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E-Book

Psychotherapie in der Geriatrie

Aktuelle psychodynamische und verhaltenstherapeutische Ansätze

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl188 Seiten
ISBN9783170248359
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Psychische Störungen spielen bei Prozessen des Alterns wie auch beim Erleben und Verarbeiten körperlicher Erkrankungen im Alter eine wichtige Rolle. Geriatrische und psychosomatische Kooperationen sind jedoch selten. Dabei ist bekannt, dass psychische Störungen bei geriatrischen Patienten zu längeren Liegezeiten, höherer Morbidität und gesteigerten Kosten führen. Das Buch bietet eine Synopse bestehender Ansätze zum Verständnis psychischer Probleme, Störungen und Konflikte bei körperlichen Erkrankungen Hochbetagter und der bisherigen Erfahrung mit verschiedenen psychotherapeutischen Angeboten.

PD Dr. med. Reinhard Lindner, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ist an der Medizinisch-Geriatrischen Klinik am Albertinen-Haus (Hamburg) tätig. Dr. med. Jana Hummel, Fachärztin für Allgemeinmedizin, ist in einer Modellpraxis für Geriatrie und Gerontopsychotherapie in Mannheim tätig.

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Leseprobe

1        Gerontologie und Psychotherapie im hohen Alter


Andreas Kruse


1.1       Was alte Menschen geben können – Entwicklungspotenziale in der Verletzlichkeit des hohen Alters


In seiner am 15. März 2013 gegebenen Audienz für die Kardinäle, zwei Tage nach seiner Wahl zum Papst, äußerte sich Papst Franziskus auch zum Wesen des Alters. Nachfolgend sei die entsprechende Passage seiner Rede angeführt:

»Liebe Mitbrüder, nur Mut! Die Hälfte von uns steht in fortgeschrittenem Alter: Das Alter ist – gern drücke ich es so aus – der Sitz der Weisheit des Lebens. Die Alten haben die Weisheit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu haben wie der greise Simeon, wie die greise Anna im Tempel. Und genau diese Weisheit hat sie Jesus erkennen lassen. Schenken wir diese Weisheit den jungen Menschen: Wie der gute Wein, der mit den Jahren immer besser wird, so schenken wir den jungen Menschen die Weisheit des Lebens. Mir kommt in den Sinn, was ein deutscher Dichter über das Alter gesagt hat: ›Es ist ruhig das Alter und fromm.‹ Es ist die Zeit der Ruhe und des Gebets. Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese Weisheit zu geben.« (Papst Franziskus 2013, S. 25 f.)

Diese Charakterisierung ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Zunächst wird – ein Gedicht Friedrich Hölderlins (1770–1843) aufgreifend – das Alter als »Zeit der Ruhe und des Gebets« gedeutet: »Es ist ruhig das Alter und fromm«, so heißt es in Hölderlins Gedicht »Meiner verehrungswürdigen Großmutter zu ihrem 72. Geburtstag«. Papst Franziskus gilt als ein Hölderlin-Kenner, und die Tatsache, dass er aus den zahlreichen Deutungen des Alters, die Friedrich Hölderlin in seinem Schrifttum vorgenommen hat, gerade diese auswählt, weist darauf hin, dass er die Ruhe (»ruhig«) und das Gebet (»fromm«) als zentrale psychologische und religiöse Merkmale des Alters ansieht. Doch treten zwei weitere Aspekte hinzu, und diese geben der gewählten Charakterisierung aus einem weiteren Grund besonderes Gewicht: Das Alter wird als »Sitz der Weisheit des Lebens« beschrieben, wobei diese Weisheit des Lebens auf den Erlebnissen, Erfahrungen und Begegnungen gründet, die Menschen im Laufe ihrer Biografie gewonnen haben, wie auch auf der Reflexion dieser biografischen Stationen. Nur so lässt sich die Aussage: »Die Alten haben die Weisheit, im Leben ihren Weg zurückgelegt zu haben« deuten. Diese Weisheit bildet eine potenzielle Stärke oder Ressource des Alters, und zwar vor allem in den Beziehungen zwischen den Generationen, wenn es nämlich heißt: »Und es ist auch die Zeit, den jungen Menschen diese Weisheit zu geben.«

Wir finden hier Bausteine einer Anthropologie des Alters, die nicht nur für das Verständnis des Alters bedeutsam sind, sondern die uns auch helfen, die Potenziale einer Psychotherapie des hohen Lebensalters (neuntes, zehntes Lebensjahrzent) klarer zu umschreiben: Diese können zum einen darin gesehen werden, die Ich-Integrität zu fördern und psychische Prozesse anzustoßen, die in der gerontologischen Forschung mit dem Begriff der »Gerotranszendenz« (Erikson 1998; Tornstam 1989) umschrieben werden: Zu nennen sind hier vor allem die differenzierte Wahrnehmung des eigenen Selbst, die Integration von persönlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Verwirklichung kosmischer Bezüge, in die die eigene Existenz eingebettet ist, sowie die Integration in eine Generationenfolge, innerhalb derer man nicht nur empfängt, sondern auch gibt.

