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E-Book

Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Eine Standortbestimmung

AutorWolfgang Mertens
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783170239012
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Psychoanalysis is not only the oldest, most comprehensive and most thoroughly researched psychotherapeutic procedure & it is also a theory and a method from which many decisive stimuli towards the development of enlightened and reflective consciousness emerged during the twentieth century. Its critical ideas have led to major cultural changes. Will it be able to maintain this role in the twenty-first century as well, or will it come to be regarded as superfluous due to developments in neurobiology and the cognitive sciences? This volume brings out why psychoanalytic thinking will still continue to be central to human experience and action and why it is likely to become even more important & although it will also continue to face considerable resistance.

Emeritus Professor Wolfgang Mertens was formerly Professor of Clinical Psychology and Psychoanalysis in the Department of Psychology at the University of Munich.

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Leseprobe

2          Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse als ein Projekt der Aufklärung – Warum die Psychoanalyse auch im 21. Jahrhundert unverzichtbar bleibt


Einführung

Das Freud’sche Projekt der Aufklärung war wie bei Kant gegen selbstverschuldete Unmündigkeit gerichtet. Jedoch wurde sie von Freud aus ihren rationalistischen Höhen heruntergeholt und als eine Aufgabe betrachtet, die mit vielen persönlichen Widerständen verknüpft ist.

Die Aufklärung charakterisiert größtenteils das Zeitalter der Moderne, in der die Fortschritte der Naturwissenschaften und der Technik zu revolutionären Veränderungen des Welt- und Menschenbildes geführt haben. Mit ihrer Betonung des positiven Wissens und dem Primat der Ratio gegenüber Mythen, Aberglauben und Metaphysik entstand ein neues menschliches Selbstbewusstsein. Seit geraumer Zeit hat nun aber das Projekt der Moderne selbst erhebliche Kritik erfahren. Denn es scheint, als habe die Orientierungslosigkeit der Menschen damit eher noch zugenommen.

Die Überbetonung wissenschaftlicher Rationalität führte nicht nur zu einem generellen Sinn- und Orientierungsverlust, sondern auch zu einer Erschütterung des psychoanalytischen Aufklärungsanliegens. Denn warum soll man sich selbst besser erkennen, wenn die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens damit offensichtlich nicht beantwortet werden kann?

Inwieweit hängt die seit geraumer Zeit diagnostizierte Krise der Psychoanalyse mit diesem zunehmenden Orientierungsverlust zusammen? Hat die Aufklärung die Menschen überfordert, so dass es in der Gegenwart eher zu einem Erstarken fundamentalistischer Glaubensüberzeugungen und magischen sowie esoterischen Denkens kommt? Ist es sinnvoll, darauf innerhalb der psychoanalytischen Zunft mit verstärkten Forschungsbemühungen zu reagieren? Oder gar mit der Rückkehr zu einer religiös gläubigen Haltung, die dem Aufklärer Freud Zeit seines Lebens suspekt war? Oder brauchen wir angesichts der gewaltigen Herausforderungen, die auf die Menschheit im 21. Jahrhundert zukommen werden, nicht erst recht einen achtsamen Umgang mit unserem emotionalen Unbewussten, das den größten Teil unserer Person, unserer Beziehungen miteinander und unseren Umgang in Institutionen ausmacht?

Lernziele


•  Beantworten können, inwieweit sich Freud mit seinem Aufklärungsanliegen von dem Kant’schen »sapere aude« unterscheidet

•  Darüber nachdenken, welche Kräfte einer Auseinandersetzung mit unbewussten Prozessen in uns im Wege stehen

•  Eine Antwort auf die Frage finden, ob Freud bezüglich der Erkennbarkeit individueller und kollektiver Selbsttäuschung letztlich nicht doch zu optimistisch war

•  Ein Gespür dafür entwickeln, wie Selbstüberschätzung und ein Unwille zur Auseinandersetzung mit sich selbst zusammenhängen

•  Was lässt sich unter einer »Hermeneutik der Selbstentdeckung« verstehen?

•  Das Konzept des »inneren Analytikers« kennenlernen

•  Auf die Frage eine Antwort geben können, ob das psychoanalytische Projekt der Aufklärung letztlich nicht doch gescheitert ist

•  Warum lässt sich die Auseinandersetzung mit der inneren Welt am besten in einer dialogischen Form führen?

•  Mit welchen Phänomenen des Zeitgeistes muss sich die Psychoanalyse in der Gegenwart auseinandersetzen, um an ihrem humanen Aufklärungsanliegen festhalten zu können?

2.1      Die Psychoanalyse als Erbe der Aufklärung


Die Freud’sche Psychoanalyse reiht sich ein in die Tradition der Aufklärung. Diese begann in der Neuzeit mit Bacons Empirismus und Descartes Rationalismus. Der Empirismus trat dem Vertrauen auf den Augenschein der Sinne mit kritischem erkenntnistheoretischen Denken entgegen. Zusammen mit dem Rationalismus, mathematischen Berechnungen und technologisch verbesserten Beobachtungen ging aus ihm eine neue Denk- und Wissenschaftsepoche hervor. Das statische und hierarchische aristotelisch-christliche Weltbild des Mittelalters begann einem Streben nach Freiheit und Rationalität in einem viele Jahrzehnte dauernden Prozess zu weichen, dessen vorläufiger Höhepunkt in Kants »sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant 1784) gipfelte.

