Betrieblicher Gesundheitsschutz und untemehmensbezogene Arbeitssicherheit gehen auf die Gründung der Berufsgenossenschaften und der Gewerbeaufsicht im 19. Jahrhundert zurück. Seit dieser Zeit wurde das Arbeitsschutzrecht stetig fortentwickelt und durch Gesetze, Verordnungen und Vorschriften umgesetzt.[86] Der Gesetzespyramide in Abbildung 4 ist zu entnehmen, dass sich alle Vorschriften am EU-Recht orientieren. In Bezug auf die Basis werden sie konkreter und verbindlicher.
Abb. 4: Gesetzespyramide
Quelle: In Anlehnung an Mierke/Poppelreuter (2012), S. 161.
Insgesamt existieren zahlreiche Vorschriften: „Psychische Belastungen reichen von der EG-Rahmenrichtlinie über das novellierte Arbeitsschutzgesetz, verschiedene Verordnungen, wie zum Beispiel die Betriebssicherheitsverordnung, technische Regeln bis hin zu einer Vielzahl von DIN-Normen und Berufsgenossenschaftlichen Schriften.“ [87] Beispiele bzgl. genereller Aussagen des Regelwerkes zu psychischen Belastungen zeigt die Anlage 9 im Anhang auf. [88]
Psychische Belastungen haben in den letzten zwanzig Jahren vermehrt an Bedeutung im Arbeitsschutzhandeln gewonnen. Bereits im August 1996 veranlasste die Bundesregierung gegenüber den Berufsgenossenschaften durch das SGB VII (§§1, 14SGBVII) einen erweiterten Präventionsauftrag zur Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren. Diese sehen u. a. die Abwendung psychischer Fehlbelastungen vor. [89]
Im Oktober2013 wurde das Gesetz zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze verabschiedet. [90] Das BUK-NOG wirkte sich u. a. auch auf das Arbeitsschutzgesetz (siehe Pkt. 4.1) aus und enthält seit der Gesetzesanpassung explizit die Berücksichtigung psychischer Belastungen. „Zentraler Ausgangspunkt für jede am Gesetz orientierte Gefährdungsbeurteilung ist insbesondere § 5 ArbSchG und die europaweit gültige Norm DIN EN ISO 10075, die für alle im Arbeitsschutz Handelnden verbindlich definiert, was unter psychischen Arbeitsbelastungen zu verstehen ist.“[91]
Insgesamt wird die Thematik der psychischen Belastungen und Beanspruchungen auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD explizit in dem Kapitel „Ganzheitlicher Arbeitsschutz“ berücksichtigt. [92]
Ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsrechts ist der Arbeitsschutz. „Er umfasst nach heutigem Verständnis alle rechtlichen, organisatorischen, technischen und medizinischen Maßnahmen, die getroffen werden müssen, um die körperliche und psychische Unversehrtheit und bestimmte Persönlichkeitsrechte der in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers eingegliederten Beschäftigten zu schützen.“ [93]
Mit dem Arbeitsschutzgesetz von 1996 wurde in Deutschland der aus dem europäischen Recht resultierende Arbeitsschutzgedanke auf Grundlage der Gesundheitsdefinition der WHO umgesetzt. Das Arbeitsschutzgesetz hat ebenso abwehrenden wie gestaltenden Charakter. Zum einen widmet es sich der präventiven Verhütung von Gefährdungen und zum anderen der Schaffung von menschengerechten Arbeitsplätzen, -abläufen sowie -umgebungen.[94] Der Arbeitgeber ist gem. §§2,4ArbSchG dazu verpflichtet entsprechende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und -erhaltung für seine Mitarbeiter zu ergreifen. Zur Realisierung des Arbeitsschutzauftrags ist eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren (Gefährdungsbeurteilung) zu erstellen (§ 5 ArbSchG).
Durch die Änderung des Arbeitsschutzgesetzes im Jahr2013 führen die §§4 und 5 explizit die psychische Belastung bei der Arbeit mit auf. Auf dessen Grundlage ist nun unmissverständlich festgelegt, dass psychische Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung (§ 5 ArbSchG) zu berücksichtigen sind. Bisher wurde dies unter dem ganzheitlichen Arbeitsschutzgedanken im Zusammenhang mit arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren subsummiert, war jedoch nicht eindeutig niedergeschrieben und blieb daher in der Praxis eher unberücksichtigt.[95] Laut einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung haben im Jahr2012 lediglich 20Prozent der betriebsrätlich mitbestimmten Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung unter Einbeziehung der psychischen Belastungen vollzogen.[96] Eine Gefährdungsbeurteilung ist in allen Unternehmen, unbeachtet ihrer Größe und ihrem Zweck, durchzuführen und sieht die Ermittlung und Beurteilung von Gefährdungen sowie die Ableitung erforderlicher Maßnahmen vor. Sie ist je nach Art der Tätigkeit vorzunehmen und kann bei gleichartigen Bedingungen anhand eines Arbeitsplatzes bzw. einer Tätigkeit erfolgen (§ 5 ArbSchG). [97] „Die Einschätzung von Gleichartigkeit bezieht sich bei psychischer Belastung nicht nur auf die Anforderungen, die unmittelbar mit der Ausführung der Tätigkeit zusammenhängen, sondern ebenso auf übergreifende organisatorische und technische Bedingungen im Arbeits- oder Organisationsbereich.“ [98] Abschließend ist der gesamte Prozess der Gefährdungsbeurteilung zu dokumentieren (§ 6 ArbSchG).