Bleiben wir noch kurz bei Friedrich Hölderlin stehen. Zunächst sei ein Abschnitt aus jenem Gedicht – »Meiner verehrungswürdigen Großmutter zu ihrem 72. Geburtstag« – angeführt, dem die Aussage des Papstes entnommen ist:

Manches hab ich versucht und geträumt und habe die Brust mir

Wund gerungen indes, aber ihr heilet sie mir, O ihr Lieben! und lange, wie du, o Mutter! zu leben

Will ich lernen; es ist ruhig das Alter und fromm.

Kommen will ich zu dir; dann segne den Enkel noch einmal,

Dass dir halte der Mann, was er, als Knabe, gelobt.

Im Kontext dieses Abschnittes wird noch deutlicher, wie die Aussage »Es ist ruhig das Alter und fromm« zu verstehen ist: In der Art und Weise, wie ältere Menschen leben, können sie jüngeren Menschen Vorbild sein. Für die Psychotherapie bedeutet dies: Als jüngerer Psychotherapeut kann man schon dadurch, dass man geistiges und emotionales Interesse an der Art und Weise zeigt, wie ein älterer Mensch sein Leben gestaltet – auch das Leben in Grenzsituationen –, dazu beitragen, dass dieser sein Alter bei aller Verletzlichkeit, mit der das hohe Alter konfrontiert, annimmt (Kessler 2013). Und es sollte nicht übersehen werden, dass die konzentrierte Betrachtung der Lebensführung und Lebensgestaltung alter Menschen den jüngeren Menschen selbst bereichern kann (Kruse 2013a).

In seiner aus sechs Strophen bestehenden Ode »Abendphantasie« verwendet Friedrich Hölderlin eine ähnliche, gleichzeitig eine etwas anders gerichtete Formulierung. In dieser Ode heißt es:

Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt

Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische!

Friedlich und heiter ist dann das Alter.

Das Alter erscheint hier als Zielpunkt des Lebens, und Friedrich Hölderlin drückt aus, wie er sich die Ausgestaltung dieses Zielpunkts vorstellt: friedlich (im Sinne des Friedens mit anderen Menschen, im Sinne des Frieden mit sich selbst – hier durchaus im Sinne der Ich-Integrität zu verstehen) und heiter (im Sinne einer optimistischen, positiven Einstellung gegenüber der eigenen Zukunft), wobei er das »Glühen« der Jugend dem »Frieden« und der »Heiterkeit« des Alters gegenüberstellt. Hier wird ein bemerkenswertes geistig-emotionales Potenzial des Alters beschrieben, dessen Verwirklichung angesichts der Verletzlichkeit als eine schöpferische Leistung zu deuten ist (Lehr 2011) – die, wie Studien übereinstimmend zeigen, von der überwiegenden Mehrzahl alter Menschen tatsächlich gezeigt wird (Kessler und Staudinger 2010). Diese Haltung kann sich, wie in der Theorie der sozioemotionalen Selektivität (Carstensen und Lang 2007) angenommen, dabei vor allem in emotional intimen Beziehungen zeigen, die in besonderer Weise geeignet sind, positive Emotionen anzustoßen. Mit dieser Haltung wird auch ein Zielzustand der Psychotherapie mit alten Menschen beschrieben: die Lösung innerer und äußerer Konflikte, die Ausbildung oder weitere Stärkung der subjektiven Überzeugung, das eigene Altern gestalten zu können, sowie der gefasste Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft (Heuft 2010; Radebold 2009). In einem derartigen psychologischen und sozialen Kontext kann sich das von Hölderlin beschriebene Gefühl der Heiterkeit (als Ausdruck der Überwindung von Grenzen sowie der Bejahung des Lebens in seiner Verletzlichkeit und Endlichkeit) einstellen. Es ist bemerkenswert, dass Paul Celan (1920–1970) in einem – in seinem Nachlass gefundenen – Gedicht ebenfalls das Wort »heiter« verwendet:

ICH LOTSE DICH hinter die Welt,

da bist du bei dir, unbeirrbar,

heiter

vermessen die Stare den Tod,

das Schilf winkt dem Stein ab, du hast alles

für heut Abend.

Der hier gewählte Ort des Wortes »heiter« lässt uns dessen Gehalt noch besser verstehen: Heiter zu sein ist nicht mit »guter Stimmung« gleichzusetzen; vielmehr ist hier mit diesem Wort die Verbindung von Gefasstheit, Zufriedenheit und Optimismus auch bei dem Blick auf die eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit gemeint. Vergänglichkeit und Endlichkeit bilden das zentrale Thema des von Celan verfassten Gedichts; zugleich aber die Fähigkeit, diese innerlich zu überwinden: Damit nähert man sich dem theoretischen Konzept der »Gerotranszendenz«, das die innere Überwindung der Vergänglichkeit und Endlichkeit als eine der Bedingungen für die vermehrte Ausbildung der kosmischen Orientierung des Menschen versteht.

Die Gleichzeitigkeit von Entwicklungspotenzialen und Verletzlichkeit im hohen Alter, die sich in der Hinsicht ausdrücken lässt, dass Entwicklungspotenziale in der Verletzlichkeit des Lebens erkennbar sind, bildet eines der für die Psychotherapie in diesem Lebensabschnitt zentralen Themen (Maercker 2002). Dabei sind die Entwicklungspotenziale auch, wenn nicht sogar primär in den Beziehungen zu anderen, vor allem zu jüngeren Menschen zu sehen – ganz wie dies in der Rede von...

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