachtungen müssen an einem auffälligen Wort- oder Wortgruppengebrauch festgemacht werden. Sie aktivieren also auch das sprachkritische Vermögen. Darin ist die Unwortsuche direkter als die Suche nach dem Wort des Jahres, weil hier der Aufruf ergeht, einen anstößigen Wortgebrauch zu benennen und dies auch zu begründen. Die Suche nach dem Wort des Jahres ist dagegen gleichsam abstrakter, indem hier eine Aufforderung formuliert ist, die aktuelle Zeitströmung als in einem Wort abgebildet wiederzufinden, eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe, die auch nicht immer gelingt.
Welche Mechanismen dabei ablaufen, und wie diese primäre Nutzung der Aktionen zu beurteilen ist, werde ich aber noch genauer darstellen, denn sie verbindet sich mit dem zweiten Aspekt dieser Aktionen, den es zu beachten gilt: den Nachwirkungen, die die Suchaktionen gehabt haben, also dem weiterführenden Umgang damit. Denn wenn ein Wort erst einmal öffentlich markiert ist, wird es sogleich kommentiert, ausgelegt und in größere Zusammenhänge eingeordnet. Es ist auffällig geworden, an ihm entzünden sich Meinungsbekundungen, es ruft Zustimmung hervor, aber auch Kritik und Widerspruch, kurz es ist in den öffentlichen Diskurs eingebunden und hat damit gewissermaßen seine Gebrauchsunschuld verloren – wenn es die überhaupt gegeben hat. Bei den genannten Aktionen ist dieser Vorgang ganz offensichtlich. Sofort nach der Kür finden sich in den Medien regelmäßig Kommentierungen, die die Wahl gutheißen und sie damit rechtfertigen oder hinterfragen und damit kritisieren oder aber allgemeine Beobachtungen anstellen. Auch zu diesem Bereich werde ich noch Genaueres anführen, denn hier werden nun analytische Fertigkeiten bei den Sprechern und Sprecherinnen aktiviert, wenn sie diese Wörter und Wendungen aufgreifen und bewusst verwenden.
Damit klinken sie sich in die öffentliche Debatte ein. Denn die öffentliche Kommunikation darf man sich nicht auf die gleichsam obersten Ränge, auf die anerkannt dazu primär legitimierten Schichten beschränkt denken. Nicht nur die Parteien, Verbände und Institutionen, sowie die Prominenten und Intellektuellen, auch alle Medien sind dazu zurechnen; und durch Leserbriefe und Internetäußerungen werden die Möglichkeiten genutzt, sich auch als einfacher Sprachteilhaber in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Dadurch aber lassen sich die Beiträge wiederum für ein bestimmtes, abgegrenztes Zeitintervall als Seismograph werten, mit dem sich bestimmte Strömungen und Trends messen lassen.
Schließlich ist noch ein dritter Aspekt relevant, nämlich die Betrachtung der allgemeinen Bedingungen von Systemänderungen, die sich hier zeigen. Es ist zu fragen, ob nicht durch die Markierung von auffälligem Sprachgebrauch neue Bedeutungen angezeigt werden oder aber durch Rückkopplung zu vergleichbaren Gebrauchsweisen schon bestehende Tendenzen in der Gesellschaft verstärkt werden oder aber gar die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten verändert werden, wenn sich die Bevölkerung auf die Suche nach auffälligem Sprachgebrauch macht. Hier ergibt sich der Anschluss an die Thematik dieser Tagung, die Prozessen der Verstärkung und Bedeutungsanreicherung auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen nachgeht.