Dieses Aufklärungsanliegen gehörte zum Zeitalter der Moderne, die auf Wissenschaft und damit auf die Emanzipation und Überwindung von Herrschaft setzte, sofern diese sich unbewiesenen metaphysischen Glaubenssätzen und politischen sowie kirchlichen Machtansprüchen verdankte. Freud stand – naturwissenschaftlich als Neuroanatom sozialisiert – eindeutig in dieser geschichtlichen und philosophischen Tradition. Sein psychoanalytisches Projekt der Aufklärung unterscheidet sich jedoch von dem Kant’schen »sapere aude«, weil es unbewusste psychodynamische Prozesse berücksichtigt, die den »selbstverschuldeten Zustand der Unmündigkeit« nicht nur als einen Mangel an Mut erscheinen lassen, sondern vor allem bedingt durch unbewusste Ängste.

2.2      Das Kant’sche »sapere aude« wird von Freud vom Kopf auf die Füße gestellt


Betrachten wir noch einmal den von Kant geforderten Verstandesgebrauch. Er soll uns dazu verhelfen, uns aus unmündig machenden Verhältnissen zu befreien. Dazu gehört eine Befreiung von Vorurteilen, Aberglauben, Dogmen und politischen Ideologien jeglicher Art.

Für Freud war allerdings nicht nur der Verstandesgebrauch, den man sich mehr oder weniger bewusst vornehmen kann, sondern vor allem die Auseinandersetzung mit den unbewusst gewordenen oder gebliebenen Wünschen und Ängsten wichtig. Denn der Einsatz des bewussten Verstandes ist offenbar nur bedingt tauglich, um sich in wichtigen Angelegenheiten für oder gegen etwas entscheiden zu können. Allzu oft erweisen sich willentlich gefasste Entschlüsse entweder als nicht durchführbar oder sie verlieren nach kurzer Zeit ihre handlungslenkende Kraft.

Freud kam deshalb nach einer gründlichen Beschäftigung mit den »Vordenkern des Unbewussten« (Gödde, 1999) und aufgrund seiner eigenen klinischen Erfahrung zu der Überzeugung, dass es kurzschlüssig ist, unbewusste Vorgänge bei der Auseinandersetzung mit kulturellen Überzeugungen und Dogmen, eigenen Vornahmen und Willensentschlüssen unberücksichtigt zu lassen. Denn aus psychoanalytischer Sicht ist vor allem eine Befreiung von den Schatten der Vergangenheit notwendig, die in Form von Ängsten, einschüchternden Verboten, kindlichen Riesenerwartungen, überhöhten und unrealistischen Selbstbildern, zur Sucht gewordenen Gewohnheiten, nicht nur unsere Handlungsfreiheit und unser Erleben in der Gegenwart auf neurotische Weise einengen, sondern auch den Umgang mit uns selbst und mit anderen Menschen schwierig werden lassen.

Nur die Bewusstmachung dieser unbewussten Vorgänge – so die Freud’sche Auffassung – lässt uns offensichtlich freier, selbstbewusster, sozial kompetenter, humorvoller, versöhnlicher, bescheidener, aber gleichzeitig auch abgegrenzter, individuierter und kritischer werden. Gegen diese Bewusstwerdung richten sich jedoch immer wieder mächtige Widerstände: Man soll Vater und Mutter ehren, Lehrern, kirchlichen und staatlichen Autoritäten nicht widersprechen, sich den verinnerlichten Geboten ohne Auflehnung fügen, unserem Bewusstsein bzw. unserem »gesunden Menschenverstand« vertrauen, der scheinbar allein die richtige Entscheidung treffen kann und ebenso wissenschaftlichen Lehren vertrauen. All diese Eingebungen verhindern aber mehr oder weniger, dass wir uns mit ängstigenden und kränkenden Erfahrungen konfrontieren, deren Bewusstmachung nicht nur zu einem Erwachsenwerden, zu einer Auseinandersetzung mit kindlich magischen Glaubensinhalten, sondern auch zu größerer Selbstbestimmung und zu einer Versöhnung mit unserer Natur führen würde. Diese geistige Weiterentwicklung hätte auch zur Folge, dass wir einen entfremdeten Umgang mit uns selbst, bei dem wir uns entweder omnipotent und selbstüberschätzend oder minderwertig und schlecht oder gar sündig fühlen, verringern könnten. Da allerdings viele antiaufklärerische Elemente in unserer Kultur immer noch eine starke Hochschätzung erfahren und von vielen Menschen geteilt werden, ist es nicht einfach, zu erkennen, welchen Weg zur Selbstentwicklung wir gehen können.

Weil diese Auseinandersetzung mit unbewussten Prozessen in uns sehr viel schwieriger, wenngleich auch keineswegs unmöglich ist, gilt Freud in seiner Forderung nach Aufklärung sehr viel wirklichkeitsnäher als Kant, dessen Rationalismus ihn übersehen...

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