Anfang der siebziger Jahre begann die Entwicklung für eine Norm zur psychischen Belastung und Beanspruchung. Sie wurde Mitte der achtziger Jahre abgeschlossen (DIN 33405). Ihr folgte auf internationaler Ebene seit 1981 die ISO 10075. Die Verabschiedung als internationale Norm fand im Jahr 1991 statt (EN ISO 10075). Die Überführung in die deutsche Normung erfolgte seit dem Jahr 2000 (DIN EN ISO 10075).[99]
Die DIN-Norm „Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastungen“ (DIN EN ISO 10075) dient in der Praxis als einheitliche Verständigungsgrundlage sowie zur Vermittlung von Gestaltungsgrundsätzen und besteht aus drei Teilen:[100]
1. Allgemeines und Begriffe
2. Gestaltungsgrundsätze
3. Grundsätze und Anforderungen an Verfahren zur Messung und Erfassung psychischer Arbeitsbelastung
Neben Definitionen und „allgemeinen Hinweisen zur Gestaltung der Intensität und Dauer der Arbeitsbelastung enthält die Norm 35 Leitsätze in Bezug auf die Ermüdung, 11 bezüglich der Monotonie, 7 Gestaltungsziele hinsichtlich der herabgesetzten Wachsamkeit und 10 Vorschläge zurVermeidung von psychischer Sättigung.“[101]
Normen gelten als Empfehlung, erlangen jedoch durch die Anerkennung bei Gerichtsverfahren eine rechtliche Bedeutung. Das Gesetz sieht bei der Gefahrdungsbeurteilung die Beachtung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse aus Hygiene, Arbeitsmedizin und Technik vor (§ 4 ArbSchG). Daher sind auch die DIN-Normen zu berücksichtigen. [102]
Rechte und Pflichten der im Prozess der Gefahrdungsbeurteilung integrierten Personen ergeben sich aus den Rechtsvorschriften des Bundes und der Länder sowie der Unfallversicherungsträger. Grundsätzlich obliegt dem Arbeitgeber im Rahmen seiner Fürsorgepflicht (§618 BGB) die Verantwortung zur Planung und Durchführung der Gefahrdungsbeurteilung. [103] Welche einzelnen Pflichten sich für diese Vorgesetzten aufgrund des Arbeitsschutzgesetzes ergeben, ist der nachfolgenden Abbildung 5 zu entnehmen.
Abb. 5: Pflichten des Arbeitgebers im Arbeitsschutzgesetz
Quelle: Entnommen aus Geray/Satzer (2008), S. 14.
Der Arbeitgeber ist gem. §13 Abs. 2 ArbSchG nicht verpflichtet, die Gefährdungsbeurteilung selbstständig durchzuführen, sondern kann dies an qualifizierte Personen, wie z. Β. Betriebsärzte oder fachkundige externe Dienstleister, delegieren. Die Beschäftigten haben einen materiellrechtlichen Anspruch auf eine Gefährdungsbeurteilung (§ 5 Abs. 1 ArbSchG i. V. m. §618 Abs. 1 Satz 1 BGB), jedoch keinen Einfluss auf die Art und Weise der Durchführung. [104]
Sofern im Unternehmen ein Betriebs- bzw. Personalrat vorhanden ist, hat dieser Mitbestimmungsrechte bei der Organisation und Durchführung der Gefahrdungsbeurteilung. Er kann Voraussetzungen für die mit der Beurteilung beauftragten Personen festlegen sowie über die Verfahrensweise mit entscheiden. Des Weiteren ermöglicht ihm das Initiativrecht (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG), den Arbeitgeber zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung zu veranlassen.[105]
Die Mitarbeiter im Unternehmen sind verpflichtet, den Arbeitgeber sowie den mit der Gefahrdungsbeurteilung beauftragten Personen bei der Erfüllung ihrer Arbeitsschutzaufgaben zu unterstützen (§16 Abs. 2 ArbSchG). Abgeleitete Handlungsempfehlungen aufgrund der Gefährdungsbeurteilung zur Verbesserung bestimmter Situationen, wie z. B. der Arbeitsaufgabengestaltung und -Verteilung, sind „ohne die Akzeptanz und aktive Mitwirkung der Beschäftigten, aber auch der Führungskräfte, kaum nachhaltig wirksam gestaltbar.“[106] Aus diesem Grund tragen die Mitarbeiter erheblich zum Erfolg bei.
Die Fachkraft für Arbeitssicherheit, der Betriebsarzt sowie...