Ergebnisse auf dem Gebiet der neurobiologischen Forschung, der Verhaltensforschung, der Kognitionsforschung, der psychoanalytischen Forschung und der Familienforschung führen zu unterschiedlichen Ätiologieannahmen, die ihrerseits eine differenziertere Diagnose erleichtern. Bei adäquater Indikationsstellung erhofft man sich dadurch verbesserte Möglichkeiten für die Therapie von Zwangsstörungen.
Im Vordergrund der Ursachenforschung zu Zwängen stehen z. Z. die neurobiologische Forschung und im Zusammenhang damit eine Betonung des kognitiven Aspekts der Zwangserkrankung. Dieser Trend hat dazu geführt, dass „die psychosozialen Ursachen der Zwangskrankheit im Allgemeinen und im Besonderen die Rolle familiärer Ursachen,“ nach Aussagen Bubenzers, bisher „weitestgehend vernachlässigt“ wurden.[50] Im 20. Jahrhundert sind bereits einige Untersuchungen auf diesem Gebiet erschienen. In Anknüpfung an die gewonnenen Erkenntnisse wird dieser Bereich jetzt mit neuen Methoden verstärkt untersucht. In die Familienforschung fließen das neurobiologische und die psychologischen Modelle ein. Eine eindeutige Ursache für Zwangserkrankungen ist noch nicht zu lokalisieren. Im Gespräch ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Bubenzer betont „ein multifaktorielles Bedingungsgefüge, in dem psychologische, soziale und biologische Faktoren eine ‚Verletzlichkeit’ des Betroffenen [...] bedingen, die in Interaktion mit kritischen Lebensereignissen zu einer manifesten Symptomentwicklung führen kann.“[51]
Zudem hat die intensive Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen (DGZ) dazu beigetragen, die „geheimnisvolle Krankheit“ verstehbarer zu machen. Bubenzer berichtet von einer „steigenden Anzahl an Artikeln in nicht-wissenschaftlichen Zeitschriften wie z. B. dem ‚Stern’ oder dem ‚Spiegel’ zu diesem Thema.“[52] Außerdem gibt es inzwischen eine Fülle von Fachliteratur, die teilweise mit einer Anleitung zur Selbsthilfe ausgestattet ist.
In dieser Fachliteratur wird bei der Zwangsstörung von Ätiologieannahmen ausgegangen, die sich sowohl auf den somatischen als auch auf den psychischen Bereich, unter Einbeziehung sozialer und kultureller Faktoren, beziehen.
Die öffentliche Anerkennung ihrer Störungen als Krankheit ermöglicht den Betroffenen die Herstellung einer gewissen Distanz zu ihren Symptomen. Ein zusätzlicher Krankheitsgewinn kann dabei nicht ausgeschlossen werden. Die Symptome können bei entsprechender Therapie verschwinden, gebessert oder gelindert werden. Eine hundertprozentige Heilung wird noch immer als ausgeprägt schwierig beurteilt. Nach Angabe von Peters verschwindet die Zwangsstörung nur in 15% der Fälle völlig, sind 45% gebessert und bleiben 40% unverändert.[53]
Familiärer Erziehungsstil und familiäres Familienklima
Erziehungspraktiken, die Halidy (1946) zum Schwerpunkt seiner Überlegungen zur anankastischen Persönlichkeit macht, stellt Mitscherlich (1963) ebenfalls in den Vordergrund seiner Überlegungen. Für ihn ist der Erziehungsstil einer autoritären Sozialgruppe verantwortlich für Zwangscharaktere und Zwangssymptome. Äußerer Zwang wird zu innerem Zwang, weil Dressate im Über-Ich „spiegelbildlich“[54] ihre Fortsetzung finden. Er spricht von der historischen Forderung, dies zu verändern und fordert eine Erziehung durch Einsicht; „die Bewältigung der sinngebenden Entscheidungen durch Ichleistungen“[55] sollte das Ziel sein. Von einer gestörten „Beziehung zur Autorität“[56] geht Knölker (1987) aus. Seiner Meinung nach hat die Zeit der antiautoritären Erziehung zutiefst verunsicherte Mütter und Väter zurückgelassen. Er vermutet daraus entstandene Schwierigkeiten in den Erziehungspraktiken und stellt so einen Zusammenhang mit der Zwangserkrankung her. Schon Laughlin (1967) hatte in „elterlicher Unsicherheit und Nachsichtigkeit“[57] einen Hauptfaktor für die Entstehung der Zwangsneurose vermutet. Den familiären Erziehungsstil betont auch Adams (1973), der konventionelle Wertevorstellungen in Familien zwanggestörter Jugendlicher als ausschlaggebenden Faktor feststellte. Auf gute Umgangsformen, konventionelle Korrektheit und Sauberkeit wurde vermehrt geachtet. Er hat beobachtet, dass in den Familien zwangskranker Kinder der Schein nach außen eine dominante Rolle spielt.[58] Ehiobuche et al (1989) konstatieren in einer Studie zu Erziehungspraktiken bei griechischen, italienischen und anglo-australischen Probanden eine hohe interpersonale Konflikthaftigkeit, die sie auf abnorme emotionale Besonderheiten in den Familien zurück führen. Die genannten Studien setzten ihren Schwerpunkt auf den Einfluss von familiärem Klima und familiären Erziehungspraktiken bei der Ausbildung von Zwangsphänomenen.[59]
