Arbeit erfüllt neben der materiellen Existenzsicherung für den Beschäftigten weitere psychosoziale Funktionen wie Entwicklung von Qualifikationen und kooperativer Fähigkeiten in einem sozialen Kontaktfeld, Zeitstrukturierung, soziale Anerkennung und persönliche Identität.[37] Sie hat ein hohes salutogenes Potenzial.[38] Belastungen am Arbeitsplatz bedingen Anregungen, Lerneffekte, Abwechslung und ermöglichen eine persönliche Weiterentwicklung und sind in diesem Sinne erwünscht. Als gesundheitsförderliche Arbeit wird Arbeit verstanden, die verschiedene Arten von Denkprozessen erfordert und die Möglichkeit bietet, die eigene Arbeit zu organisieren und zu kontrollieren.[39]
Veränderungen in der Arbeitswelt haben dazu geführt, dass körperliche Belastungen weniger werden, dafür aber psychische Belastungen zunehmend wahrzunehmen sind. Hat der MA mit diesen körperlichen und/oder psychischen Belastungen Schwierigkeiten, kann er sie nicht vollständig kontrollieren, fühlt er sich "überfordert", "fehlbeansprucht" oder "gestresst".[40] Stress entsteht also immer dann bei einer Person, wenn diese sich bis an die Grenze der eigenen Möglichkeit, bzw. darüber hinaus, gefordert sieht und die Situation als Bedrohung für das eigene Wohlbefinden empfindet.[41] Zusätzlich zu den Belastungen am Arbeitsplatz (Arbeitssituation) sind die individuellen persönlichen Ressourcen zur Bewältigung der Belastungen zu berücksichtigen. So kann die gleiche Beanspruchung, z. B. Arbeitsvielfalt, als anregend oder als stressend angesehen werden.[42] 2005 haben 22 Experten auf Befragung zu einem Zusammenhang zwischen dem Wandel der Arbeitswelt und einer Zunahme psychischer Erkrankungen einen umfassenden "Strauß" von relevanten arbeits- und ressourcenbedingten Einflussgrößen benannt.[43] Sie umfassen "überhöhte Anforderungen" (z. B. verstärkte Emotionsarbeit), "geringe soziale Unterstützung" (z. B. soziale Krisen), "geringe Beeinflussbarkeit" wie fehlender Handlungs- und Entscheidungsspielraum, "geringe Bedeutsamkeit" (z. B. Monotonie), "geringe Berechenbarkeit" (z. B. Versagensängste) und "geringe Belohnung" wie Missverhältnis von Engagement und Gratifikation. Hinzu kommen Kombinationen aus steigenden Belastungen und dem Wegfall von Ressourcen. Die vollständige Liste ist in Anlage A, Tabelle 18, auf den Seiten 111/112 aufgeführt.
Belastungen und individuelle Ressourcen sind notwendig und hinreichend, um eine Stresssituation zu beschreiben und bilden den Kern aller Theorien zum Berufsstress ("core-relationship").[44] Darin sind sowohl objektive Bedingungen als auch subjektiv empfundene Einschätzungen der Arbeitssituation einbezogen. Es ist aber zusätzlich auch die Art und Weise, wie der Einzelne mit Stress umgeht, zu beachten. Für diese Versuche der Stressbewältigung hat sich der Begriff "Coping" (bewältigen, überwinden) durchgesetzt.[45] Die wichtigsten Coping-Arten sind die problembezogenen (z. B. Aussprache mit Konfliktbeteiligten) und die emotionsbezogenen (Entspannung, Konsumverhalten). Unter "psychische Belastung" werden also alle Einflüsse erfasst, die von außen auf den Menschen einwirken. Dagegen wird als "psychische Beanspruchung" die individuelle Auswirkung der psychischen Belastung, in Abhängigkeit der vorhandenen Bewältigungsvoraussetzungen dieser Belastungen, auf den Menschen verstanden.[46]
Neben den Belastungen des Arbeitsplatzes (Unternehmen) und den individuellen Stressreaktionen (Mitarbeiter) sind Belastungen zu berücksichtigen, die sich aus dem Umfeld (Gesellschaft) ergeben. Unter diesen überbetrieblichen Rahmenbedingungen werden z. B. die Globalisierung oder die allgemeine Wirtschaftslage eingeordnet. Daraus ergibt sich das "Dreiebenenmodell" psychischer Belastungen im Berufsleben[47], welches in Abbildung 1 dargestellt ist.
