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E-Book

Psychische Störungen und Suchterkrankungen

Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl278 Seiten
ISBN9783170350526
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
This book provides a systematic and comprehensive discussion of the comorbidities that commonly occur when addictive diseases are associated with other psychological disturbances. The special aspects involved in the combined occurrence and specific treatment procedures in accordance with recent evidence-based research results are presented from the points of view of psychiatry and psychotherapy, as well as from the viewpoint of addiction therapy. It is essential to take a precise patient history, including the temporal sequence in which the various symptoms and problems appeared. This is the prerequisite for a correct diagnosis and forms the basis of treatment planning. The book offers practical solutions for the frequent problems of diagnosis and treatment of ?double diagnoses= and ways of dealing with patients who are often experienced as challenging in everyday clinical practice. This second edition has been fully updated, with two new chapters added on the important topics of diagnosis/classification and drug dependency.

Prof. Marc Walter, Chief Physician and Deputy Director, University Psychiatric Clinics (UPK) Basel, University of Basel. Prof. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Chief Physician and Medical Director of the LVR (Rhineland Regional Authority ) Hospital in Cologne and Director of the LVR Institute for Health Services Research.

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Leseprobe

 

2          Theoretische Modelle zur Komorbidität psychischer Störungen und Sucht


Franz Moggi


2.1       Einleitung


Während in der Literatur eine Fülle mehr oder weniger empirisch fundierter Theorien zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Störungen durch Substanzkonsum und von psychischen Störungen vorliegen, gibt es trotz knapp dreißigjähriger Forschung dazu erst einige empirisch fundierte Ätiologiemodelle zu Doppeldiagnosen (DD), worunter die Komorbidität psychischer Störung und Sucht verstanden wird. Alle Störungsmodelle zu DD sind Konzepte, die beschreiben, ob und – falls ja – wie eine Störung A mit einer zweiten Störung B in einer direkt kausalen (uni- oder bidirektionale Kausalität) Beziehung steht, ob beide Störungen auf einen oder mehrere gemeinsame Faktoren zurückgeführt werden können oder ob es sich um eine einzige Störung (Entitätsmodell) handelt. Bei unidirektionalen Kausalmodellen wird meistens von primärer Störung und sekundärer Störung gesprochen, um mindestens eine zeitliche wenn nicht kausale Beziehung zwischen den beiden Störungen auszudrücken.

Abb. 2.1: Drei Typen von Komorbiditätsmodellen bei Doppeldiagnosen (modifiziert nach Moggi 2007, S. 84, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Diese Übersicht wird in Anlehnung an diese drei Modelltypen von Komorbidität aufgebaut, wobei aus Platzgründen nur diejenigen Modelle vorgestellt werden, die genügend empirische Grundlagen aufweisen. Nach den Modellen gemeinsamer Faktoren sind hohe Komorbiditätsraten das Ergebnis von Risikofaktoren, die von der psychischen Störung und der Störung durch Substanzkonsum (SSK) geteilt werden (z. B. genetische Belastung). Modelle sekundärer SSK schlagen vor, dass die psychische Störung (PS) die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine SSK zu entwickeln. Modelle sekundärer psychischer Erkrankungen besagen das Gegenteil. Bidirektionale Modelle stellen die Hypothese auf, dass beide Störungen die Vulnerabilität für die jeweils andere Störung erhöhen. Im klinischen Alltag wird am häufigsten die sogenannte Selbstmedikationshypothese als Erklärungsmodell herangezogen, wonach Patienten primär unter einer psychischen Störung leiden, woraufhin sie zur Bewältigung der psychischen Symptome derart Suchtmittel konsumieren, dass sie mit der Zeit eine sekundäre SSK entwickeln (Khantzian 1997). In der Forschung werden aber weit mehr Modelle untersucht und diskutiert. Auf Störungen ohne Substanzbezug bzw. abhängige Verhaltensweisen wie Glückspiel wird in diesem Kapitel nicht eingegangen.

2.2       Modelle von spezifischen Komorbiditäten


Die Komorbiditätsmodelle sind mit verschiedenen Forschungsansätzen untersucht worden, wobei deren Ergebnisse sich nicht immer ergänzen, sondern auch widersprechen. Wichtige Beiträge lieferten Familien- und Vererbungsstudien, experimentelle Laborstudien, aber auch epidemiologische und klinische Quer- und Längsschnittstudien, auf die in diesem Kapitel aus Platzgründen zwar nur zusammenfassend aber zu den spezifischen Komorbiditäten doch im Sinne einer Übersicht eingegangen wird. In den letzten Jahren scheinen jedoch weniger Forschungsergebnisse zu Ätiologiemodellen publiziert worden zu sein.

2.2.1     Schizophrenie und Sucht


Epidemiologische Studien mit repräsentativen Bevölkerungsstichproben zeigen signifikante Zusammenhänge zwischen Schizophrenie und SSK. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 47 % und das Risiko, bei einer Schizophrenie irgendwann auch unter einer SSK zu leiden bzw. umgekehrt bei einer SSK unter einer Schizophrenie zu leiden, liegt bei 4,6 % (Regier et al. 1990). Ätiologiemodelle zur Komorbidität von Psychose bzw. Schizophrenie und Sucht sind zahlreich und in der Komorbiditätsforschung am häufigsten untersucht. Es wurden Modelle aus allen drei Modelltypen, also unidirektionale und bidirektionale Modelle sowie Modelle gemeinsamer Faktoren formuliert.

