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Prozessuales Denken

Reflexionen über Marx und Weber

AutorAndrew Abbott
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783868549652
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Andrew Abbott, einer der wichtigsten Sozialtheoretiker der Gegenwart, unterzieht Texte von Karl Marx und Max Weber einer kritischen Re-Lektüre - mit überraschenden Einsichten. Marx sieht die Gegenwart, so Abbotts Lesart, nur durch Kräfte der Vergangenheit bestimmt. Wollen wir die Gegenwart verstehen, brauchen wir jedoch beides. Vergangenes und Zukünftiges ist im konkreten Handeln miteinander verwoben. Weber hingegen begreife Wissenschaft als vergangenheitsorientiert und Politik als zukunftsbezogen, trenne beides jedoch zu sehr voneinander. Abbott spricht dagegen von 'dichten Gegenwarten', in denen sich Vergangenheiten und Zukunftsentwürfe verknüpfen. Sie können gleichsam historisch erklärt werden (Wissenschaft) und bilden die Basis für schöpferische Gestaltungen (Politik). Die viel gerühmte und ebenso umstrittene Werturteilsfreiheit der Sozialwissenschaften ist in dieser Perspektive ein Mythos.

Andrew Abbott ist Gustavus F. and Ann M. Swift Distinguished Service Professor im Department of Sociology an der University of Chicago. Er ist Editor des American Journal of Sociology und forscht vor allem zu den Methoden des (sozialwissenschaftlichen) Entdeckens, zu Heuristiken, zur Zukunft des Wissens sowie zur Wissens- und Sozialtheorie.

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Leseprobe

2.Die Stärken und Schwächen bestehender Theorien der Temporalität


A.Historizismus

Beginnen wir also mit dem Historizismus. Bekanntlich war Karl Marx in seinen jungen Jahren ein begeisterter Hegelianer. Dann stellte er Hegel auf den Kopf und ersetzte Hegels Idealismus durch einen kompromisslosen Materialismus. Nicht Ideen trieben die Dialektik des sozialen Lebens an, sondern materielle Interessen. Marx fand zu dieser Position, als er dreißig war, und veränderte danach außer Verästelungen von Details nichts Wesentliches mehr an ihr. Den Rest seines Lebens verbrachte er mit politischen Aktivitäten und dem vergeblichen Bemühen, sein System auszuarbeiten und dessen oft widersprüchliche Teile miteinander zu versöhnen. Er ging jedoch nie von seiner ursprünglichen Position ab, dass die Evolution des Menschengeschlechts ein gewaltiger und in hohem Maße einheitlicher Prozess sei, in dem Abfolgen von Produktionsregimen Abfolgen von Klassenverhältnissen hervorbrachten, die unweigerlich in gut Hegel’scher Manier ihre eigenen Antithesen und Synthesen erzeugten. Marx glaubte fest daran, dass die Gegenwart durch die Vergangenheit determiniert ist; er neigte dazu, sich über unvorhergesehene Ereignisse wie den populistischen Sieg Louis Napoleons zu ärgern. Dass er solche offensichtlichen Widersprüche mit kompromissloser Brillanz in Schützenhilfe für seine Theorie umzuwandeln wusste, verbirgt die Tatsache nicht, dass ihre bloße Existenz diese Theorie grundsätzlich infrage stellte.

Kaum überraschend verstehen wir den Historizismus üblicherweise historisch, als Reaktion auf vorangegangene Ereignisse. Die Aufklärung hatte an einen allgemeinen Menschen geglaubt, der in allgemeiner fortschrittlicher Entwicklung der Zukunft entgegenstrebte. Die Französische Revolution beherzigte diese Überzeugung und vernichtete relativ erbarmungslos weite Teile der französischen Vergangenheit. Zusammen verleiteten Aufklärung und Revolution die Franzosen anschließend dazu, den Großteil Europas mit dem selbstwidersprüchlichen Ziel seiner zwangsweisen Befreiung zu erobern und zu kolonisieren. Diese Unternehmung überschattete Marx’ Jugend und führte dazu, dass sich der deutsche Nationalismus zwangsläufig mit den verschiedenen Gegenparteien der Aufklärung identifizierte. Der Historizismus erwuchs somit zum Teil aus deutschen Auffassungen von nationaler Einheit und Identität, auf einer Linie, die von Herder zu Hegel und letztlich zu Meinecke führt. Er ging darüber hinaus aus der deutschen Romantik in ihrem Gegensatz zur französischen Klassik hervor, auf einer Linie vom frühen Goethe bis zum Wagner des Rings. Und er speiste sich aus dem Übergang vom Rationalismus zu Hermeneutik und »Verstehen«, auf einer Linie, die von Schleiermacher zu Dilthey und Weber reicht. Zweifellos war der Historizismus keine rein deutsche Bewegung. Die Franzosen hatten Michelet und Halévy; in Großbritannien wiederum gab es zwar nicht unbedingt Historizisten, so doch Progressivisten wie Spencer und Buckle. Spencers Fortschrittglaube ist allerdings weit von Herders und Hegels Vorstellung entfernt, ein Volk verfüge über einen angeborenen Geist, der sich verwirklicht und danach wieder verfällt. Die maßgebliche Fassung des Historizismus war die deutsche.

Auf den allgemeinsten Nenner gebracht behauptet der Historizismus, die Gegenwart sei am besten als Resultat eines langen Prozesses zu verstehen, dessen Gesetze und Regelmäßigkeiten sich durch gründliche Untersuchungen aufdecken ließen. Wir können dieses Argument analysieren, indem wir vier seiner entscheidenden Aspekte prüfen: seine Vorstellungen von Ontologie, Partikularität, Kausalität und Zeitlichkeit.