Abbildung 1 - Dreiebenenmodell psychischer Belastungen im Beruf[48]
Für den Übergang der Effekte durch Arbeit auf die arbeitsfreie Zeit gibt es unterschiedliche Theorien.[49] Einerseits wird u. a. das Generalisationsmodell angeführt, nach dem positive und negative Erfahrungen in einem Bereich auf den anderen Bereich übertragen werden. Das Kompensationsmodell beschreibt, dass Defizite in einem Bereich im jeweils anderen Bereich ausgeglichen werden. Weitere Modelle sind das Unabhängigkeitsmodell (kein Einfluss der Erfahrungen eines Bereiches auf den anderen) und das Kongruenzmodell (ähnliche Erfahrungen in Arbeit und Freizeit führen zu gleichen Verhaltensweisen). Diese Theorien spielen in der in dieser Arbeit durchgeführten Befragung, mit Ausnahme des "Work-Privacy Conflicts", nur einer untergeordnete Rolle und werden darum auch nicht weiter ausgeführt.
Herkömmlich gebräuchliche Stressbegriffe zielen eher auf Belastungen und Beanspruchungen ab und werden in dieser Arbeit nicht verwandt:
Eustress = positiver Stress (Belastung), spornt zur Leistungsfähigkeit an (eu = griechisch für wohl, gut)
Distress, Dysstress = negativer Stress (Beanspruchung), schränkt Leistungsfähigkeit ein (dys = griechisch für schlecht)
Belastung und Beanspruchung sind erst einmal neutral. Von krankheitsrelevantem Stress kann gesprochen werden, wenn Belastungen und Beanspruchungen negativ erlebt werden (Stressoren). Dazu gibt es in der Literatur vielfältige Definitionen und Modelle. Beispielhaft seien hier das "Transaktionale Stressmodell" von Lazarus[50], die "Theorie der Ressourcenerhaltung" von Hobfoll[51], die in Kapitel 2.2 dargestellten arbeitsbedingten Modelle von Karasek und Siegrist, der Stressbegriff von Udris[52] und der Stressdefinition nach der DIN EN ISO 10075 genannt. In dieser Arbeit wird Stress und Stressoren wie folgt definiert:
"Stress ist ein subjektiv intensiv unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung entsteht, dass eine stark aversive, subjektiv zeitlich nahe (oder bereits eingetretene) und subjektiv lang andauernde Situation sehr wahrscheinlich nicht vollständig kontrollierbar ist, deren Vermeidung aber subjektiv wichtig erscheint. (...) Stressoren sind hypothetische Faktoren, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit 'Stress' (oder 'Stressempfindungen') auslösen."[53]
Zusammenfassend sind mit Stress negative Folgen aus Beanspruchungen und Belastungen gemeint, die sich als Umgebungseinflüsse, Tätigkeitsanforderungen, soziale Einflüsse und Dauer/Intensität der Tätigkeit darstellen und die nicht durch persönliche Ressourcen des MA (Qualifikation, Eignung, Gesundheit, Motivation usw.) kompensiert werden können.[54] Stressoren sind somit Faktoren, die in einer Population das Risiko für Stress erhöhen.[55] Verschiedene Bezeichnungen für Belastungen und Stress, bezogen auf die Umwelt und die Person, sind beispielhaft in nachfolgender Tabelle 3 zusammengefasst (nach Udris; Frese):
Tabelle 3 - Abgrenzung Stress hinsichtlich Umwelt und Person[56]
Folgen von Stress können physiologisch oder psychisch sowohl kurzfristiger als auch langfristiger Natur sein und auch chronische Formen annehmen. Eine Klassifikation stammt von Kaufmann; Pornschlegel; Udris aus dem Jahr 1982, die in Abbildung 2 dargestellt ist.
Abbildung 2 - Klassifikation möglicher Stressfolgen[57]
Von den Möglichkeiten, Stressfaktoren in der Arbeit zu gruppieren, wird hier ein allgemeines Modell dargestellt (Abbildung 3). Danach können Stressoren in den Bereichen "materiell-technisches System" (= A; z. B. Lärm), "soziales System"(= B; z. B. Konflikte) und "personales System" (= C; z. B. Angst) entstehen.[58] Die Systeme stehen aber nicht allein, sondern sie überschneiden sich. Aus der Überschneidung "AB" sind Phänomene wie soziale Isolation möglich. Beispielhaft seien allein arbeitende Raumpflegerinnen genannt. Aus der Überschneidung "BC" können sich Rollen und somit Rollenkonflikte ergeben. Durch den Schnittpunkt "AC" können aufgabenbedingte Über- bzw. Unterforderungen auftreten.[59]
Abbildung 3 - Quellen von Stressoren in der Arbeit[60]
Entscheidend aber ist die Gesamtkonstellation aller Belastungsfaktoren. In der Fachliteratur sind nur sehr vereinzelt Aussagen darüber vorhanden, ob sich die auf eine Person einwirkenden Faktoren additiv verhalten oder ob sich vorhandene Stressoren durch das Hinzufügen weiterer Stressoren "anders" auswirken, was die derzeit herrschende Auffassung widerspiegelt.[61] Mögliche Stressoren hat Biener auf beruflicher und privater Ebene beispielhaft...