Lange Zeit war die Selbstmedikationshypothese das vorherrschende Ätiologiemodell zur sekundären SSK (Khantzian 1997). Der Suchtmittelkonsum wird dabei als gezielt symptomspezifische, dysfunktionale Bewältigung der Schizophrenie angesehen (z. B. Beruhigungsmittel gegen Halluzinationen, Anspannung und Angstzustände). Die Selbstmedikationshypothese fand allerdings wenig empirische Unterstützung (Mueser, Brunette & Drake 2007). Abgelöst wurde es durch die sogenannten Affektregulationsmodelle, wonach Personen mit psychischen Störungen ihre negativen Emotionen im Sinne einer generalisierten und maladaptiven Bewältigungsstrategie wiederkehrend mit Suchtmitteln positiv zu verändern versuchen, sodass die Entwicklung einer SSK begünstigt wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob die unerwünschten emotionalen Zustände Symptome einer psychischen Störung sind oder durch andere Bedingungen wie bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Neurotizismus, Impulsivität), psychosozialen Stress, Ressourcen- und Copingdefizite oder durch substanzbedingte Entzugserscheinungen zustande kommen (Blanchard et al. 2000). Die Social-Drift-Hypothese wiederum geht davon aus, dass sich Personen mit einer Schizophrenie zunehmend in sozialen Randgruppen aufhalten, in deren Lebensraum Alkohol- und Drogenkonsum alltäglich und ein integrierendes Element darstellt.

Aus der Vielzahl der vorgeschlagenen Ätiologiemodelle zur primären Psychose bzw. sekundären SSK findet jedoch das Sensitivitätsmodell einige empirische Bestätigung (Mueser et al. 2007). Dieses Modell geht aus den Vulnerabilitäts-Stress-Modellen hervor. Danach interagiert eine psychobiologische Vulnerabilität für Psychose, die aus einer Kombination genetischer Faktoren und früher Umweltereignisse (z. B. Trauma während des Geburtsvorgangs) entstanden ist, so mit Belastungsfaktoren der persönlichen Umwelt, dass eine Psychose ausgelöst werden kann. Das Modell setzt keine SSK als Störung, sondern nur das Vorhandensein einer Vulnerabilität für eine Psychose voraus. Dem Suchtmittel wird dabei die Funktion eines Stressors zugewiesen. Diese biologische Sensitivität kann bei Personen mit Vulnerabilität für Schizophrenie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, bereits bei relativ kleinen Suchtmittelmengen psychotische Symptome bis hin zur floriden Psychose zu erleben und mit der Zeit sekundär eine Substanzstörung zu entwickeln.

Die Modelle sekundärer Psychose dagegen stellen die Wirkungen von Cannabis, Halluzinogenen und Stimulanzien, deren unmittelbare Wirkungen Ähnlichkeiten mit floriden Psychosen aufweisen, ins Zentrum. In prospektiv-epidemiologischen Studien haben sich die Hinweise verdichtet, dass insbesondere Cannabiskonsum in der Ätiologie psychotischer Erkrankungen eine wichtige Rolle zu spielen scheint (Gage et al. 2016). Es wurde nicht nur ein Dosis-, sondern auch ein Alterseffekt gefunden. Bei Personen mit frühem Beginn (Jugendalter) und starkem Cannabiskonsum bricht eine Psychose eher bzw. früher aus als bei Personen ohne bzw. mit geringem Cannabiskonsum mit Beginn im Erwachsenenalter. Dabei wird angenommen, dass Cannabis, insbesondere dessen aktiver Bestandteil Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC), mit einer bestehenden Vulnerabilität für eine Psychose mit negativer Wirkung interagiert, während Cannabidiol (CBD) eher positive Wirkung auf eine Psychose entfaltet (Murray et al. 2017). Mit dieser Annahme wird allerdings die Abgrenzung zum Sensitivitätsmodell unscharf, so dass letztlich nicht von einer sekundären Psychose gesprochen werden kann. In einer jüngst erschienenen, methodisch ausgezeichneten Übersichtsarbeit kommen Hoch und Mitautoren jedoch zum Schluss, dass die kausale Bedeutung von Cannabiskonsum für die Entstehung psychotischer Störungen bislang nicht als geklärt betrachtet werden kann (Hoch et al. 2019).

Der letzte Modelltyp sind die Gemeinsame-Faktoren-Modelle, wonach auf der Grundlage epidemiologischer, genetischer und neurobiologischer Befunde die Annahme vertreten wird, dass bei Personen mit Psychose eine gemeinsame Vulnerabilität für Substanzkonsumstörungen vorliege. Im Modell der primären Abhängigkeitserkrankung wird angenommen, dass für Schizophrenie bekannte genetische Risikofaktoren (z. B. Störungen des Catecholaminmetabolismus) oder frühkindliche Traumata (z. B. ventral-hippocampaler Insult) zu Dysfunktionen im mesocorticolimbischen Belohnungssystem im Sinne eines gestörten...

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