Erstens besteht die Ontologie der sozialen Welt für Historizisten aus Individuen, die sich im Laufe ihres Lebens selbst verwirklichen, wobei sie einem Ideal der Bildung* folgen, das der negativen Allgemeinheit des aufgeklärten Individuums die positive, partikulare Individualität der Romantiker verleiht. Diese in der Entwicklung begriffenen Individuen sind Angehörige größerer Einheiten, der Völker*. Solche größeren Einheiten werden als komplexe Ansammlungen unterschiedlicher, von einer gemeinsamen Kultur zusammengehaltener Gruppen betrachtet. Wie Individuen entwickeln auch sie sich im Lauf der Zeit nach irgendeiner inneren Logik, die mehr oder weniger analog zur Bildung der Individuen ist. Diese innere Logik bewirkt einen langfristigen Aufstieg und Niedergang, eine aristotelische Entelechie, die für jedes Volk anders ausfällt.

Zweitens ist die Partikularität der Historizisten eine Art lokale Allgemeinheit, die für alle Angehörigen eines Volks oder einer Kultur und, auf individueller Ebene, für alle Handlungen eines besonderen Individuums charakteristisch ist, wie vielfältig sie auch sein mögen. Ein Volk ist in einer »für dieses Volk allgemeinen« Weise besonders, so wie ein Individuum in einer »für es allgemeinen Weise« besonders ist. Eine solche Partikularität wird nicht durch Komplexitätssteigerung aus einer leeren Hülse heraus konstruiert – indem man etwa ein universelles, aber inhaltsloses Individuum der Aufklärung um die Dimensionen des sozialen Geschlechts, des Alters oder der ethnischen Zugehörigkeit ergänzt. Sie ist vielmehr der Naturzustand von Individuen wie von Völkern; diese sind komplexe Besondere. Sie können im Zuge der Analyse vereinfacht werden, doch ist die Vereinfachung nicht einfach nur das Gegenteil des additiven Umgangs mit Besonderheit, der beispielsweise unserem statistischen Denken implizit ist.

Drittens setzen Historizisten eine teleologische Kausalität voraus. Individuen und gesellschaftliche Gruppen folgen einer inneren Entwicklungslogik. Sie werden etwas, was ihnen bis zu einem gewissen Grad bereits innewohnt. Historiker waren unterschiedlicher Meinung darüber, wie viel von dieser Entelechie »von Anfang an gegeben« war. Doch ist diese innere Triebkraft immer präsent. Wie gesagt, fand diese determinierte Kausalität eine lose – von Autor zu Autor variierende – Parallele auf individueller Ebene. Mit Verweis auf den exemplarischen Fall Goethes behauptete Meinecke, die individuelle Entwicklung könne der Evolution des Ganzen auch zuwiderlaufen. Andere Autoren sahen die individuelle Entwicklung anders. Am Ende wurde Marx zum einflussreichsten Historizisten, der auch am ungnädigsten mit dem Individuum verfuhr. Seine Akteure sind soziale Entitäten und Typen von Individuen. Zwar war Marx ein zu aufrichtiger Historiker, um die Handlungsmacht einzelner Individuen nicht anzuerkennen, wenn er sie sah – und er sah sie oft –, doch erklärte er sie mittels verschiedener nachträglicher Anpassungen seiner Theorie kurzerhand weg.

Der vierte Aspekt – die Temporalität – ist es letztlich, der den Kern des Historizismus bildet. Für Historizisten ist die Gegenwart grundsätzlich ein Ausfluss der Vergangenheit und der inneren Triebkraft, durch die jene Vergangenheit die Gegenwart hervorgebracht hat. Dies bedeutet, dass der Historizismus im weitesten Sinne stark narrativ geprägt gewesen ist. Listen von Ereignissen und dem Herunterdeklamieren von Fakten hat er sich stets verweigert. Und er hat die Vergangenheit hierarchisiert, indem er großen Dingen, wie Weltreichen oder Produktionsweisen, höheren Wert beigemessen hat als kleinen Dingen, wie bestimmten Individuen und zeitweiligen Preisschwankungen. Die großen Dinge prägen die Geschichte wie die Geschichtserzählung.

Dies also ist der Historizismus. Er ist eine tiefsinnige und überzeugende Vision, deren Stärken und Schwächen wir ernsthaft abwägen müssen.

Zunächst die Stärken. Ontologisch verfügt der Historizismus über große Stärken. Er geht von einem komplexen Individuum aus, das eine Biografie hat und sich im Lauf der Zeit substanziell verändert. Dasselbe gilt für die größeren Gebilde – Nationen und Klassen –, die im Mittelpunkt des frühen Historizismus standen, sowie für die vielen anderen Kategorien – soziale Geschlechter, Generationen, Ethnien, Sekten und so weiter –, die den Gegenstand oder öfter eigentlich die Schöpfungen der jüngeren historizistischen Forschung bildeten. Der Historizismus beschäftigt sich mit einer realen Welt, und er belässt diese reale Welt in ihren realen Einheiten, anders als es die Ökonomen tun, die wir uns gleich anschauen werden.

Auch sein Partikularismus war eine Stärke des Historizismus, denn der Historizismus nimmt besondere Eigenschaften ernst; sie sind ihm mehr als bloße Attribute ansonsten inhaltsleerer Einheiten. Er analysiert komplexe Akteure und wahrt ihre Komplexität. Seine Vorstellung von Einheiten als komplexen Besonderheiten scheint empirisch realer als die additive Vorstellung von Partikularität, die die Ökonomen pflegen. Zu guter Letzt war es auch eine Stärke des Historizismus, dass er die Zeit ernstgenommen hat. Damit konnte er einflussreiche Beschreibungen...

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