Bubenzers Studie zeigt, dass ein Zusammenhang der Psychopathologie Zwangskranker mit ablehnendem, strafendem und überbehütendem Erziehungsverhalten zwar signifikant vorhanden ist, stuft diesen Zusammenhang mit der Symptombelastung jedoch als schwach ein. Statt dessen zeige sich eine Betonung von Schuld, von Verantwortung und Ängstlichkeit als vermittelndes Erziehungsverhalten in den Kindheitsfamilien Zwangsgestörter. Der Zusammenhang des letztgenannten Erziehungsverhaltens mit der psychopathologischen Symptombelastung wird von ihr hervorgehoben. Außerdem sieht sie eine Korrelation „der Aspekte Betonung von Leistung, Moral und Regeln zur Zwangssymptomatik.“[60]
Ihre Untersuchung kommt zu dem Resultat, dass „die dargestellten Ergebnisse in die Richtung von Befunden anderer Forschungsgruppen“ weisen und damit eine „wenn auch schwache pathogenetische Relevanz familiärer Faktoren,“ belegen.[61]
Reinecker geht von gehäuft neurotischen Störungen, besonders in Form von Ängsten und Zwängen, in den Familien Zwangsgestörter aus. Er vermutet, dass bei Zwangsstörungen „eine genetische Transmission“ vorliegt, die mit anderen familiären Faktoren verbunden ist.[62]
Vor dem Hintergrund des familiären Umfeldes wird inzwischen dem Beginn von Zwangserkrankungen im Kindes- und Jugendalter wieder mehr Beachtung geschenkt. Kinderpsychoanalytikerinnen hatten sich bereits in den zwanziger, dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts dazu geäußert. So hatte M. Klein (1924) in einem Referat die Zwangsneurose eines Kindes vorgestellt, die sie anschließend in Die Psychoanalyse des Kindes (1979) unter, Die Zwangsneurose eines sechsjährigen Kindes, beschreibt. A. Freud äußert in ihrem (1936) erschienenen Buch Das Ich und die Abwehrmechanismen:
„dass das kindliche Ich, von Realangst getrieben, dieselben Phobien, Zwangsneurosen, Hysterien und neurotischen Charakterzüge produziert, wie wir sie beim Erwachsenen als Folge der Über-Ich-Angst kennengelernt haben.“[63]
Knölker, der (1987) eine Studie zu Zwangserkrankungen im Kindesalter verfasste, weist darauf hin, dass erst seit den letzten 30 Jahren auf diesem Gebiet publiziert wird.[64] So sah eine frühe Studie, Kanner (1957), den Beginn von Zwangssymptomen zu 50% im Entwicklungsalter und als Ursache einen disponierenden, von einem ausgeprägten Perfektionismus bestimmten, elterlichen Erziehungsstil.[65] Auch andere Studien aus den Jahren 1957-1989 berichten von Zwangssymptomen, die in den kindlichen Entwicklungsjahren erstmalig auftraten.
Bubenzer geht davon aus, dass „die psychosozialen Ursachen der Zwangserkrankung im Allgemeinen und im Besonderen die Rolle familiärer Faktoren bisher weitestgehend vernachlässigt“ wurden. Ihrer Einschätzung nach beginnen 80% der im Erwachsenenalter diagnostizierten Zwangsstörungen bereits „im Kindes- oder Jugendalter.“[66] Sie hält die Untersuchung der familiären Strukturen Zwangsgestörter von daher für notwendig. Reinecker bezeichnet die kindlichen Zwänge als eigenes Kapitel, ordnet sie unter „prämorbide Entwicklung“ ein und verweist auf die einschlägige Literatur.[67] Für ihn ist „zwanghaftes Verhalten in der Kindheit nosologisch gesehen für die Ausformung von Zwängen im Erwachsenenalter bedeutungslos.“[68] Die Bedeutung des frühkindlichen Umfeldes wird von ihm nicht infrage gestellt. So sieht er eine deutliche Häufung von Zwängen in den Familien Zwangsgestörter. Doch im Gegensatz zu Knölker und anderen Autoren, die das familiäre Umfeld hervorheben, stehen für ihn genetische Ursachen im Vordergrund, die sich zusätzlich mit anderen familiären Einflüssen kombinieren.[69] Zerbin-Rüdin (1985) sieht im Gegensatz zu Reinecker die Erbfaktoren bei der Zwangsneurose nicht im Vordergrund. Als auffällig beschreibt sie das gesamte familiäre und soziale Milieu. Ob die Ursachen dieser Auffälligkeit mehr durch die Anlage oder mehr durch die Umwelt bedingt ist, ist für sie nicht klar...